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as neue Jahr bietet Bürgern und Politik keine rosigen Perspektiven.Im Gegenteil: Die Konjunktur ist in die Rezession gerutscht, die Arbeits- losigkeit steigt, die Defizite wachsen, So- zialbeiträge müssen angehoben werden, eine harte Tarifrunde droht. Die Koaliti- on sieht daher nervös dem Wahltag im Herbst entgegen. Doch Impulse für die Konjunktur gibt es kaum. Die Regie- rung hofft, dass sich in Amerika die Wachstumskräfte wieder durchsetzen und die deutsche Wirtschaft davon profi- tiert. Aber noch steht die Konjunkturlo- komotive nicht unter Dampf – weder in den USA noch in Europa. Und in Berlin verhandeln die Sozialdemokraten mit den Nachfahren der SED über die Bil- dung eines rot-roten Senats. Die stärkste Oppositionspartei, die CDU/CSU, ist noch immer vor allem mit sich selbst be- schäftigt. Die allgemeine Unsicherheit wächst, die Stimmungslage der Unter- nehmen hat sich eher noch verschlech- tert. Die Politik trägt dazu bei.
Doch der Kanzler liegt in der Popula- rität noch immer deutlich vor seinen möglichen Konkurrenten. Auch bleibt ihm die Option, weiter-
hin mit den Grünen oder mit der FDP oder not- falls sogar mit der Union zu regieren. Das Schei-
tern der Bemühungen um eine „Ampel- Koalition“ (rot-gelb-grün) in Berlin engt freilich seinen politischen Spielraum ein.
Der Wahlkampf, das zeichnet sich schon jetzt ab, dürfte vor allem von den The- men Arbeitslosigkeit, Wirtschafts- und Finanzpolitik, Gesundheitsreform, Ren- tenfinanzen, Öko-Steuer und Zuwande- rungsgesetz bestimmt werden. Da sieht die Bilanz der regierenden Koalition ganz überwiegend schlecht bis miserabel aus. Der Opposition könnte das bis zum Wahltag im Herbst Chancen eröffnen.
Spätestens seit Herbst 2000 ist klar, dass die Aufschwungkräfte erlahmen.
Inzwischen schrumpft das Sozialpro- dukt. Deutschland ist wie Amerika in ei- ne leichte Rezession geraten. Im ersten Vierteljahr 2001 hat sich noch eine Wachstumsrate von real 0,4 Prozent ge- genüber dem Vierteljahr zuvor ergeben.
Im zweiten Vierteljahr ist das Bruttoin- landsprodukt (BIP) nicht mehr gewach- sen. Danach hat sich im dritten Viertel- jahr eine Minus-Rate von 0,1
Prozent ergeben; sie dürfte sich im vierten Quartal weiter erhöht haben. Gegenüber dem Vorjahr ist die Wachs- tumsrate zuletzt auf 0,3 Pro- zent gesunken. Für das ganze Jahr 2001 dürfte bestenfalls ei-
ne reale Wachstumsrate von 0,7 Prozent ausgewiesen werden; noch im letzten Frühjahr hatten Politik und Konjunktur- experten mit einem Zuwachs beim BIP von 2,5 bis 2,8 Prozent gerechnet. Im eu- ropäischen Geleitzug ist Deutschland an das Ende geraten.
Ein Patentrezept, den Abwärtstrend zu stoppen, gibt es nicht. Milliarden- schwere Konjunkturprogramme wären kontraproduktiv. Sie würden nur Stroh- feuer entfachen und die Schuldenlast er- höhen. Darüber be- steht weithin Einig- keit. Doch die Regie- rung wirkt überraschend unentschlos- sen. Finanzminister Eichel, für die Kon- junkturpolitik zuständig, setzt auf die au- tomatischen Konjunkturstabilisatoren.
Mindereinnahmen bei den Steuern sol- len also hingenommen werden, das we- gen steigender Arbeitslosenzahlen zu- nehmende Defizit der Nürnberger Bun- desanstalt will Eichel finanzieren.
Stabilisierend wirkt auch, dass sich der Preisanstieg deutlich verlangsamt hat; das stärkt die Kaufkraft der Bürger.
Die Ölpreise sind kräftig gesunken, was mit der weltweit geringeren Nachfrage zu erklären ist. Das verbilligt das Auto-
fahren, das Heizen und die Produktion der Unternehmen. In der Rezession funktioniert das Kartell der Ölländer nicht mehr. Auch sind die Zinsen weiter gesunken. In den ersten Monaten des Jahres dürfte die Europäische Zentral- bank die Zinsen noch einmal senken; die Börse spekuliert auf einen Leitsatz von 2,75 Prozent. Niedrigere Zinsen entlasten die überschuldeten öffentli- chen Haushalte und regen zum Investieren an. Hinzu kommt, dass der nach wie vor schwa- che Euro den Export stützt.
