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Zusammenfassung und Bewertung der bei ServiceTec verfolgten

Im Dokument Viele Wege führen nach Indien (Seite 166-176)

Als Anbieter von Offshore-Outsourcing Dienstleistungen verfolgt ServiceTec ein Geschäftsmodell, dass dem der Literatur entnommenen Leitbild des „Global-Delivery-Models“ in fast allen Punkten entspricht. So findet sich bei ServiceTec die typische Trennung der Arbeitsabläufe in einen kundennahen „Onsite“-Bereich und einen indischen „Offshore“-Bereich (hier: in Indien). Mit der räumlichen Trennung geht eine Arbeitsteilung einher, welche die planenden und konzep-tionellen, sowie die eher kommunikationsintensiven Tätigkeiten in den Onsite-Teams konzentriert, wohingegen die eher arbeitsintensiven und ausführenden Tätigkeiten auf die Teams im indischen Entwicklungszentrum entfallen. Diese Trennung begründet auch einen wesentlichen Unterschied in der Komplexität der am jeweiligen Standort ausgeführten Arbeitspakete.

Zudem stellt die für das „Global-Delivery-Model“ für essentiell erachtete Pro-zessorientierung auch bei ServiceTec ein zentrales Merkmal der Arbeitsorganisati-on und -kArbeitsorganisati-ontrolle dar. Betrachtet man die strategische Ausrichtung ServiceTecs in Bezug auf die Kontrolle der Arbeitsprozesse im indischen Entwicklungszentrum, so drängt sich der Begriff der „Software-Factory“ geradezu auf. Nach eigenen Aussagen versucht ServiceTec die „Industrialisierung“ der Arbeitsprozesse intern möglichst weitreichend umzusetzen und grenzt sich gezielt von einem Bild der Softwareentwicklung als einer kreativen und auf die Selbstorganisationsfähig-keiten der Entwickler angewiesenen Art von Arbeit ab. Statt dessen wird bei ServiceTec stets die umfassende Durchdringung der Arbeitsprozesse mithilfe standardisierter Prozessmodelle betont. Dementsprechend restriktiv sind auch die im indischen Entwicklungszentrum implementierten Kontrollstrategien.

Wie sich bei der Analyse der Aufgabenorganisation gezeigt hat, prägen die Prozess-modelle ganz wesentlich die Art und Weise, in der bei ServiceTec versucht wird, die Gesamtleistung in einzelne Arbeitspakete zu zergliedern. Für jede von Ser-viceTec angebotene Art von Dienstleistung existiert eine Prozessbeschreibung, in der die nötigen Arbeitsschritte zur Erbringung jener Leistung definiert sind. Auf Basis dieser Ablaufvorgaben entwickeln die jeweiligen Projektverantwortlichen anschließend ihre detaillierten Projektpläne, die bereits die nötigen Arbeitspa-kete ausweisen, die anschließend auf die Beschäftigten des Teams – stets nur als „Ressourcen“ bezeichnet – verteilt werden. ServiceTec hat großen Aufwand betrieben, diese Vorgaben, die sich aus den Ablaufbeschreibungen der Prozess-modelle ergeben, durch ein umfangreiches Set an weiteren Normenkatalogen,

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wie z.B. Coding-Guidelines und detaillierten Checklisten für jeden Arbeitsschritt zu ergänzen, um die Komplexität und (damit zusammenhängend) die zeitliche Länge der Arbeitsaufgaben möglichst weit zu reduzieren.

Das Zusammenspiel dieser Maßnahmen führt dazu, dass sich bei ServiceTec eine extreme Arbeitsteilung mit sehr kurztaktigen und stark vorspezifizierten Arbeitsaufgaben findet. Nach Angaben der Gesprächspartner werden Arbeits-pakete angestrebt, die in einem Zeitrahmen von 2-8 Stunden bearbeitet werden können. Zwar wechseln die Arbeitspakete sowohl im Laufe des Projektablaufs, als auch dadurch, dass die in einer Phase des Projektes anfallenden Aufgaben rotierend vergeben werden, jedoch kann diese Abwechslung den monotonen und routinisierten Charakter der Arbeitsaufgaben nicht überdecken, der von den Beschäftigten ganz eindeutig zum Ausdruck gebracht wird.

