A1886 Deutsches ÄrzteblattJg. 105Heft 3712. September 2008
P O L I T I K
20 neonatologischen Betten aus Ber- liner Kliniken stammten, „die nie ei- nen Versorgungsauftrag für jene Fäl- le hatten, die in der Untersuchung vorgestellt werden“. Sie dürften demnach nur Notfälle behandeln, bei denen eine rechtzeitige Verlegung in ein Perinatalzentrum nicht mehr er-
folgen könne: „Dies hat aber Auswir- kungen auf die Risikoselektion.“
Eher pragmatisch beurteilen Prof.
Dr. med. Gerhard Jorch und Prof.
Dr. med. Dr. h. c. Serban-Dan Costa, Universitätsklinikum Magdeburg, den Ruf nach Mindestmengen in der Perinatalmedizin. Jochum und Untch sei zwar zuzustimmen, wenn sie auf die mangelhafte wissenschaftliche Datenlage und die fragliche Wertig- keit des Qualitätsmerkmals „Min- destzahl“ bei alleiniger Betrachtung verwiesen – „aber wenn wir alle dar- auf warten wollen, bis stichhaltigere Daten vorliegen, vergehen noch vie- le Jahre, ohne dass wir eine dringend notwendige Umstrukturierung vor- nehmen“. Aufwendigst ausgerüstete, mit viel fachkundigem Personal aus- gestattete neonatologische Abteilun- gen in möglichst vielen Kranken- häusern vorzuhalten, sei schlicht zu teuer. Und: „Es wird kein Arzt allen Ernstes behaupten können, dass eine Abteilung mit jährlich fünf bis zehn sehr unreifen Frühgeborenen über die gleiche Expertise verfügt wie ei- ne Klinik, in der jährlich 50 bis 100 solcher Kinder behandelt werden.“
Dabei seien es nicht nur die Ärzte, sondern auch die anderen Mitglieder des Behandlungsteams, auf die es ankomme. Für eine flächendeckende Versorgung reichten 70 bis 80 Peri- natalzentren vom Level I völlig aus, meinen Jorch und Costa – zumal Schwangere mit drohender Frühge- burt ohnehin bereits in fast allen Fäl- len in Geburtskliniken mit Neonato- logie verlegt würden. Dies deckt sich mit der Forderung von Dr. med. An- dreas Gerber, Prof. Dr. med. Karl Lau- terbach und Priv.-Doz. Dr. rer. pol.
Markus Lüngen (DÄ, Heft 26/2008).
Dr. med. Lutz Feldhahn und Prof.
Dr. med. Manfred Teufel, Klinikum Sindelfingen-Böblingen, teilen hin- gegen die Meinung von Jochum und Untch, dass die Unterschiede in der Versorgungsqualität zwischen gro- ßen und kleinen Kliniken nicht si-
gnifikant seien. Diese Aussage gelte auch für den Flächenstaat Baden- Württemberg: „Wir sind der An- sicht, dass vor weiteren Veränderun- gen der Versorgungsstruktur zu- nächst die Auswirkungen der bishe- rigen G-BA-Beschlüsse abgewartet werden sollten.“ Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hatte 2005 einen noch heute gültigen Be- schluss gefasst, der die neonatologi- sche Versorgung anhand von Struk- turmerkmalen in vier Stufen fest- legt. Dabei wurde auf das Heranzie- hen des sekundären Qualitätsindi- kators „Fallzahlen“ wegen der schlechten Datenlage verzichtet.
Eine Analyse der Versorgung von Frühgeborenen aus rein ökonomi- scher Sicht zu führen, wie es Gerber et al. tun, hält Prof. Dr. med. Harald Haupt, Chefarzt in Rente, Duisburg, für berechtigt. Davor sollte aller- dings immer eine medizinische Be- urteilung der Situation stehen, meint er: „An erster Stelle muss immer ge- fragt werden, auf welche Art und Weise die Kinder am wirkungsvolls- ten behandelt werden können.“ I Jens Flintrop
„ Vor weiteren Veränderungen der Versorgungs- struktur sollten die Auswirkungen der
G-BA-Beschlüsse abgewartet werden. “
Lutz Feldhahn und Manfred Teufel, Böblingen
F
ür die Befürworter der Ein- führung von Mindestmengen in der Neonatologie ist die Sache klar: „Erfahrung und Routine des gesamten Behandlungsteams lassen sich gerade bei der Behandlung von sehr unreifen Frühgeborenen nicht allein durch guten Willen ersetzen“, schreibt etwa Gabriele Lukas, Se- natsverwaltung Gesundheit, Berlin.Zwar sei der Aussage von Priv.- Doz. Dr. med. Frank Jochum und Prof. Dr. med. Michael Untch, wo- nach Quantität allein keine Qualität garantiere (DÄ, Heft 30/2008), schwerlich zu widersprechen –
„aber sicher ist auch, dass Qualität ohne Quantität nicht möglich ist“.
Wie auch Prof. Dr. med. Helmut Hummler vom Universitätsklinikum Ulm kritisiert Lukas die von Jochum und Untch zugrunde gelegten Daten.
Diese seien „in keiner Weise geeig- net, davon zu überzeugen, dass die Qualität in kleineren Einrichtungen genauso gut ist wie in Perinatalzen- tren“. Hummler stuft die Analyse, bei der die Behandlungsergebnisse der
in Berliner Einrichtungen behandel- ten Frühgeborenen verglichen wer- den, als methodisch mangelhaft ein,
„da eine gemeinsame Datengrund- lage nicht gewährleistet ist und keinerlei Korrektur für die wichtigs- ten Störgrößen (Gestationsalter, Ge- schlecht) vorgenommen wurde“. Lu- kas verweist darauf, dass alle Daten von Einrichtungen mit weniger als
„ Erfahrung und Routine des Teams lassen sich nicht allein
durch guten Willen ersetzen. “
Gabriele Lukas, Berlin NEONATOLOGIE