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2. Pädagogischer Auftrag

2.3. Schleiermachers Grundsätze für Kindheit und

2.3.3. Die Gegenwirkung

Alle Verhaltensweisen eines Menschen, die für den Erzieher von Bedeutung sind, resultieren aus Körper und Geist gemeinsam. Rein körperliche Erscheinungen betreffen den Bereich der Medizin, und rein geistige oder gesinnungsmäßige Phänomene können nur im Wort oder in der Tat bewusst werden. Gedanken und Gesinnung äußern sich durch Sprache und Handlung, also unter Beteiligung des Körpers. So stellt Schleiermacher fest: „Alles, worauf Gegenwirkung soll gerichtet werden, ist eine Mischung von Geistigem und Leiblichem.“ (Schleiermacher 1902, S.91) Er fragt sich nun weiter, ob die gängige Ansicht, dass der Geist vorherrschen solle über den Leib, für das ganze Leben gelte. Tatsache ist, dass schon zu Beginn des Lebens das Körperliche vorherrscht, da das Geistige noch wenig entwickelt ist.

Für die Pädagogik ist nun der Zeitpunkt von Bedeutung, an dem die geistige Entwicklung beginnt. Aber auch im späteren Leben gibt es einzelne Momente, in denen die körperlichen Bedürfnisse dominieren, z.B. beim Essen und Schlafen. Wir kennen also Zustände, in denen der Geist nicht über den Körper vorherrschen soll. Bei anderen Zuständen, wie Verdauung oder Ausruhen nach harter Arbeit, während derer man liest, träumt oder sich unterhält, gehen wir nur spielerisch mit dem Geist um. Diese „Zerstreuung“ ist nach Schleiermacher aber nur erlaubt, wenn sie notwendig ist, da sie als etwas „ethisch Negatives“

den Willen schwäche. „Jedes Übermaß von Zurücktreten der geistigen Funktionen und jede Vermischung der entgegengesetzten Charaktere erfordert durchaus pädagogische Gegenwirkung.“ (Schleiermacher 1902, S.94) Durch das Erscheinen des Willens tritt die Intelligenz hervor und eine neue Lebensperiode beginnt. Wenn dieser Wille schließlich dauerhaft das Leben bestimmt, ist der Mensch erwachsen.

Schleiermacher unterscheidet drei Lebensperioden: „Es giebt eine Periode, wo

der Wille noch nicht erscheint; eine andere, während der er sich entwickelt, und eine dritte, wo er ein Kontinuum geworden ist, und wo, wenn dies nicht der Fall ist, dies auf einen Mangel der Natur oder der pädagogischen Einwirkung zurückweist.“ (Schleiermacher 1902, S.95) Dieser Wille kann nun vollkommen oder unvollkommen sein, so wie auch die Ausführung, die sich ihm anschließt, vollkommen oder unvollkommen sein kann. Ist die Ausführung fehlerhaft, so kann man mit Übung helfen, wenn aber der Willensakt gestört ist, muss die Erziehung gegenwirken und die Störungen zu beseitigen versuchen.

Den Willen differenziert Schleiermacher in einzelne Willensakte, die auf die Momente zielen und den allgemeinen Willen, der sich auf das Lebensziel richtet und als Gesinnung bezeichnet wird. Die einzelnen Willensakte können mit der Gesinnung übereinstimmen oder aber auch differieren. Neben der Gesinnung und den Willensakten stehen die Fertigkeiten, die ebenso bei der pädagogischen Gegenwirkung immer beachtet werden müssen.