Vielmehr konnte gezeigt werden, dass die stete Rotation der Beschäftigten zwischen Arbeitsaufgaben und Projektteams, vor allem der Vermeidung von fachlicher Spezialisierung dient. Strategisches Ziel ServiceTecs ist es, die Projekte stets „process-depending and not people-depending“ zu halten. Ein Zuschnitt der Arbeitsaufgaben, deren Erledigung keine lange Einarbeitungszeit und kei-ne tiefen, über die technische Realisierung hinausgehenden, fachlichen Kennt-nisse erfordert, bietet ServiceTec damit die Möglichkeit, die Beschäftigten auf Entwickler-Ebene sehr flexibel einzusetzen. Einerseits kann damit auf unregelmä-ßiges Geschäftsaufkommen reagiert werden, indem Projekte personell schnell auf- und abgebaut werden können. Andererseits wird damit auch die Gefahr, die von den hohen Fluktuationsraten ausgeht, reduziert, indem Beschäftigte, die das Unternehmen verlassen, schnell durch andere Entwickler ersetzt werden können.

So feingliederig die Arbeitsteilung bei ServiceTec ist, so detailliert und eng ist auch die Form der Kontrollstruktur. Die mit den Prozessvorgaben verknüpften Vorgaben zur Bearbeitung der Arbeitspakete fungieren dabei als zentrales Mittel der Anleitung und Anweisung der Entwickler. Bei Unklarheiten und Problemen stehen mit den jeweiligen Modulleitern darüber hinaus entsprechend weisungs-befugte und -befähigte Vorgesetzte bereit, die schon aufgrund der räumlichen Anordnung der Arbeitsplätze in einem gemeinsamen Cubicle stets präsent und ansprechbar sind.

Auch für die Überwachung der Arbeitsabläufe ist die genannte Präsenz der Modulleiter wichtig, sind sie doch stets in der Lage, etwaige Probleme und Ver-zögerungen im Ablauf zu erkennen. Allerdings verlässt sich ServiceTec nicht ausschließlich auf diese persönliche Form der Überwachung, sondern hat zudem ein sehr detailliertes Computersystem implementiert, das neben der

computerge-stützten Zuweisung der Arbeitsaufgaben an die Entwickler auch die Funktion übernimmt, den Bearbeitungsvorgang für das Management transparent zu ma-chen, weil jeder Beschäftigte – nach Angaben der Beschäftigten auf Minutenbasis – seinen Arbeitstag und den Fortschritt der Aufgabenbearbeitung dokumentiert.

So besteht auch unabhängig vom direkten Kontakt der Entwickler zu ihren Mo-dulleitern für die Projektmanager stets die Möglichkeit, sich über den Fortschritt der Projekte zu informieren. Der Rhythmus, in dem Manager sich über die Fort-schritte des Projektablaufes informieren, ist neben den strategischen Erwägungen ServiceTecs auch wieder von den Anforderungen der Kunden abhängig. Diese unterscheiden sich in der Intensität, mit der sie Fortschrittsberichte von Service-Tec einfordern. Häufig ist jedoch der vom Kunden geforderte Takt noch kürzer, als der von ServiceTec angestrebte. Auch an diesem Punkt wirkt sich also der Kundenkontakt wesentlich auf die Form der Arbeitskontrolle aus.

Die enge Überwachung der Arbeitsprozesse auf individueller Ebene ermöglicht es ServiceTec schließlich auch, die individuell verausgabte Arbeitsleistung sehr detailliert zu „messen“. Zwar beruht der Prozess der Beurteilung von Arbeitsleis-tung auf Zielvereinbarungsgesprächen zwischen Management und Beschäftigten, doch zeigt sich bei näherer Betrachtung, dass es in erster Linie darum geht, die Beschäftigten mit recht fixen Anforderungen von Seiten des Unternehmens hin-sichtlich der Geschwindigkeit und Qualität der Arbeitsleistung zu konfrontieren.

Die implementierten Systeme zur Messung von Arbeitszeit und zur Behebung von Programmierfehlern stellen dabei wichtige Instrumente dar, mit denen die individuelle Arbeitsleistung vom Management umfangreich erhoben und vor dem Hintergrund der explizierten Anforderungen beurteilt werden kann.

