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Archiv "Allgemeinmedizin: Das Besondere am Allgemeinen" (28.02.1992)

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Allgemeinmedizin

Das Besondere am Allgemeinen

Neue Konzepte für die Weiterbildung

können auf eine Fülle von Material zurückgreifen

Die Allgemeinmedizin ist keine je nach Bedarf und Belieben redu- zierte Sammlung der klinischen Fächer, heißt es in dem folgenden Beitrag. Der Autor setzt sich darin kritisch mit der gegenwärtigen Si- tuation der Allgemeinmedizin auseinander. Er verweist auf Erfahrun- gen von Braun und Balint und leitet daraus Forderungen für eine ver- besserte, fachgerechte Weiterbildung ab.

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

„Man muß zehn Jahre in der Praxis sein und alles vergessen ha- ben, was Sie uns beigebracht haben, um ein brauchbarer Praktiker zu werden." — So ein Kollege, bewußt polemisch und aggressiv, über die medizinische Ausbildung, die ihn auf die Allgemeinpraxis nicht angemes- sen vorbereitet hatte. Wer in die All- gemeinpraxis kommt und erwartet, dort eine Medizin betreiben zu kön- nen, die er (oder sie) am Kranken- haus gelernt hat, hegt falsche Erwar- tungen und wird notwendigerweise enttäuscht.

Das Selbstgefühl ist in Gefahr, wenn die verinnerlichten Gebote der wissenschaftlichen Lehre nicht ein- gehalten werden können; allzuleicht werden diese dann im Sinne des oben genannten Zitates abgewertet und außer Kraft gesetzt. Es geht eben nicht nur um die „nüchterne Erkenntnis, daß das gängige Ausbil- dungskonzept unserer Universitäten mehr für medizinische Wissenschaft- ler als für praktizierende Arzte ge- eignet ist", (10)* sondern auch um die mit dieser bitteren Erkenntnis einhergehenden Emotionen mit ih- ren negativen Folgen für die Bezie- hungen zwischen Krankenhaus und Praxis.

Die Besonderheit der Allge- meinmedizin besteht zunächst ein- mal darin, daß unter Zeitdruck mit

*) Die in Klammern gesetzten Zahlen beziehen sich auf das Literaturverzeichnis, das mit dem Sonderdruck angefordert werden kann.

einer unausgelesenen Klientel gear- beitet werden muß, was man unter den völlig anderen Bedingungen des Krankenhauses nicht gelernt hat. Hier müssen selbstverständlich Grundlagen geschaffen werden, aber

„wir müssen endlich begreifen, daß auch nach zehnjähriger Tätigkeit ein Krankenhausarzt nicht zum Allge- meinarzt wird, nur weil er sich in ei- gener Praxis niedergelassenen hat".

(9) Ein weiteres Spezifikum der all- gemeinärztlichen Tätigkeit ist die jahre- und jahrzehntelange Beglei-

tung junger und alter Menschen in Krankheits- und Konfliktsituationen.

Der Arzt soll seinen Patienten bei der Bewältigung von „Lebensaufga- ben" helfen, seien diese biologischer, psychologischer oder sozialer Natur.

(15) Auch hierauf sind wir durch Studium und Krankenhaustätigkeit ungenügend vorbereitet.

Man darf die Allgemeinmedizin also nicht als eine je nach Bedarf und Belieben reduzierte Sammlung der klinischen Fächer auffassen, sondern muß sie als ärztliche Tätigkeit aus ei- genem Recht verstehen. Ihre Ge- setzmäßigkeiten lassen sich wissen- schaftlich ergründen und begründen.

1957 haben R. N. Braun („Die gezielte Diagnostik in der Praxis") und Michael Balint („The Doctor, His Patient and the Illness") die Si- tuation von verschiedenen Stand- punkten aus beschrieben und Vor- schläge zur Abhilfe gemacht. Braun, seit 1944 als praktischer Arzt tätig, hat bald gemerkt, daß „eigene intui-

tiv-individuelle Programme zur Be- wältigung des Praxisalltags nicht aus- reichen". (6) Er hat festgestellt, daß die Einordnung der Praxisfälle in et- wa 90 Prozent nicht den Rang einer

„Diagnose" haben kann, wenn man darunter die „zwingende Zuordnung eines Beratungsergebnisses zu einem Krankheitsbegriff" versteht. (5)

