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Archiv "Die Finanzierung der „Gesundheitsreform“ steht auf schwankendem Boden" (04.02.1988)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

AKTUELLE POLITIK

Der Bundesarbeitsminister hat den Referenten- entwurf für das „Gesundheits-Reformgesetz"

fertiggestellt. Es gibt schon das probate Akro- nym: GRG. Ein kiloschweres Werk mit Hun- derten von Paragraphen. Die Reformvorschläge unterscheiden sich kaum von jenen des vielkriti- sierten Vorentwurfs. Norbert Blüm will sein Gesetzesvorhaben offensichtlich ohne Rück- sicht auf die Kritik von allen Seiten ins Kabinett und ins Parlament bringen. Folgender Termin- ablauf ist geplant: Ende Februar Anhörungen

zum Referentenentwurf; Ende März Kabinetts- entwurf und Einbringung im Bundesrat. Paral- lel sollen die Koalitionsfraktionen dasselbe Ge- setzeswerk im Bundestag einbringen. Während der Sommerpause könnte sich der Bundestag dann seinen Hearings widmen. Im November Verabschiedung im Bundestag, im Dezember im Bundesrat; Inkrafttreten am I. Januar kom- menden Jahres. Ein Terminplan, der kaum Raum für unvorhergesehene Ereignisse - etwa ein langwieriges Vermittlungsverfahren - zuläßt.

Die Finanzierung

der „Gesundheitsreform"

steht auf

schwankendem Boden

D

en frisch gedruckten Re- ferentenentwurf seines Gesundheits-Reformge- setzes präsentierte Mini- ster Norbert Blüm zu allererst der Presse. In Bad Neuenahr, gleich ne- ben der Spielbank im Kurhaus — sin- nigerweise am Ort der Pressesemi- nare des AOK-Bundesverbandes — führten Blüm, sein neuer Staatssek- retär Bernhard Jagoda, der zustän- dige Abteilungsleiter Karl Jung und die Referenten eine Hundertschaft Journalisten in einem siebenstündi- gen Seminar durch das komplexe Gesetzeswerk.

Doch selbst gewiefte Experten tun sich schwer, die Gesetzesabsich- ten und die möglichen Auswirkun- gen zu ermessen. Zur Zeit laufen bei den Verbänden der „Betroffenen"

die Maschinerien heiß, die die Stel- lungnahmen ausspucken. Fundierte Aussagen brauchen ihre Zeit. Auch hier kann nur ein erster Überblick gegeben werden, die Materie ist ein- fach zu unübersichtlich.

Über eins sollte aber von An- fang an Klarheit herrschen: Erfüllt Blüm den selbstgestellten Auftrag, die Kassen finanziell zu stabilisieren (von Reform des Gesundheitswe- sens wollen wir schon gar nicht mehr reden)?

Blüm verspricht sich von dem Reformvorhaben nach wie vor ein Einsparvolumen von 14 Milliarden DM. Davon sollen 7 Milliarden für eine Beitragssenkung um etwa 1 Prozentpunkt und 7 Milliarden für den Einstieg in die Pflegeversiche- rung verwendet werden. Die Rech- nung ist von Anfang an angezweifelt worden. Sie enthält allzu viele offe-

ne Posten. Beispielsweise den Soli- darbeitrag der Pharmaindustrie von 1,7 Milliarden DM. Bisher steht das lediglich als Forderung auf dem Pa- pier; Kanzler Kohl will darüber ver- handeln. Oder: Im Krankenhaus soll 1 Milliarde eingespart, 100 000 Bet- ten sollen abgebaut werden. Der Gesetzesentwurf läßt nicht erkennen wie. Oder: 800 Millionen DM sollen bereits im ersten Jahr durch die Ein- führung von Festbeträgen bei Arz- neimitteln hereinkommen. Der Bundesarbeitsminister geht dabei davon aus, daß die Festbeträge an- fänglich bei einem Drittel des Phar- mamarktes greifen und sich an den Generikapreisen orientieren wer- den. Genaueres ist aus dem Hause Blüm freilich nicht zu erfahren. Im einzelnen soll sich später der Bun- desausschuß der Ärzte und Kran- kenkassen damit befassen. Laut Jung, vor der Presse, wird der Bun- desausschuß jene ominösen 800 Mil- lionen DM Einsparvolumen als