Das alles wirkt positiv, reicht aber bestenfalls aus, das Wachstum auf niedrigem Ni- veau zu stabilisieren. Noch ist kein Licht am Ende des Tunnels zu sehen.
Wenn die Skepsis über die weitere wirtschaftliche Entwicklung überwiegt, so liegt dies vor allem daran, dass der konjunkturelle Rückschlag nahezu gleichzeitig fast alle wirtschaftlichen Zentren der Welt erfasst hat. Das gilt für Amerika, Südamerika, für Asien mit Ja- pan und in Europa für Deutschland, Frankreich, England und Italien. Das ist eine bedrohliche Konstellation. Keiner der starken Wirtschaftsräume bietet Halt für die anderen. Die Stabilität der Weltwirtschaft wird auch künftig ent- scheidend von der Prosperität der USA abhängen. Es bleibt daher zu hoffen, dass mit dem massiven Steuersenkungs- Paket von Präsident Bush im Jahresver- lauf ein neuer Aufschwung angestoßen wird.
Das entbindet die Europäer nicht, ih- re nationalen Probleme anzugehen.
Ohne eigene und zusätzliche Anstren- gung wird es auch der Bundesregierung nicht gelingen, das von ihr für erreich- bar gehaltene Wachstumsziel für dieses Jahr von 1,25 Prozent auch zu errei- chen. Die meisten Sachverständigen rechnen mit Zuwachsraten beim BIP von null bis 0,7 Prozent. Sollte sich dies P O L I T I K
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Konjunktur rutscht in die Rezession / Reformdruck steigt
Noch kein Licht am Ende des Tunnels
Hauptthema im Wahljahr: Die steigende Arbeitslosigkeit
Spätestens seit Herbst 2000 ist klar, dass die Auf-
schwungkräfte erlahmen.
Ein Patent- rezept, den Abwärtstrend
zu stoppen,
gibt es nicht.
als richtig erweisen, ergäben sich in al- len öffentlichen Haushalten zusätzliche Defizite, und die Arbeitslosenzahl stie- ge deutlich auf über vier Millionen.
Eichel mag darauf setzen, dass neue rote Zahlen erst nach der Wahl retu- schiert werden müssen. An einer fühl- baren Erhöhung der Mehrwertsteuer würde dann aber kein Weg vor- beiführen, wenn die Brüsseler Ver- schuldungsgrenze von jeweils höch- stens drei Prozent des BIP eingehalten werden soll. Die Opposition und zahl- reiche Ökonomen setzen sich
dafür ein, die für 2003 und 2005 beschlossenen Steuersen- kungen zeitlich vorzuziehen.
Die Koalition und der Sach- verständigenrat haben dies ab- gelehnt. Sie sehen die Gefahr einer steigenden Schuldenlast.
Das Argument hat Gewicht.
Es wäre aber nur dann über- zeugend, wenn die Rezession auch ohne zusätzliche Impulse rasch überwunden werden könnte. Das wäre eine riskan- te Annahme. Wenn sich näm- lich die Wachstumspause ver- längern würde, ergäben sich auch steigende Defizite, die zur falschen Zeit zu Aus- gabenkürzungen, zusätzlicher Kreditaufnahme oder Steuer- erhöhungen zwängen.
Eichel verweist zur Abwehr solcher Pläne auf die Entlastungseffekte der im letzten Jahr wirksam gewordenen Steu- ersenkungen. Diese sind freilich weit- gehend verpufft, wegen der zeitweise hohen Inflationsrate und der offenen und verdeckten Erhöhung öffentlicher Abgaben. Öko-Steuer, Tabak- und Ver- sicherungsteuer und Krankenversi- cherungsbeiträge sind zum Jahreswech- sel weiter angehoben
worden. Die Beiträge zur Renten- und Ar- beitslosenversicherung können entgegen frühe- ren Erwartungen nicht gesenkt werden. Auch sind mit der Steuer-
reform zunächst nur Kapitalgesell- schaften, die Bezieher kleiner und sehr hoher Einkommen entlastet worden, die mittelständischen Personengesell- schaften, Freiberufler, die Masse der
Bezieher mittlerer Einkommen und je- ne Bürger, die Vorsorge durch Kapital- bildung betrieben haben, dagegen kaum. Das erklärt, warum der Ver- brauch nicht wie erwartet zugenom- men hat.