Um dennoch einen Überblick zu gewinnen, hat er eine praxisgerechte, aber theoretisch gut begründete Klassifizierung eingeführt. Dabei er- hält das Beratungsergebnis je nach dem Stand der Erkenntnis den Rang einer Diagnose (zum Beispiel Myo- cardinfarkt), eines Krankheitsbildes (zum Beispiel Bild einer Appen- dizitis), einer Symptomgruppierung (zum Beispiel uncharakteristisches Fieber) oder den einer einfachen Symptomklassifizierung (zum Bei- spiel Husten). Das hat den Vorteil der Redlichkeit — man behauptet nicht mehr, als man weiß — und der damit zusammenhängenden Wach- samkeit gegenüber den „abwendbar gefährlichen Verläufen". Ihnen gilt ja die besondere Aufmerksamkeit al- ler Arzte, aber der didaktisch so nützliche Begriff wurde von einem Allgemeinmediziner, eben von Braun, geprägt.

Diagnostische Programme

Die Tugend, sich nicht zu früh aufgrund mehrdeutiger Zeichen fest- zulegen, hat Braun „abwartendes Offenlassen der Diagnose" genannt.

Das heißt, daß sich die Ärztin oder der Arzt ihre oder seine diagnosti- sche Unsicherheit bewußt macht.

Um mit dieser Unsicherheit rational umzugehen, hat Braun diagnostische Programme entwickelt, die er selbst als „ausgewogenen Behelf" (7) be- zeichnet. Sie zeugen von großer Sorgfalt und sind empirisch wohl be- gründet. Auch wer mit seiner per- sönlichen diagnostischen Routine ganz zufrieden ist, wird feststellen, daß die diagnostischen Programme helfen, nichts zu vergessen und Leer- lauf durch Doppelfragen zu vermei- den.

Ein wesentlicher Unterschied gegenüber der klinischen Medizin A1-668 (32) Dt. Ärztebl. 89, Heft 9, 28. Februar 1992

(2)

liegt in der Fälleverteilung der Allge- meinpraxis, deren Gesetzmäßigkeit ebenfalls von Braun (3,5 usw.) her- ausgearbeitet worden ist. Durch Längsschnittuntersuchungen eigener jahrzehntelanger Tätigkeit in Klein- stadt-, Großstadt- und Landpraxis sowie Vergleich mit anderen Praxen und Publikationen konnte er zeigen, daß etwa 300 Klassifizierungen zur Einordnung jener Beratungsergeb- nisse ausreichen, die in der Allge- meinpraxis „regelmäßig häufig" vor- kommen. Die untere Grenze liegt bei etwa einem von 3000 Fällen.

Psychosoziale Aspekte beachten

Aber: Bei vielen abwendbar ge- fährlichen Verläufen spielt die regel- mäßige Häufigkeit keine Rolle. Ob- wohl man in der Allgemeinpraxis das Glaukom seltener als einmal im Jahr sieht, gehört seine Berücksichtigung in das „Kopfschmerzprogramm".

Braun: „Ebenso kommt (glücklicher- weise) kein einziges Malignom — au- ßer den Basaliomen — an der ersten ärztlichen Linie regelmäßig häufig vor. Dessen ungeachtet stellen die Carcinome die abwendbar gefähr- lichen Verläufe par excellence dar . ." (7) Die Häufigkeit steht also im umgekehrt proportionalen Ver- hältnis zur Bedeutung solcher Er- krankungen — eine enorme Er- schwernis für die Diagnostik und ei- ne Besonderheit der Allgemeinmedi- zin, die den klinischen Lehrern und Assistenten meist unbewußt ist.

Patienten brauchen aber nicht nur eine Diagnose, sie wollen Hilfe haben. „Ich muß herausfinden . . warum dieser Patient so kurzatmig ist, damit ich ihn angemessen behan- deln kann." (12) Die diagnostischen und therapeutischen Bemühungen sind als zirkuläre Interaktionsprozes- se aufzufassen, in denen Arzt und Patient als Partner gemeinsam ste- hen. (13) Um herauszufinden, war- um Herr A. so kurzatmig ist, muß Dr. B. unter Umständen mehr tun als die übliche Anamnese- und Befund- erhebung, einschließlich medizi- nisch-technischer Diagnostik.

