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Zusammenfassung: Koexistenz von Chancen und Krisen

Die chinesische Modernisierung, d.h. der Übergang Chinas von einer Agrargesellschaft zu einer modernen Industriegesellschaft, kann bestimmt kein vorübergehender historischer Prozeß sein. Man kann sagen, gegenwärtig findet nur der Beginn dieses Prozesses statt. Wie wird er sich weiterentwickeln? W ir kommen nicht umhin, zwei ZukunftsSzenarios in Erwägung zu ziehen. Die eine Möglichkeit wäre: China benötigt den Zeitraum eines halben oder eines ganzen Jahrhunderts, um von der traditionellen und rückständigen Lebensweise loszukommen und sich zu einer modernen Gesellschaft zu entwickeln. Eine andere Möglichkeit wäre die: Über eine lange Zeit befinden sich neue und alte Dinge in einem beständigen Konflikt, in Kreislaufbewegungen, die mal heftig, mal entspannt sind. Selbstverständlich kann es auch mit diesen Konflikten und Bewegungen Entwicklung geben, aber diese wäre notwendigerweise sehr schwerfällig. Diese Voraussagen zu zwei Perspektiven sind keineswegs grundlos.

Die gesamte Entwicklung des 20. Jhts in China kann als eine Fußnote zu diesen Problemen betrachtet werden. Wenn man Prognosen über die Perspektiven der künftigen Entwicklung abgibt, dann muß man zuerst eine treffende Einschätzung der vergangenen Entwicklung haben.

Ein Aspekt dieser Einschätzung ist die Anerkennung der Erfolge der Reform- und Öffnungspolitik in den achtziger Jahren. Die chinesische Reform der achtziger Jahre hat zweifellos für die sichtliche Verbesserung des Niveaus der Lebensqualität der Chinesen eine positive Rolle gespielt. Von 1978 bis 1987 ist das Reineinkommen pro Kopf von 315 Yuan auf 847 Yuan gestiegen, das war ein Zuwachs von 96%. 1988 erreichte das Nationaleinkommen pro Kopf 1052 Yuan.

Das Pro-Kopf-Einkommen der chinesischen Bauern wuchs noch schneller, von 134 Yuan im Jahre 1978 auf 545 Yuan im Jahre 1988, eine zweimalige Verdoppelung. Ein reichhaltiges Angebot materieller Güter erschien auf dem chinesischen Markt. Für die überwiegende Anzahl der chinesischen Bevölkerung ist das Problem der Ernährung und der Bekleidung bereits gelöst. Der gesellschaftliche Zustand modernen Massenkonsums ist im Entstehen. Im Vergleich zu der Zeit vor der Reform haben sich die chinesischen Produktionskapazitäten ziemlich stark erhöht. Von 1978 bis 1987 waren die Entwicklungsbedingungen des Besitzes an materiellen Gütern pro Kopf in China wie folgt: Getreide stieg von 195,9 kg auf 251,4 kg, ein Zuwachs von 28,6%;

pflanzliches Speiseöl stieg von 1,6 kg auf 5,66 kg, ein Zuwachs von 254 %;

Schweinefleisch stieg von 7,67 kg auf 14,54 kg, ein Zuwachs um 89,6%; frische Eier von 1,97 kg auf 5,56 kg, ein Zuwachs um 182%, Wasserprodukte von 3,5 kg auf 5,54 kg, ein Zuwachs von 58,3%; Zucker von 3,42 kg auf 6,66 kg, ein Zuwachs von 94,7%; Baumwollstoff von 8,03 m auf 11,3 m, ein Zuwachs von

40,7%. Die Wachstumsbedingungen des Pro-Kopf-Besitzes bei langlebigen Industrieprodukten des täglichen Bedarfs waren im untersuchten Zeitraum (1978- 87) wie folgt: Armbanduhren stiegen von 8,5 auf 42,8 Stück, eine Steigerung um das 4,03fache; Fahrräder stiegen von 7,7 auf 27,1 Stück, eine Steigerung um das 2,52fache; Ventilatoren von 1 Stück auf 10,4 Stück, eine Steigerung um das 0,4fache[soll wohl heißen 10,4fache oder 10 Stück statt 1 Stück B.G.];

Fernsehgeräte von 0,3 auf 10,7 Stück, eine Steigerung um das 25,7fache; Radios von 7,8 auf 24,1 Stück, eine Steigerung um das 2,09fache; Photoapparate von 0,5 Stück auf 1,5 Stück, eine Steigerung um das 2fache. Die rasche Geschwindigkeit, mit der in den achtziger Jahren der Lebensstandard modernisiert wurde, findet kaum ein Beispiel in der neuzeitlichen Geschichte Chinas.