Ein Vorziehen der nächsten Entla- stungsstufen wäre konjunkturgerecht, weil Verbrauch und Investitionen ange- regt würden, aber das hätte auch einen Struktureffekt, denn die Schieflage der ersten Stufe der Steuerreform würde beseitigt. Auch würde damit der Politik
jede Möglichkeit genommen, zu guter Letzt noch Wahlgeschenke zu verteilen.
Der Nestor der deutschen liberalen Ökonomen, Herbert Giersch, unter- stützt diese Position. Es gebe keine gu- ten Gründe, etwas Vernünftiges nicht schon früher zu tun, so wird er zitiert.
Hauptthema im Wahlkampf wird die wieder gestiegene Arbeitslosigkeit
sein. Schröders Ziel- marke von 3,5 Millio- nen Arbeitslosen wird weit verfehlt. Das ist mit dem Abschwung zu erklären, aber auch mit dem fehlenden Mut, die Arbeitslosen- versicherung, die Rentenversicherung und die Krankenversicherung grundle- gend zu reformieren. Daher überrascht es nicht, dass vor allem von den Öko- nomen die Forderung nach durchgrei-
fenden Reformen immer dringlicher vorgetragen wird.
Der politische Druck, vor allem die Arbeitsmarktpolitik und das Gesund- heitswesen zu reformieren, wächst, aber die Politik traut sich nicht; der Wahlter- min ist zu nahe. Die mit jeder tief grei- fenden Reform verbundenen Belastun- gen würden vor dem Wahltag spürbar, während die positiven Ergebnisse der Reformen erst später sichtbar würden.
Kohl, Waigel und Blüm sind 1998 vom Wähler abgestraft worden, auch weil sie zu spät Refor- men eingelei- tet hatten. Das weiß Schröder, er spielt da- her auf Zeit- gewinn. Refor- men werden vertagt; tief wird in die po- litische Trick- kiste gegriffen, um die ökono- mischen und sozialen Szena- rien bis zum Herbst zu ver- schönen. Ei- chel und Rie- ster tun sich dabei beson- ders hervor. Ministerin Schmidt ver- sucht dies auch, doch hektisch und we- niger professionell. Am Tag nach der Wahl wird dann alles ganz anders ausse- hen, gleichgültig wer dann regieren kann, will oder muss.
2002 wird für alle ein extrem schwie- riges Jahr, für die Politik und die Bür- ger. Es wird selbst denen, die schon bald einen neuen wirtschaftlichen Auf- schwung erwarten, wenig Perspektiven bieten. Zur Klima-Verschlechterung und einer weiteren Verschärfung der ökonomischen und politischen Proble- me könnte die nächste Tarifrunde bei- tragen. Die IG Metall hat Lohnverbes- serungen von 5 bis 7 Prozent gefordert und damit das falsche Startsignal gege- ben. Die Forderung liegt außerhalb der ökonomischen Realität und Vernunft, verlängert die Rezession, gefährdet Ar- beitsplätze. Die IG Metall hat damit auch das politische Bündnis mit dem Kanzler aufgekündigt. Walter Kannengießer P O L I T I K
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Arbeitslose in Millionen 2000
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3,89 3,853,853,85 3,863,863,86 Preisanstieg in %
+1,9 +1,9, 2000 2000
2000 200120012001 200220022002 Prognose Prognose Prognose
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+1,5 +1,5 +1,5 Auslandsnachfrage (real) in %
2000 2000
2000 200120012001 200220022002 Prognose Prognose Prognose
+13,2 +13,2 +13,2
+4,7 +4,7 +4,7
+2,3 +2,3 +2,3 2000
2000
2000 200120012001 200220022002 Prognose Prognose Prognose Wirtschaftswachstum in %
+3,0 +3,0 +3,0
+0,7 +0,7 +0,7 +1,3+1,3+1,3
Konjunktur aus der Spur Konjunktur aus der Spur Konjunktur aus der Spur
Aus dem Herbstgutachten Aus dem Herbstgutachten Aus dem Herbstgutachten
der sechs führenden Wirtschaftsforschungsinstitute der sechs führenden Wirtschaftsforschungsinstitute der sechs führenden Wirtschaftsforschungsinstitute
© Globus7385 Alle wichtigen Indikatoren zeigen für 2002 die-
selbe Tendenz: Der Aufschwung ist erlahmt.