Wendet der Arzt das „Dyspnoe- Programm" (Nr. 30 von Braun, Ma-

der und Danninger/8) an, finden sich dort unter „Beratungsursache" auch die Fragen nach Ängsten, eigenen Vermutungen von Herrn A. über die Ursache und Art seiner Erkrankung, Selbstbehandlung und eine Zeile

„sonst noch". Hier wurde also schon Raum gelassen für die psychosozia- len Aspekte des Krankseins, für die gerade der Hausarzt der zuständige Experte ist. Er ist derjenige„.(1 er den Überblick über die gesamte Le- bensproblematik des Patienten be- hält und ihn berät". (14)

Neben die gehärtete Diagnose im naturwissenschaftlich-medizini- schen Sinne von Braun tritt die „Ge- samtdiagnose" Balints, das Ver- ständnis des Patienten in seiner „in- dividuellen Wirklichkeit", die eine bio-psycho-soziale Wirklichkeit ist.

(13) Sie bezieht die Arzt-Patient-Be- ziehung ein. Das könnte im Falle des Herrn A. heißen, der wegen Dys- pnoe in die Sprechstunde kam (Be- ratungsursache), daß Dr. B. klassifi- ziert: „Bild einer chronischen ob- struktiven Lungenerkrankung, ex- acerbiert durch einen Konflikt mit dem Sohn. Ich spüre, daß der alte einsame Mann mich stärker in An- spruch nehmen will, als mir lieb ist.

Vielleicht geht es seinem Sohn so ähnlich. Ich will versuchen, ihn zu verstehen, muß aber aufpassen, mich nicht unreflektiert in seine Bezie- hungskonflikte einbeziehen zu las- sen." Das wäre die „Gesamtdiagno- se" im Sinne von Balint. Man sieht sofort, daß es sich nicht um eine Dia- gnose im eigentlichen Sinne handeln kann, wohl aber um ein erweitertes Beratungsergebnis, das für die Be- handlung des Herrn A. durch Dr. B.

bedeutungsvoll ist.

Allgemeinärzte können daher in idealer Weise die Patientenproble- me umfassend und vollständig be- schreiben und folglich auch erfor- schen. (11) Indem sie dies tun, kön- nen sie ihr Fach auch in der Lehre vertreten. Die psychosoziale Kompo- nente kann, ebenso wie die diagno- stischen Fähigkeiten, durch Erfah- rung wachsen, sie sollte aber ebenso wie diese (zum Beispiel durch Ba- lintgruppenarbeit) gezielt gefördert werden. Gerade auf diesem Gebiet spüren viele Patienten einen Man- gel, ihre Unzufriedenheit treibt sie

unter Umständen in die Hände von antiaufklärerischen Heilern. (11)

Sowohl die Arbeitsgruppe von Balint wie die von Braun hat sich außerhalb des Universitätsbetriebes etabliert. Das war kein Zufall, son- dern eine Konsequenz aus der Not des Praxisalltags, die nicht im Kran- kenhaus und schon gar nicht an der Universität erfahren werden kann.

Beide Schulen haben die begrenzte Zeit, die Praktikern zur Verfügung steht, bei ihren Überlegungen be- rücksichtigt (2,3); ihre Empfehlun- gen sollen helfen, diese knappe Zeit sinnvoll zu nutzen. Von verschiede- nen Blickpunkten beleuchten sie konvergierend die Situation des Pa- tienten und seines Arztes wie zwei Scheinwerfer, die den gleichen Ge- genstand erfassen und dadurch kla- rer hervorheben. Die Ergebnisse die- ser Forschergruppen ergänzen sich in idealer Weise und sollten deshalb Gegenstand allgemeinmedizinischer Aus- und Weiterbildung sein.

Bei der Diskussion um die Wei- terbildung in der Allgemeinmedizin geht es augenblicklich vor allem um die notwendige Zeit, die aufgewen- det werden soll, um Regionalzen- tren, Lehrpraxen und Lehrstühle, al- so um die Form, in der das Wissen vermittelt werden soll. Darüber hin- aus muß aber der Inhalt der Weiter- bildung bedacht werden. Patienten- zentrierte Medizin ist psychosomati- sche Medizin, eigentliche Human- medizin. Ihre vielen Aspekte im Pra- xisalltag immer präsent zu haben, ist aber eine schwere, fast zu schwere Aufgabe. Neue Konzepte für die all- gemeinärztliche Weiterbildung soll- ten das berücksichtigen und dabei die Fülle des Materials, das bereits vorliegt, nutzbar machen.

Dt. Ärztebl. 89 (1992) A 1 -668-671 [Heft 9]

Anschrift des Verfassers

Prof. Dr. med. H. H. Goßmann Löhrtor 5

W-5900 Siegen

111 Form und Inhalt der Weiterbildung

Dt. Ärztebl. 89, Heft 9, 28. Februar 1992 (35) A1-671

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