Seite eins
98. Deutscher Ärztetag
Bewährungsproben
L
ahnstein ist vorbei, Peters- berg aktuell. Damals, in Lahnstein, als das Gesund- heitsstrukturgesetz unter den Poli- tikern ausgekungelt wurde, waren die Vertreter der Ärzteschaft vor- geladen und vor vollendete Tatsa- chen gestellt worden. Jetzt, bei den Petersberger Gesprächen über die nächste Stufe der Gesundheitsre- form, wird ein neuer Stil erprobt:der „echte Dialog", wie beim 98.
Deutschen Ärztetag in Stuttgart übereinstimmend der Präsident der Bundesärztekammer, Dr. Kar- sten Vilmar, und der Vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesver- einigung, Dr. Winfried Schorre, bestätigten.
Auf dem Petersberg könnten demnächst, wenn man Minister Seehofers Ankündigungen bei der Eröffnung des Ärztetages folgt, dem echten Dialog sogar die ech- ten Verhandlungen über die künf- tige Gestalt des Gesundheitswe- sens folgen. Seehofer hat jeden- falls den Selbstverwaltungen im Gesundheitswesen ein weitrei- chendes Angebot gemacht (dazu die „Seite eins" in Heft 22: „Die Chance nutzen").
Seehofers Offerte löste bei den 250 Delegierten des Deut- schen Ärztetages zwiespältige Ge- fühle aus. Sie wußten nicht so recht, was sie davon halten sollten und welche Bewährungsproben
den ärztlichen Selbstverwaltungen demnächst noch bevorstehen könnten. Andererseits: Viele Ver- treter der Ärzteschaft, ihre Reprä- sentanten an der Spitze einge- schlossen, sehen durchaus den Reiz, im Gesundheitswesen wirk- lich Neues gestalten zu können.
Schließlich hat sich der 98.
Deutsche Ärztetag mit großer Mehrheit bereit erklärt, die Re- formdiskussion aufzunehmen — auf der Basis des gesundheitspoli- tischen Programms der deutschen Ärzteschaft, das der Ärztetag im vorigen Jahr vorgelegt hat. Ver- handlungen (auf dem Petersberg und anderswo) sollen an eine Rei- he von Anforderungen gebunden sein. Sie sind in der Entschließung über die „dritte" Stufe der Ge- sundheitsreform aufgelistet, die zusammen mit den übrigen Ent- schließungen des Deutschen Ärz- tetages in diesem Heft dokumen- tiert wird.
Die Ärzteschaft geht gestärkt in die Verhandlungen. Sie hat ein von einer großen Mehrheit getra- genes Konzept und eine von einer soliden Basis getragene Spitze.
Äußerer Ausdruck dafür ist die eindrucksvolle Mehrheit, mit der Vilmar als Präsident der Bundes- ärztekammer bestätigt wurde.
Die Kassenärztliche Bundesver- einigung (KBV) hat die Krise des vergangenen Jahres überwunden,
ihr Vorstand ist handlungsfähig, Vorsitzender Schorre überzeugte bei der Vertreterversammlung der KBV (im Vorfeld des Ärzteta- ges) selbst frühere Kritiker. Nach den Stuttgarter Tagungen beste- hen ferner gute Aussichten, daß die Differenzen zwischen ange- stellten Ärzten im Krankenhaus und niedergelassenen Ärzten, zwischen Marburger Bund und KBV durch erträgliche Kompro- misse in Sachen „Verzahnung von ambulant und stationär" beige- legt werden können.
Eine vorsichtige Annäherung zeichnet sich schließlich bei der das letzte Jahrzehnt die Gesund- heitspolitik beherrschenden Frage ab: Wie läßt sich das „Dogma" der Beitragssatzstabilität mit dem tatsächlichen Bedarf an medizini- schen Leistungen vereinbaren?
Die Politik beharrt zwar auf dem Grundsatz, aber so dogmatisch scheinen die Auffassungen nicht mehr zu sein — siehe Seehofers Ge- dankenspiel mit einem festen Ar- beitgeberanteil und einem floaten- den Arbeitnehmeranteil. Vilmar hingegen konzedierte, daß „eine ständige finanzielle Überforde- rung durch zunehmende Abgaben und Sozialleistungen und Steuern die Leistungsbereitschaft und den Leistungwillen gefährdet". Auf die nächsten Schritte darf man ge- spannt sein. Norbert Jachertz Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 23, 9. Juli 1995 (1) A-1619