ServiceTec betont dabei stets die individuellen Anteile der Entwickler am Teamerfolg. Gemäß der Formel der „individual contributors“ wird versucht, die Beschäftigten leistungsmäßig stark zu differenzieren. Deutlichster Hinweis darauf ist der Umstand, dass alle Beschäftigten eines Teams im Anschluss an den individuellen Bewertungsprozess zusätzlich noch einmal „gerankt“ werden, d.h.

in eine hierarchische Reihenfolge in Bezug auf ihre individuelle Arbeitsleistung gebracht werden. Zudem ist die Verteilung der Beschäftigten auf die verfügbaren 4 Leistungsgruppen vorab festgelegt, wodurch schon vor der Individual-Bewertung feststeht, wieviel Prozent der Beschäftigten in den verschiedenen Leistungsgrup-pen sein müssen. Auf diese Weise können auch kleine Differenzen hinsichtlich der Arbeitsleistung sehr gravierende Folgen haben: Da das Ergebnis des Bewertungs-prozesses die Höhe des individuell ausgezahlten Gehaltsbonus determiniert und der Zusammenhang zwischen Zielerreichung und Bonuszahlungen von

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Tec bewusst überproportional gestaltet wird, ist die Bewertung für Beschäftigte bei ServiceTec auch finanziell von enormer Wichtigkeit. Mit diesem System der Leistungsbewertung wird eine interne Konkurrenz um die besten Bewertungen geschürt, die noch durch symbolische Wettbewerbe und Titel innerhalb der Teams verstärkt wird.

Dementsprechend findet sich auf der Ebene der Projektteams auch eher eine Zahl von „individual contributors“ als wirklich kooperierende Teams. Arbeit auf der Ebene der Entwickler ist in erster Linie Arbeit an individuell zugewiesenen Ar-beitsaufgaben. Wenn Kooperation mit anderen Teams oder gar mit Beschäftigten des Kunden nötig ist, so ist ServiceTec bestrebt, diesen Kontakt – sofern möglich – über die Modul- und Projektleiter zu kanalisieren.

Betrachtet man die Arbeitsmarktbeziehungen ServiceTecs, so fällt auf, welch großen Einfluss diese auf die von ServiceTec verfolgte Kontrollstrategie haben und wie viele der bereits erwähnten Aktivitäten zur Arbeitsorganisation und -kontrolle auch strategische Überlegungen zum Umgang mit der spezifischen

Arbeitsmarktsituation reflektieren.

Aufgrund der ehrgeizigen Wachstumspläne und dem daraus folgenden großen Personalbedarf ist ServiceTec von dem am indischen Standort zunehmend auf-scheinenden Fachkräftemangel in seinen Rekrutierungsbemühungen stark be-troffen. Um dennoch in der beabsichtigten Geschwindigkeit zu wachsen, ist ServiceTec dazu übergegangen, neben der traditionellen Gruppe der Engineer-ing-Absolventen zunehmend auch neue Zielgruppen für die Rekrutierung zu erschließen. Voraussetzungen dafür schaffen die Trainingseinrichtungen Service-Tecs, in die in den letzten Jahren erhebliche Ressourcen investiert wurden, um das Qualifikationsniveau der neu rekrutierten Beschäftigten durch eine intensi-ve Einführungsphase sicherzustellen. In gewisser Hinsicht bildet die Form der Aufgabenorganisation auch die Voraussetzung dafür, dass solcherart geschulte Beschäftigte schnell produktiv in den Projekten mitarbeiten können, da längere Einarbeitungszeiten aufgrund des Charakters der Arbeitsaufgaben nicht nötig sind.

Zudem stellt die strikte Prozessorientierung und die damit einhergehende Standardisierung und Formalisierung der Arbeitsabläufe die Grundlage für den speziellen Umgang ServiceTecs mit den für den indischen Standort charakteristi-schen Fluktuationsraten dar. Mit knapp 14% liegt Servicetec zwar unterhalb des Branchenschnitts, doch trotzdem ist dieser Aspekt in allen Interviews präsent und wird sehr ernst genommen.