Im Bereich der Gesinnung des Menschen, die als die höchste Äußerung der Intelligenz die Kontinuität des intelligenten Lebens voraussetzt und erst in der dritten Lebensperiode einsetzt, kann durch Gegenwirkung nichts erreicht werden. Es stellt sich für Schleiermacher die Frage, ob die schlechte Gesinnung etwas Positives, Reales, oder etwas Negatives, Irreales, also ein Mangel an guter Gesinnung sei. In beiden Fällen könne nur die das Gute unterstützende pädagogische Tätigkeit Erfolg versprechend sein, da die Gegenwirkung den allgemeinen Willen seiner Komplexität wegen nicht zu verändern vermöge, lediglich einzelne Willensakte zu hemmen: „Auf allen Gebieten, wo von Gesinnung die Rede sein kann, werden wir auf das Dilemma einer positiven oder negativen Ansicht kommen, und die letztere wird überall nur unterstützende Thätigkeit voraussetzen, die erstere aber gegenwirkende verlangen und doch keine auffinden.“ (Schleiermacher 1902, S.99)

Die Gegenwirkung gegen die Ausführung einzelner Willensakte hat nach Schleiermacher seine sittliche Berechtigung, da zum einen die Fertigkeit der unrichtigen Handlungen verhindert und zum anderen die Umgebung keinem schlechten Einfluss ausgesetzt werde. Als mögliches sinnvolles Gegenwirkungsmittel nennt er die Scham hervorrufende Missbilligung, die jedoch immer spontan, handlungsbezogen und nicht distanziert, belehrend auftreten dürfe, da sie ansonsten wegen ihrer Künstlichkeit die pädagogische Absicht freilege und somit nicht mehr wirke. Johannes Schurr dagegen lehnt auch diese pädagogische Negativmaßnahme als ethisch wirkungslos ab: „Auch die gesellschaftliche Diskriminierung wäre kein Mittel, denn sie stößt als

„Äußerung der Mißbilligung“ nicht in das intellektuelle Zentrum der Gesinnung und verleitet außerdem dazu, schlechte Gesinnung durch scheinbar gesellschaftskonforme Taten zu verdecken.“ (Schurr 1975, S.409)

Die sittliche Dignität von Strafen und Belohnungen stellt Schleiermacher weitgehend in Frage, da sie sinnliche Motivationen hervorrufen. Der Zögling handelt aus Gefühlen heraus, aus Angst oder Freude, und nicht aus Überzeugung. Je ehrlicher und unmittelbarer eine pädagogische Maßnahme erfolgt, um so wirkungsvoller wird sie sein.

Gewalt lehnt Schleiermacher als Erziehungsmittel ab, da sie die Entwicklung eines Menschen blockiere. Die Rückentwicklung negativer Fertigkeiten, also physisch bedingter schlechter Gewohnheiten, könne man durch physische Gegenwirkung erreichen. Schleiermacher unterscheidet also zwei Arten der Gegenwirkung, die physische und die ethische. Jedoch lässt er die physischen Maßnahmen nur so lange zu, wie die ethischen noch nicht angewandt werden können, also im Bereich des Unbewussten. „Die physische Gegenwirkung wird bis dahin hinaufreichen, wo die Gesinnung sich schon in einzelnen Willensakten kund giebt; sie muß aufhören, sobald eine gewisse Gewalt und Herrschaft der Gesinnung über einzelne Willensakte erreicht ist.“ (Schleiermacher 1902,

S.104) Die Möglichkeit der ethischen Gegenwirkung nimmt also im Laufe der Entwicklungsstufen zu, die der physischen Gegenwirkung nimmt ab. „Die Erziehung fängt an mit einem Zustand, wo noch keine Gegenwirkung anwendbar ist; dann folgt ein solcher Zustand, wo nur physische Gegenwirkungen gebraucht werden können; dann beide, physische und mehr schon ethische Gegenwirkung in Anwendung kommen. Auf diesem Punkte teilen sich die Gegenwirkungen; denn was aus einem bewußtlosen Zustande herrührt, erfordert die physische Gegenwirkung; alles aber wobei sich der Wille manifestiert, verlangt die ethische Gegenwirkung. Und endlich wo das Bewußtsein vollkommen entwickelt ist und die Gesinnung bestimmt hervortritt, da hört auch die intellektuelle Gegenwirkung auf, es dominiert die unterstützende Thätigkeit.“ (Schleiermacher 1902, S.106)

