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5. Pädagogische Kompetenz des Hauptschullehrers

5.1. Zur Begriffsbestimmung

5.1.1. ZUM BEGRIFF

Der seit Ende der 60er Jahre in der Sozialwissenschaft gebräuchliche Begriff Kompetenz bezeichnet nach Chomsky ein kognitives Regelsystem, mit dessen Hilfe Handlungen generiert werden können. Kompetenz als kognitive Fähigkeit aber „betrifft keine sachliche Phänomenebene, sondern die Fähigkeit im Umgang mit Wissen selbst“ (Steig 2000, S.5). Indem Kompetenz also nach dem Kriterium der Wirksamkeit des Handelns und nicht nach dem Grad der Konformität mit Regeln der jeweiligen Ausbildungskultur beurteilt wird (vgl.

Bauer 1999, S.23), verweist sie neben der kognitiven Ebene auch auf affektive Fähigkeiten. Wirksam handeln lässt sich allerdings nur, wenn die gegebene Situation realistisch bewertet, d.h. verstanden wird. Reflexion in Verbindung mit entsprechenden Handlungsrepertoires weist Kompetenz nach.

Der Begriff der Kompetenz wird in der Erwachsenen- und Berufsbildung zunehmend in die vier Bereiche Sachkompetenz, Methodenkompetenz, soziale und personale Kompetenz gegliedert. Neben der Fähigkeit der sachgerechten Aufgabenbewältigung wird hier der Anspruch auf Verantwortungsbewusstsein und die Zuständigkeit explizit. Bezüglich der pädagogischen Kompetenz bedeutet dies, „dass eine Person dann für kompetent erachtet werden kann, wenn sie erstens fähig ist, die gegebene Aufgabe auf der Basis des hierfür grundsätzlich zur Verfügung stehenden Weltwissens, bezogen auf professionelle Kompetenz des Fachwissens, das in der Erziehungswissenschaft und deren Bezugsdisziplinen aufbereitet ist, zu bewältigen und zweitens auf der

Basis einer speziellen Berufsethik begründet weiß und entscheiden kann, was im jeweiligen Fall im wohlverstandenen Interesse der anvertrauten Klientel zu tun und zu unterlassen ist. Wenn diese beiden Bedingungen erfüllt sind, kann und muss der jeweiligen Person die Zuständigkeit für das erforderliche pädagogische Handeln zugesprochen werden.“ (Nieke 2002, S.16) Nieke expliziert vier Komponenten professioneller pädagogischer Kompetenz:

Gesellschaftsanalyse, Situationsdiagnose, Selbstreflexion und professionelles Handeln. Indem die spezifische Herausforderung des Hauptschullehrers sich auf die diffuse Beziehungsebene zu seiner Klientel erstreckt, muss hier besonders das professionelle pädagogische Handeln in den Fokus genommen werden.

Pädagogische Kompetenz im engeren Sinn bezieht sich im vorliegenden Kontext auf die erzieherische Fähigkeit des Lehrers. Sie umschließt hermeneutische und pragmatische Kompetenz, indem sie, geleitet von der Idee des Guten und orientiert an gesellschaftlichen Werten und Normen, das Handeln des Schülers unter Berücksichtigung seiner biographischen Situation und Herkunft interpretiert und in effiziente Aktionen zur Unterstützung der individuellen und sozialen Entwicklung des Heranwachsenden überführt.

5.1.2. PÄDAGOGISCHE HANDLUNGSEBENE DES HAUPTSCHULLEHRERS

Das schulisch-institutionell geregelte interaktive Zusammenwirken von Lehrer und Schüler mit dem Ziel der absichtlichen und geordneten Vermittlung fachlicher Inhalte, welche die Einwirkung auf das Erkenntnisvermögen eines anderen bezweckt, nennt man Unterricht. Die Auseinandersetzung mit dem Unterrichtsgegenstand wird von vielen Lehrern im Sekundarbereich – entsprechend Gieseckes Leitbild vom „professionellen Lernhelfer“ – als ihre ausschließliche Aufgabe angesehen. Ihrem Bestreben liegt die Auffassung

zugrunde, dass die Berufstätigkeit des Lehrers vom Bereich des Erziehers zu trennen sei. Dabei berufen sie sich häufig auf Herbarts synthetisches Modell vom „erziehenden Unterricht“ und suggerieren so, die individuelle Wissensvermittlung lasse sich bruchlos mit einer individuellen Gesinnungsförderung verschmelzen. Die verführerische Subsumierung der Erziehungs- in die Unterrichtsaufgaben ermögliche außerdem eine der Professionalisierung dienliche, klare Interpretation der Handlungskompetenz des Lehrers. Unterricht verrät schon durch seine Semantik ein geradliniges Procedere, „das von operationalisierbaren und taxonomisierbaren Zielen ausgehend die Wege dorthin programmiert, hierarchisiert und strukturiert“

(Gößling 2000, S.120). Das erzieherische Vorgehen dagegen ist geprägt durch Umwege, Unvorhersehbarkeit und Unplanbarkeit, es beinhaltet sensible Reflexion und Aktion. Seine Aufgabe besteht darin, den Heranwachsenden zu unterstützen, damit er seine Kenntnisse und Erfahrungen sinnvoll für seine Lebenspraxis nutzen kann. Erzieherisches Handeln kann sich mit Unterricht strukturbedingt nicht verschmelzen, aber es kann ihn bereichern, wobei es in dem Maße an methodischer Sicherheit verliert, in dem es auf die ganze Person trifft. Vor diesem Hintergrund offenbaren sich bei Herbarts Modell vom

„erziehenden Unterricht“ Grenzen. Zwar zielt seine die Sittlichkeit fördernde Absicht auf die ganze Persönlichkeit des Zöglings, bezüglich der Selbstbestimmung des Edukanden aber ist die intentionale Einwirkung beschränkt, da es hierfür keine klaren Richtlinien geben kann.