Es konnte gezeigt werden, dass der Umgang ServiceTecs mit den hohen Fluk-tuationsraten auf der einen Seite darin besteht, die Arbeitsprozesse gegen Fluktua-tion (durch Standardisierung und Formalisierung der Arbeitsabläufe) möglichst weitgehend zu immunisieren. Unterstützt werden diese Bemühungen durch In-itiativen im Bereich des Wissensmanagements, die darauf abzielen, (auch unter Angebot finanzieller Anreize) Beschäftigte dazu zu veranlassen, individuelles Erfahrungswissen zu dokumentieren und mit ihren Kollegen zu teilen, was wiederum die Abhängigkeit der Projekte von den einzelnen Beschäftigten redu-ziert. Zudem existiert ein ausgefeiltes Backup-System, das die Übernahme einer Position durch einen Nachfolger noch einmal beschleunigt. Zwar führt diese Standardisierung und Formalisierung, wie gezeigt werden konnte, zu geringer Jobzufriedenheit der Beschäftigten und fördert damit seinerseits die Fluktuation, weil viele Beschäftigte auf der Suche nach attraktiveren Jobs die Firma verlassen, doch ServiceTec ist gegenwärtig nach Angaben des höheren Managements noch in der Lage, diese Fluktuation in den Arbeitsprozessen zu verkraften.

Ein Grund, warum die Fluktuationsrate bei ServiceTec trotz der geringen Jobzufriedenheit der Beschäftigten mit 14% noch unterhalb des Branchendurch-schnitts liegt, könnte sein, dass ServiceTec zwar im Bereich der Arbeitsorganisa-tion auf eine möglichst weitreichende Immunisierung gegen FluktuaArbeitsorganisa-tion setzt, sich im Bereich der betrieblichen Rahmenbedingungen jedoch stark bemüht, die Beschäftigten durch positive Anreize an die Firma zu binden und damit die Fluktuationsraten zu reduzieren. Als zentrale Elemente dieses Ansatzes konnten die Gewährung von schnellen und vor allem berechenbaren Karrierewegen, die damit zusammenhängenden Gehaltssteigerungen und die attraktive Möglichkeit, für eine Zeit vor Ort beim Kunden zu arbeiten, herausgearbeitet werden. Auch die luxuriöse Arbeitsumgebung auf dem Unternehmenscampus stellt für die Beschäftigten eine Attraktion dar, dauerhaft bei ServiceTec zu bleiben.

Demnach geht bei ServiceTec die Internationalisierung der Leistungserstellungs-prozesse mit stark industrialisierten Arbeitsabläufen einher. Dies betrifft sowohl die standortübergreifende Kooperation als auch die Arbeitsabläufe im indischen Entwicklungszentrum. Die Standardisierung und Formalisierung führt dort zu extrem restriktiven Formen der Arbeitsprozesskontrolle durch das Mana-gement. Als Grund für diese strategische Ausrichtung konnte zum einen das spezifische Geschäftsmodell ServiceTecs als Anbieter von Offshore-Outsourcing Dienstleistungen herausgearbeitet werden. Immerhin wirkt sich die dafür ty-pische Beziehung zu Kunden stark auf die Form aus, in der ServiceTec seine Arbeitsabläufe intern gestaltet. So konnte die extreme Prozessorientierung und

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die Notwendigkeit, den Projektablauf stets eng und feingliedrig zu überwachen, wesentlich auf Ansprüche der Kundenunternehmen zurückgeführt werden. Zum anderen zeigt sich jedoch, dass viele Chrarakteristika der Aufgabenorganisation und -kontrolle bei ServiceTec auch Reaktionen auf die spezifischen Bedingungen am indischen Standort sind. So schafft die starke Standardisierung und Forma-lisierung der Arbeitsprozesse, die das Geschäftsmodell erfordert, gleichzeitig die Möglichkeit, auch gegenwärtig noch ehrgeizige Wachstumspläne am indi-schen Standort zu realisieren und gleichzeitig mit erhöhten Fluktuationsraten organisatorisch umzugehen.

Die Intensität, mit der bei ServiceTec die „Industrialisierung“ der Leistungserstel-lungsprozesse und der internen Arbeitsabläufe betrieben wird, erklärt sich daher daraus, dass in diesem Fall das Geschäftsmodell eine starke Standardisierung und Formalisierung der Arbeitsprozesse erfordert, und dieses Vorgehen gleichzeitig eine Möglichkeit bietet, erfolgreich auf dem indischen Arbeitsmarkt zu agieren und die hohen Fluktuationsraten organisatorisch zu bearbeiten, sich die beiden Aspekte also gegenseitig in ihrer Wirkung verstärken. Das Zusammenwirken zwischen verfolgtem Geschäftsmodell und den spezifischen Bedingungen am indi-schen Standort ist allerdings nicht immer so harmonisch. Dies wird die folgende Fallstudie des deutschen Standardsoftwareherstellers NovoProd zeigen.