„Vorgabe" bekommen. Die Fest- beträge sollen, gleichfalls nach Jung, keineswegs an Billigprodukten aus- gerichtet werden, sondern irgendwie

an der Qualität. Jung hegt die le- bensfremde Auffassung, die Indu- strie werde, wenn die Festbeträge einmal da seien, einen eifrigen Preis- wettbewerb führen und auch Pro- dukte weit unterhalb der Festbeträ- ge anbieten. Es gehört allerdings zum volkswirtschaftlichen 1 x 1, daß Marktteilnehmer Garantiepreise voll auszuschöpfen pflegen. Die Rechnung mit den 800 Millionen im ersten Jahr und den rund 2,5 Milliar- den nach Einführung von Festprei- sen für 90 Prozent des Marktvolu- mens steht somit in den Sternen.

Es ist nicht unsere Aufgabe, die Rechnung des Bundesarbeitsmini- sters in jedem Posten zu überprüfen.

Hier sollte an einem markantem Beispiel lediglich dargelegt werden, wie unsicher die Annahmen über das Sparvolumen sind und die Schät- zungen, das Sparvolumen werde nicht 14, sondern nur 7 Milliarden bringen, wohl stimmen. Vollends im dunkeln liegt

das Ausgabenvolumen

der geplanten ausufernden Bürokra- tie: Flächendeckender Medizini- scher (Vertrauensärztlicher) Dienst, aufgeblähter Bundesausschuß der Dt. Ärztebl. 85, Heft 5, 4. Februar 1988 (17) A-205

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Ärzte und Krankenkassen, Führung von Leistungskonten für die Versi- cherten, „Transparenz" . . . und dann erst die Pflege! Hinzu kommt ein enormer Ausgabenschub allein infolge des Ankündigungseffekts (wie frühere Gesetze lehrten).

Vorsorglich hat der Bundesar- beitsminister den Aufwand, den der Einstieg in die Pflege verursacht, nicht näher aufgeschlüsselt. Ledig- lich das Volumen, 7 Milliarden fürs erste, wird genannt. Ein offener Po- sten sind vor allem die Barleistun- gen, die pflegenden Angehörigen zugute kommen sollen. Hier weist der Referentenentwurf schlichtweg drei Pünktchen aus. Ein Unsicher- heitsfaktor ist auch die Definition der Schwerpflegebedürftigkeit. Die soll der Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen nachliefern.

Mit dem Einstieg in die Pflege- fallsicherung riskiert der Bundesar- beitsminister, daß die Gesetzliche Krankenversicherung in ein finan- zielles Abenteuer hineingerät. Der Mitnahmeeffekt — wer Leistungen bekommen kann, wird sie auch nut- zen — ist unübersehbar; wie sich die Pflegebedürftigkeit innerhalb der ungünstiger werdenden Altersstruk- tur entwickeln wird, ist nicht ab- schätzbar. Völlig offen ist der weit- reichende politische Effekt jenes Einstiegs — folgt einem Einstieg doch für gewöhnlich ein Ausbau. Das ist auch bei der Pflege zu erwarten, geht es doch um ein jedermann be- rührendes Problem, das tatsächlich gelöst werden muß. Gelöst, aber nicht über die Gesetzliche Kranken- versicherung! Denn es handelt sich nicht um ein Problem, das speziell deren Mitglieder angeht, sondern je- den in unserem Staat.

Der Staat freilich zieht sich aus der Affäre, so wie er sich seit 1976, als er den Verschiebebahnhof auf- machte, immer wieder aus der Affä- re, sprich seiner Zahlungspflicht für die Rentenversicherung, gezogen hat. Und so, wie er sich um das Pro- blem der Krankenversicherung der Rentner herumdrückt.