Der andere Aspekt der oben angesprochenen Einschätzung besteht in der aufrichtigen Anerkennung der vorhandenen Probleme. Man könnte auch sagen, daß man sich ernsthaft mit den bis heute noch vorhandenen, nicht wegzuleugnenden Problemen der chinesischen Modernisierung ernsthaft befassen muß. Die chinesische Modernisierung kann in drei wesentliche Entwicklungsprozesse eingeteilt werden: 1. Der Prozeß der theoretischen Kritik am alten System; 2. Der Prozeß der praktischen Zerstörung des alten Systems; 3.

Der Prozeß der Errichtung eines neuen Gesellschaftsmodells. Die Angelegenheiten, mit denen sich die Reform der achtziger Jahre befaßte, gehören im wesentlichen zu den beiden ersten Prozessen, aber auch diese wurden in den achtziger Jahren nicht zu Ende geführt, es wurde nur ein Anfang gemacht. Der dritte Prozeß befindet sich noch in der Erprobung. Zu Beginn der chinesischen Reform hatten die Chinesen noch keinen reifen und zufriedenstellenden Entwurf zum Aufbau einer modernen Gesellschaft im Kopf, sondern reflektierten zunächst nur von den Übeln des alten Systems her und suchten nach einer Methode zu deren Lösung. Es mangelte jedoch noch daran, ausgehend von weiterreichenden Vorstellungen der Sozialforschung her den Charakter dieser Übel wissenschaftlich zu beurteilen und zu interpretieren. Deswegen zeigten sich einige Maßnahmen und Schritte der Reform in ihren Wirkungen und Effekten als sehr beschränkt und zeitweilig, was unvermeidlich „einen engen Horizont“ der entsprechenden Faktoren mit sich brachte. Auch Programme und Entscheidungen waren nicht frei von einer gewissen Kurzfristigkeit, was ein „kurzfristiges Handeln“ der Reform zu bestimmten Zeiten und unter bestimmten Bedingungen bewirkte. Durch diese Charakteristika im Reformdenken und Reformhandeln in der zehnjährigen Anfangsphase der Reform wurden eine Reihe von Problemen festgeschrieben, die notwendigerweise während der Reform der achtziger Jahre auftraten. Diese Problemen lagen hauptsächlich in den Bereichen:

1. Wirtschaft

Zwar gab es ein rasches Wirtschaftswachstum, aber es mangelte an einer effektiven Makrokontrolle der Wirtschaftsentwicklung; bis zu einem gewissen Grade wurde eine spontane Entwicklung gewährt. Es traten eine überhöhte Inflationsrate sowie vom Umfang her übertriebene Investitionen im Investbau auf.

Hinzu kam eine Lockerung der Wirtschaftspolitik, dies führte zu Erscheinungen wie einer bubble economy und Spekulationen in großem Umfang. Die Leistungsfähigkeit der wirtschaftlichen Produktion war nur gering, Energien und Rohmaterialien wurden in großem Umfang verschwendet, und eine große Menge an Produkten und Dienstleistungen war von minderer Qualität. Dies waren nicht allein ökonomische, sondern auch schwerwiegende soziale Probleme.

2. Politik

Obwohl die politische Reform sehr positive Resultate erzielte und angemessene Fortschritte machte, erschien sie doch im Vergleich zum Tempo der wirtschaftlichen Entwicklung etwas langsam. Im Zuge des Auflösungsprozesses der politisch-ethischen Totalität traten zwei Arten von Problemen auf. Zum einen konnte man keinen klaren Trennungsstrich zwischen dem alten politischen System und dem Ideal der gegenwärtig von den Chinesen angestrebten sozialen Beziehungen ziehen, mit dem Ergebnis, daß die Reform des politischen Systems nur schleppend vorankam. Zum anderen wurde die Notwendigkeit der Reform des alten politischen Systems dahingehend überzogen, daß die gesellschaftlichen Funktionen des gesamten politischen Systems vollständig negiert und blind Vorschläge zur Schwächung des politischen Feldes gemacht wurden. Auch die Delegation von Macht wurde einseitig eingeschätzt, deswegen wurden in einem bestimmten Ausmaß Anarchismus und Effektivitätsverluste der Verwaltung hervorgerufen, ebenso ein Ungleichgewicht in den Beziehungen zwischen Zentrale und Regionen. Was das weit ausgedehnte Territorium Chinas betrifft, so muß die Wirkungslosigkeit der Verwaltung und ein Ungleichgewicht zwischen Zentrale und Regionen schwerwiegende negative Einflüsse für die Entwicklung der Modernisierung hervorbringen. Der direkteste Einfluß bestand in der Behinderung der Herausbildung eines einheitlichen nationalen Marktes durch Formen von Lokalpatriotismus, den enormen Anstieg von Zirkulations- und Geschäftskosten, die Bedrohung und Verdrängung der Schlüsselindustrien durch Formen von Merkantilismus usw. Diese Umstände führten notwendig dazu, daß die gesellschaftliche Stabilität in Mitleidenschaft gezogen wurde und soziales Chaos entstand. Dies war für die Entwicklung der Modernisierung sehr ungünstig.