6 „Struggle for Ownership“ – Arbeit und Kontrolle bei der

deutschen Produktfirma NovoProd

Steht der Fall ServiceTec für einen Reorganisationsmodus von Arbeit, der eine starke Standardisierung und Formalisierung der Arbeitsprozesse, sowie eine daraus folgende, extrem restriktive Form der Arbeitskontrolle beinhaltet, so stellt NovoProd einen gänzlich anders gelagerten Fall dar. Einer zu einem hohen Grad international verteilten Entwicklung von Softwareprodukten entspricht hier keine vergleichbare Standardisierung und Formalisierung der Arbeitsprozesse, wie dies bei ServiceTec zu beobachten war. Vielmehr finden sich im indischen Entwicklungszentrum von NovoProd viele Formen permissiver Kontrolle, die mit IT-Arbeit gewöhnlich assoziiert werden.

Dieser deutliche Unterschied zu ServiceTec – so mein in diesem Abschnitt empirisch zu belegendes Argument – ist vor allem dem speziellen Internationali-sierungsweg NovoProds als eines großen Standardsoftwareherstellers geschuldet.

Dieser Internationalisierungsweg und das damit verknüpfte Geschäftsmodell NovoProds implizieren klare Grenzen einer möglichen Standardisierung und Formalisierung der Arbeitsprozesse und bewahren damit die Abhängigkeit von den individuellen Selbstorganisations- und Problemlösungsfähigkeiten der Be-schäftigten als einer erfolgskritischen Ressource. Doch auch am Fall NovoProd lässt sich nachweisen, dass die entstehenden Formen der Reorganisation von Arbeit im Zuge der Internationalisierung der IT-Industrie nicht allein unter Rückgriff auf die verfolgten Internationalisierungswege der Unternehmen ver-standen werden können. So stellt der organisatorische Umgang mit den hohen Fluktuationsraten des indischen Arbeitsmarktes und den damit verknüpften Orientierungen der Beschäftigten hinsichtlich Gehalt und Karriere eine große Herausforderung für NovoProd dar und zwingt zu „indienspezifischen“ Anpas-sungen der Arbeitsorganisation und -kontrolle.

Auch in dieser Falldarstellung sollen zunächst einige Informationen zum Profil NovoProds gegeben werden (6.1), bevor ich mich dem von NovoProd verfolg-ten Modell der „verteilverfolg-ten Entwicklung“ zuwende und die daraus folgenden Implikationen für die Form der Arbeitsorganisation und -kontrolle im indischen Entwicklungszentrum von NovoProd diskutiere (6.2). In der Untersuchung der Kontrollstrategie steht dann die konkrete Umsetzung des Geschäftsmodells am indischen Standort im Zentrum des Interesses und ich möchte zeigen, wie sich auch bei NovoProd aus dem Wechselspiel zwischen den Anforderungen des Geschäftsmodells und den Bedingungen am indischen Arbeitsmarkt ein bestimm-ter Reorganisationsmodus der Arbeit entsteht, der im Gegensatz zu ServiceTec jedoch wesentlich permissivere Kontrollformen beinhaltet (6.3).

6.1 Das Profil von NovoProd

NovoProd ist ein deutsches IT-Unternehmen, das sich auf die Herstellung und Implementierung von betriebswirtschaftlicher Standardsoftware spezialisiert hat. Primäre Zielgruppe für die von NovoProd entwickelten Produkte sind traditionell vor allem Großunternehmen oder -organisationen.

Im Jahr 2008 hatte NovoProd im Bereich der Softwareentwicklung über 15.000 Beschäftigte, die an mehreren Entwicklungsstandorten weltweit arbeiteten. No-voProd ist damit in hohem Maße international aufgestellt – von den über 15.000 Beschäftigten im Bereich der Softwareentwicklung arbeiteten 2008 nur ca. 40 % im Hauptquartier in Deutschland1.

Historisch war NovoProd zunächst neben Deutschland ausschließlich mit Entwicklungsstandorten in anderen Hochlohnregionen Europas und Nordame-rikas vertreten. Erst Ende der 90er Jahre änderte sich dieses Bild und NovoProd begann gezielt, Offshore-Kapazitäten in Niedriglohnregionen aufzubauen. Als erstes Offshore-Entwicklungszentrum wurde Ende der 90er das indische Ent-wicklungszentrum in Bangalore gegründet.