Ein Ergänzungsverhältnis von didaktischem und erzieherischem Handeln bestätigt zwar die Idee eines „erziehenden Unterrichts“ und erteilt der pauschalen Ablehnung der erzieherischen Dimension von Lehrerhandeln eine Absage, aber es spiegelt nicht die Schulwirklichkeit der Gegenwart. Unterricht und Erziehung lassen in der aktuellen Praxis kein wünschenswertes Ergänzungs-, sondern ein notgedrungenes, unplanbares Vermischungsverhältnis erkennen. Unterricht und Erziehung können als

absichtliches Miteinander nur gelingen, wenn die Schüler sich konstruktiv verhalten. Bei einem hohen Anteil von Störungen und Verweigerungen aber muss der Lehrer paradoxerweise im Interesse des Unterrichtsverlaufs den Unterricht immer wieder unterbrechen und erzieherisch wirken. Die hierfür notwendige Fähigkeit, verschiedene Handlungsebenen simultan aufrechterhalten und miteinander vernetzen zu können, basiert auf der Verfügung über zahlreiche Handlungsmuster, die in hoher Dichte im Unterbewusstsein gespeichert und von dort abrufbar sind, ohne das Bewusstsein zu belasten. Das bedeutet, „dass prozessbezogenes, implizites Wissen verwendet wird, welches aus bewusstseinsfähigen Kernen jeweils in der Situation entwickelt wird. Der Handlungsträger weiß, wie er handeln muss, ohne kausale Erklärungen oder präzise Beschreibungen der Zusammenhänge geben zu können.“ (Bauer 2002, S.53) Der Umfang des Problem lösenden Handlungsrepertoires korreliert mit der professionellen pädagogischen Sicherheit.

Die bereits ausführlich geschilderte prekäre Hauptschulsituation fordert vom Lehrer für die Funktionalisierung der erzieherischen Dimension zu Zwecken der Unterrichtsdurchführung sowie für das funktionierende Unterrichtsgeschehen hauptsächlich pädagogische Handlungskompetenzen. „Daraus folgt aber nun eine Radikalisierung und Verlagerung des Verhältnisses von Erziehen und Unterrichten, welche die Idee des „erziehenden Unterrichts“ gleichsam vom Kopf auf die Füße stellen.“ (Gößling 2000, S.122) Das Verhältnis von unterrichtender und erziehender Lehrertätigkeit verkehrt sich also, sodass man hier eher von einer „unterrichtenden Erziehung“ sprechen könnte. In dem Maße, in dem unterrichtsvorbereitende und -begleitende erzieherische Tätigkeiten zunehmen, wird der Unterricht selbst zurückdrängt. Durch die zahlreichen destruktiven Verhaltensweisen der aufgrund von Schulpflicht zum Schulbesuch gezwungenen Heranwachsenden schrumpft der Unterricht auf eine defizitäre Quantität und spielt im Stundenverlauf eine sekundäre Rolle. Die

soziokulturellen Bedingungen, an die Unterricht gebunden ist, erlauben es zu Beginn des dritten Jahrtausends nicht mehr, die pädagogische Handlungsfähigkeit des Lehrers in den Hintergrund erziehungswissenschaftlicher Reflexion zu verdrängen. Es geht nicht mehr um methodisch-didaktische Überlegungen zum Unterricht, sondern um pädagogische Maßnahmen für die Realisierung von Lehr-Lernprozessen. „Die Verquickung von Unterrichten und Erziehen auf der elementaren vordidaktischen Ebene bedeutet zum einen, dass Eingriffe und Interventionen vonnöten sind, um geordnete Unterrichtsabläufe zu ermöglichen, dass damit zum anderen das „Erzieherische“ darin besteht, Schüler in Lehr-Lernprozesse zu verwickeln, so dass erst sekundär die Frage aufkommt, inwieweit sie zur Förderung von Sach- , Sozial- und Selbstkompetenz beizutragen vermögen.“

(Gößling 2000, S.123) Die Herausforderungen des Hauptschullehrers lassen aus dieser sequentiellen Vorrangstellung der vordidaktischen Beziehungsebene auch eine qualitative werden. „Für Lehrerinnen und Lehrer an Hauptschulen sind Probleme mit den Schülerinnen und Schülern – entsprechend den Verhältnissen an diesem Schultyp – in besonderem Maße Anlaß für Unzufriedenheit, Beanspruchung und Leiden im Beruf.“ (Flaake 1989, S.212) Diese Beziehungsprobleme können soweit führen, dass der Lehrer infolge von pädagogischer Überforderung in Lethargie verfällt und von seinem geplanten Unterrichtsvorhaben ablässt, d.h. sich sowohl erzieherisch als auch didaktisch abstinent verhält und nur noch um das eigene Überleben kämpft.

Die pädagogische Handlungskompetenz des Hauptschullehrers entfaltet ihren Kernbereich also auf der vordidaktischen Beziehungsebene, indem sie Elemente von Erziehung und Unterricht im Sinne des Unterrichtsverlaufs möglichst effizient miteinander verquickt. Hierfür bedarf es neben der erwähnten hermeneutischen und pragmatischen Kompetenz einer hohen Sensibilität für pädagogische Situationen sowie der Fähigkeit, Beziehungen aufzubauen und gruppendynamische Prozesse zu lenken. Darüber hinaus

erfordert solche pädagogische Kompetenz eine realistische Selbstwahrnehmung des Lehrers, um Voreingenommenheit, Projektionen und Verdrängungen entgegenwirken zu können.