3. Sozialer Wandel

Da das alte Gesellschaftssystem allmählich zusammenbricht, treten alle möglichen ursprünglich vorhandenen gesellschaftlichen Elemente als unabhängige gesellschaftliche Kräfte auf. Bei den Diskrepanzen und Konflikten, die sich zwischen ihnen ohne organisierte Beziehungen herausbilden, kämpfen verschiedene soziale Interessen und Absichten unterschiedlicher gesellschaftlicher Elemente mit allen Mitteln darum, sich frei ausdrücken und ihren Besitz an sozialen Ressourcen weiter vergrößern zu können. Bevor in der Gesellschaft autoritäre Elemente mit ihren ganzen Fähigkeiten aufgetreten sind, befindet sich die Gesellschaft notwendig in einem relativ starken Chaos. Deshalb ist es in dieser Zeit ein großes Problem, wie (oder wodurch) man in der Gesellschaft eine vorläufige Harmonie all dieser Elemente erreichen kann. Unter diesen Umständen sind die Zuverlässigkeit sozialer Kontakte (gesellschaftliche Vertrauenswürdigkeit) und der Grad der Sicherheit des sozialen Lebens Angelegenheiten, an denen die Leute sehr interessiert sind.

4. Geistiges Leben der Menschen

Die Quelle der chinesischen Reform lag in der Überwindung der alten geistigen Wertvorstellungen, und die Reform selbst hat wiederum die geistigen Werte der Menschen noch weiter verändert und ihnen neue Wege erschlossen. Die Reform brachte viele Ideen und geistige Freiheiten mit sich, die mögliche Bedingungen für die Entfaltung der eigenen kreativen Fähigkeiten der Menschen schufen. Aber gleichzeitig bewirkte diese Situation der geistigen Befreiung, daß alle möglichen kulturellen Trends zum Tragen kamen und ihre Chancen ausweiteten. Altes und Neues, Inland und Ausland, Aktives und Passives, Positives und Negatives, Optimistisches und Pessimistisches, gesund Aufstrebendes und dekadent Untergehendes, usw., alles kämpfte um die vorhandenen Einflußsphären. Unter diesen Umständen existierten alle möglichen geistigen Strömungen und Trends nebeneinander, gerieten in Konflikt, vermischten sich..., sie wurden zu einem sozialkulturellen Komplex und beeinflußten jedes für sich das tägliche Leben der Menschen. Diese Mannigfaltigkeit des geistigen Lebens brachte zum einen die Vollständigkeit und Tiefe des geistigen Horizontes der Chinesen zum Ausdruck, der ein mögliches Sammelbecken für die Herausbildung eines modernen geistigen Niveaus bietet; aber zum anderen übten all die tendenziell nicht übereinstimmenden geistigen Strömungen mit ihren unterschiedlichen Orientierungen Einfluß auf die Menschen aus, was auch die Möglichkeit der Existenz von Kräften zum Ausdruck brachte, die den aktiven und konstruktiven kulturellen Orientierungen entgegenwirkten und sie negierten. Insbesondere unter sozialen Bedingungen, wo es den geistigen Strömungen an einer Gesamttendenz

aktiver Orientierungen mangelt, ist die Mannigfaltigkeit geistiger Strömungen in gewissem Sinne nicht von Vorteil für eine ideologische Mobilisierung zur Modernisierung. Will man diese Verhältnisse analysieren, so muß man daher sehr behutsam zu Werke gehen. Die in China gegenwärtig existierende Tendenz einer blinden Verwestlichung, die Tendenz, im kulturalisierten Wiedererstehen eines mystifizierten Altertums zu schwelgen, die Tendenz, sich an einer Kultur der Kulturschätze zu berauschen, dies alles sind ideologische Triebkräfte, die nicht von Vorteil für die Herausbildung der Modernisierung sind.

Die Lösung der angesprochenen Probleme ist offensichtlich von großer W ichtigkeit für eine reibungslose Entwicklung der chinesischen Modernisierung.

Ich bin der Auffassung, daß der Prozeß der Modernisierung selbst ein einheitlicher Entwicklungsprozeß ist, der Theorie und Praxis miteinander verbindet und wechselseitig vorantreibt. In diesem Prozeß kann man durch eigene Mühe und eigenes Nachdenken nach Problemlösungen suchen und passende Antworten finden. Aber dies ist kein spontaner, blinder Prozeß, er bedarf der bewußten Anstrengung unserer Sozialforscher. Von einer wahrhaften Lösung der Probleme und einem unausbleib-lichen Erfolg der chinesischen Modernisierung bin ich fest überzeugt.

Quellenhinweis

Die in diesem Beitrag angeführten Daten wurden alle aus veröffentlichten Forschungsberichten und Bulletins des Staatlichen Amtes für Statistik, der Staatlichen Plankommission, der Staatlichen Kommission für Außenwirtschaft und Außenhandel, der Staatlichen Kommission für die Reform des Wirtschaftssystems, des Forschungszentrums für sozialökonomische Entwicklung beim Staatsrat, der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften sowie weiterer einschlägiger Einheiten entnommen.

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