Als Gründe für diese Neuausrichtung wurden von den befragten Vertretern des höheren Managements vor allem zwei Punkte genannt.

Zum einen spielten – wenig überraschend – die Kostengesichtspunkte eine wichtige Rolle. Hatte NovoProd lange Zeit aufgrund der angebotenen Produkt-qualität eine dominierende Stellung auf dem von ihm bedienten Marktsegment, so sind NovoProd mit der Zeit zunehmend Wettbewerber erwachsen, die auch qualitativ mit ähnlichen Produkten aufwarten und in der Folge zunehmend

1 Alle Zahlen nach Geschäftsbericht von 2008.

Das Profil von NovoProd 173

Marktanteile erobern konnten. Aus diesem Grund befindet sich NovoProd un-ter stärker werdendem Konkurrenzdruck, der sich inun-tern vor allem als stetiger Druck auf die Kosten der Produktentwicklung auswirkt. Demnach wurde die Verteilung der Arbeiten auf die verschiedenen Entwicklungszentren ab Ende der 90er Jahre auch zunehmend unter der Maßgabe verhandelt, einen möglichst großen Teil der Arbeit an Niedriglohnregionen ausführen zu lassen.

„Und daran sehen Sie vielleicht auch eine Veränderung der Politik in dem Bereich: Früher konnten die Geschäftsbereiche den Standort völlig frei aus-suchen. Das heißt, wir[das indische Entwicklungszentrum – PF]mussten von Anfang an darauf achten, dass wir die gleiche Qualität liefern. Weil die Kollegen haben praktisch für ein Projekt 20 Head Counts zugebilligt bekommen, und die konnten sie jetzt in irgendeinem Standort aufbauen.

Kosten spielten keine Rolle in dieser Firma, also zumindest nicht in diesem Bereich[lacht]. Das hat sich natürlich inzwischen verändert, ganz klar.

Wir achten sehr, sehr genau auf die Kosten. Das heißt heute ist dann die Maßgabe erstmal: ‚Okay, low-cost Standort‘. Für bestimmte Sachen. Ist nicht immer so, aber für manche Sachen sagt man: ‚Okay, kann man das in einem low-cost Standort machen?‘“ (ND1)2

Zum anderen war jedoch auch das verfügbare Arbeitskräfteangebot ein wichti-ger Grund für die Gründung der indischen Niederlassung. Nach Aussagen der befragten Manager sei es für NovoProd Ende der 90er schwierig geworden, in Deutschland neue Beschäftigte in ausreichender Zahl und mit adäquater Qualifi-kation zu rekrutieren. Daher wurde entschieden, den Großteil des Wachstums in den Offshore-Entwicklungszentren, wie z.B. Indien voranzutreiben, in denen es leichter gewesen sei, schnell eine größere Zahl von Entwicklern einzustellen.

„Gut, wir hatten da letztlich das beste Gefühl vom Job-Markt her. Die Motivation war ja ohnehin im Jahr ’99, dass wir hier nicht mehr genug Leute kriegen. Da lief ja gerade die erste Internet-Welle heiß, und die Startups haben natürlich einen unheimlich Zulauf gehabt von intelligenten jungen Menschen. Für ein etabliertes Unternehmen, was so ein bisschen als altmodisch galt, war es auch ein bisschen schwierig, gute Leute hier zu kriegen. Wir haben auf manche Stellenanzeigen hier überhaupt keine Response mehr bekommen.[...]In Indien war das eben anders. Da konnten wir halt in bestimmten Bereichen in Indien sehr zügig wachsen.“ (ND1)

Dementsprechend rasant verlief auch das Wachstum des indischen Standortes innerhalb NovoProds. Ende der 90er Jahre gegründet, arbeiteten 2008 bereits

2 Nähere Informationen zu den zitierten Gesprächspartnern bei NovoProd finden sich in Tabelle 8.2 (S. 292) im Anhang.

mehr als 3000 Personen dort3. Das indische Entwicklungszentrum ist damit in kurzer Zeit zum zweitgrößten Standort NovoProds aufgestiegen.

Die im Rahmen dieser Studie untersuchte Abteilung ist Teil des Forschungs-und Entwicklungsbereiches von NovoProd, in ihr wird ein neues Software-Produkt entwickelt.

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