Der Einsatz von Gegenwirkungen ist in den verschiedenen Lebensbereichen nicht gleichermaßen erforderlich. Die häusliche Erziehung sollte ohne Gesetze auskommen, da sie durch die natürliche ursprüngliche Basis der Familie nicht benötigt werden. Je größer und konstruierter jedoch eine Gemeinschaft ist, desto nötiger erfordert sie eine Ordnung. In der Schule muss es daher Regeln zum Wohle der Gemeinschaft geben, die jeder einzuhalten hat. Eine solche Gegenwirkung richtet sich zwar gegen kurzsichtige Wünsche, erscheint aber als Mitwirkung beim „gemeinsamen Suchen des Richtigen für das Kind“ (Flitner 1985, S.193).

Andreas Flitner erörtert das Problem der Gegenwirkung darüber hinaus mit Hilfe des Begriffs der Grenzziehung. Drei Bereiche, in denen für Kinder Grenzen zu ziehen sind, greift er dabei heraus; 1.) wo Gefahren drohen, 2.) dort, wo andere Menschen verletzt, geplagt oder gekränkt werden könnten, und 3.) da, wo die Persönlichkeitssphäre des einzelnen, auch des Erziehers, verloren ginge. „Es gibt Grenzen der Belastbarkeit, auch solche, mit denen wir unsere eigenste Sphäre bezeichnen, die das Kind um so leichter anerkennen

kann, je eindeutiger wir selber seine Sphäre, auch seine Ruhe oder sein Eigentum, respektieren.“ (Flitner 1985, S.107) Die Grenzziehung muss nach Flitner progressiv sein; sie beginne mit feinen Zeichen, es folge intensive Besprechung oder indirekt Weisung des richtigen Weges. Erst als letztes Mittel dürfe die Strafe angewandt werden, die nicht dem Täter sondern nur den Opfern diene. Grundsätzlich gelte dabei, mit feinen Mitteln zu strafen. Harte Strafen erzeugen harte Reaktionen, rohe Charaktere. Strafen müssen, „wenn sie denn überhaupt zur Erziehung eingesetzt werden und pädagogisch gerechtfertigt sein sollen, eine aufbauende Komponente haben, mit der sich die Verletzung der Grenze und die Verletzung der Beziehung überwinden läßt“

(Flitner 1985, S.111).

Wie der Einsatz der Behütung ist auch die Anwendung der Gegenwirkung nur zu rechtfertigen, wenn das primäre Erziehungsmittel, die Unterstützung, versagt hat. Indem moderne Kindheiten in zunehmendem Maß von Vernachlässigungen geprägt sind, muss auch von der Gegenwirkung häufiger Gebrauch gemacht werden. In der Schule z.B. ist im Interesse der Rechte der Mitschüler, aber auch für die Orientierung des sich fehl verhaltenden Schülers Gegenwirkung in Form von Grenzziehung notwendig. Die Wahrung von Gerechtigkeit und des richtigen Maßes erfordern hierbei vom Lehrer viel pädagogisches Geschick. Ein Schüler sollte möglichst seinen Regelverstoß erkennen und die daraus resultierenden Maßnahmen des Lehrers verstehen können. Der Verstoß gegen eine Regel sollte mit einer entsprechenden Regelzuführung beantwortet werden. Solch eine logische Folgerung beinhaltet im Gegensatz zur Strafe die von Schleiermacher geforderte unterstützende Wirkung, indem der Schüler den von ihm verursachten Schaden verringern oder beheben kann. So sollten Sachbeschädigungen repariert, Sozialverhalten geübt, Versäumnisse nachgeholt und nicht bestraft werden. Denn auch Gegenwirkung hat als sekundäres Erziehungsmittel nur zu Beginn eines Erziehungsvorgangs Berechtigung und im weiteren Verlauf in die grundsätzliche pädagogische

Tätigkeit der Unterstützung zu münden.