Auf die „Reform" wird bald ei- ne weitere „Reform" folgen müs- sen. Eine hat Blüm selbst schon an- gekündigt: ein Gesetz über die Neu- ordnung der Kassen. NJ

D

as Reformvorhaben der Koalition verfolgt — so die Eigendarstellung aus dem Hause Blüm — vier Haupt- ziele:

1> Die Leistungen der Kran- kenversicherung sollen auf das me- dizinisch notwendige Maß konzen- triert und Wirtschaftlichkeitsreser- ven ausgeschöpft werden, so daß auch in Zukunft der hohe Leistungs- standard des Systems und die Teil- habe am medizinischen Fortschritt gewährleistet werden können, ohne die Versicherten bei Inanspruchnah- me der Standardleistungen zu größe- ren Zuzahlungen zu veranlassen.

D Gleichzeitig sollen noch be- stehende Versorgungsungleichge- wichte und -defizite abgebaut wer- den, so vor allem in den Bereichen der Gesundheitsförderung, der ge- sundheitlichen Aufklärung, Präven- tion, Verhütung von Krankheiten, der Krankheitsfrüherkennung und teilweise auch im Bereich der psych- iatrischen Leistungen.

1> Erstmals sollen die Kranken- kassen einen „Beitrag zur besseren sozialen Absicherung bei Pflegebe- dürftigkeit" leisten. Insbesondere sind noch nicht exakt bestimmte Geldleistungen bei häuslicher Pflege im Rahmen des erweiterten Pflicht- leistungskataloges vorgesehen. Dies gilt insbesondere beim Vorliegen einer Schwerpflegebedürftigkeit (rund 640 000 Personen).

> Trotz der vorgesehenen Lei- stungserweiterungen soll der Durch- schnittsbeitragssatz der GKV um mindestens einen Prozentpunkt ge- senkt und langfristig stabilisiert wer- den.

Zum Inhalt des Blüm-Entwurfs:

Künftig sollen folgende Arznei- mittel bei Verordnung ausgeschlos- sen werden: Arzneimittel zur An- wendung bei Erkältungskrankheiten und grippalen Infekten einschließ- lich der bei diesen Krankheiten an- zuwendenden Schnupfenmittel, hu- stendämpfender und hustenlösender Mittel, Schmerzmittel; Mund- und Rachentherapeutika, ausgenommen bei Pilzinfektionen; Abführmittel;

Arzneimittel gegen Reisekrankheit.

Das Arbeitsministerium begründet dies mit der Notwendigkeit, die seit 1. April 1982 gültige Negativliste zu bereinigen und zu ergänzen. Vor al- lem sollen „unwirtschaftliche Arz- neimittel, insbesondere solche mit einem zweifelhaften therapeutischen Nutzen", künftig als Kassenpflicht- leistung ausgeschlossen werden.

Der Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen soll entschei-

Der Blüm-Entwurf eines

„Gesundheits-Reformgesetzes"

Festbeträge, Leistungsausgrenzungen, Selbstbeteiligung, Kontrollen - und ein Wust bürokratischer Maßnahmen

Leistungsabbau, Ausgrenzung, Kostenverschiebung, massive Di- rektbeteiligungen, Einscluiürung der Kompetenzen der Selbstver- waltungen und ein Wust unübersehbarer bürokratischer Vor- schriften kennzeichnen den insgesamt 409 Paragraphen umfassen- den Referentenentwurf des Bundesarbeitsministeriums eines „Ge- setzes zur Strukturreform im Gesundheitswesen" (Gesundheitsre- formgesetz), der am 22. Januar mit mehr als 500 Druckseiten (die Begründung des Gesetzeswerkes fehlt noch) den Verbänden zu- gestellt wurde. Das Verbände-Hearing ist Ende Februar in Bonn.

I Neudefinition

des Leistungsumfangs der gesetzlichen Krankenversicherung

A-206 (18) Dt. Ärztebl. 85, Heft 5, 4. Februar 1988

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