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5. Pädagogische Kompetenz des Hauptschullehrers

5.2. Elemente pädagogischer Beziehung

5.2.1. Der Pädagogische Bezug

Die wohl grundlegendste Voraussetzung der personalen pädagogischen Kompetenz ist der pädagogische Bezug, er ist „konstituierend für die Erziehungswirklichkeit und die Theorie“. (Furck 1971, S. 849) In der Komplexität schulpädagogischen Handelns ist der pädagogische Bezug ein bestimmendes Strukturelement von zeitunabhängiger Gültigkeit. Nach Herman Nohl, welcher bis heute unübertroffen die Qualität des erzieherischen Verhältnisses als

„Pädagogischen Bezug“ theoretisiert hat, handelt es sich dabei immer um eine zwischenmenschliche Beziehung, die sich an der Hochschätzung des Individuums orientiert. Das Wesen erzieherischer Absicht ist nicht die Anpassung eines willenlosen Geschöpfes an die Interessen der älteren Generation, sondern die Entwicklung eines für seine eigenen Belange produktiven Subjekts. Die Kunst des Pädagogen besteht darin, alle seine Aufgaben zunächst im Namen des Kindes zu verstehen, also stellvertretend zu deuten. „In dieser eigentümlichen Umdrehung, die man sich in ihrer vollen Bedeutung vor Augen stellen muss, liegt das Geheimnis des pädagogischen Verhaltens und sein eigenstes Ethos.“ (Nohl 1988, S. 160) Pädagogische Liebe im Sinne Pestalozzis und gegenseitiges Vertrauen als Voraussetzungen für den pädagogischen Bezug begründen seine Unbezweckbarkeit. Das Prozessuale der Pädagogik – sie „hat das Ziel, sich selbst überflüssig zu machen und zur

Selbsterziehung zu werden“ (Nohl 1988, S. 166) – bewirkt die Veränderung des pädagogischen Bezugs, „sie geht auf Abkürzung des Gehorsams, nicht auf seine Verlängerung“. (Nohl 1988, S. 176) Die dialektische Sichtweise Schleiermachers beleuchtet die Gegenwart und Zukunftsbedeutung des pädagogischen Bezugs. „Das Verhältnis des Erziehers zum Kind ist immer doppelt bestimmt: von der Liebe zu ihm in seiner Wirklichkeit und von der Liebe zu seinem Ziel, dem Ideal des Kindes.“ (Nohl 1988, S. 171) Das den pädagogischen Bezug bestimmende Verhältnis zwischen Erzieher und Zögling zeichnet sich durch Gleichheit und Gegensätzlichkeit aus: „Liebe und Autorität“

des Lehrers steht „Liebe und Gehorsam“ (Nohl 1988, S. 174) des Schülers gegenüber, wobei „Gehorsam“ hier als „freie Aufnahme des Erwachsenenwillens in den eigenen Willen“ (Nohl 1988, S. 175) verstanden werden soll. Missverständnissen vorbeugend führt Nohl hierzu weiter aus: „es ist oder war bis vor kurzem noch modern, den Gehorsam zu verleugnen, weil er mißbraucht werden kann, aber alle großen pädagogischen Denker und zwar auch die des Liberalismus, Kant, Herbart und Schleiermacher, von Hegel ganz abgesehen, haben seine Bedeutung für die Erziehung erkannt und betont. Kant meinte, der Gehorsam sei der Charakter des Kindes.“ (Nohl 1988, S. 176) Obwohl der personale Aspekt beim pädagogischen Bezug den Vorrang hat, gewinnt mit zunehmendem Alter der Heranwachsenden der inhaltliche Aspekt an Bedeutung. Die unzeitgemäßen Begriffe auf die Gegenwart transformierend lässt sich das Beziehungsverhältnis zwischen Lehrer und Schüler im Sinne Nohls etwa folgendermaßen interpretieren: „Achtung und Anleitung“ des Lehrers steht „Achtung und Befolgung“ des Schülers gegenüber, wobei

„Befolgung“ die freiwillige Unterordnung vorauszusetzen hat.

Die bisherigen Ausführungen Nohls lassen seine hohe Erwartungshaltung an den Lehrer schon ahnen. Das Ziel, sich selbst überflüssig zu machen, setzt beim Lehrer viel Ich-Stärke und daraus resultierende Selbstdisziplin voraus.

Außerdem wird von ihm auch in Krisenzeiten die Repräsentation ethischer

Werte verlangt, wobei er aber immer auch die Individualität des Schülers zu respektieren hat. Erich Weniger, der den pädagogischen Bezug als Kern der pädagogischen Autonomie betrachtet, weist diesbezüglich auf folgende Bedeutsamkeiten hin: Er propagiert den absoluten „Vorrang der Herstellung des pädagogischen Bezuges“ auch in Problemsituationen als „Dennoch“ des pädagogischen Tuns. Die pädagogische Liebe, die das richtige Maß an Nähe und Distanz zu wahren hat, beschreibt Weniger als „ein interesseloses Interesse des Erziehers, eine uninteressierte Liebe zu dem Menschen in seiner Einmaligkeit und Fragwürdigkeit“. Die notwendige Bescheidenheit des Lehrers formuliert er als „Freude am Gelingen der pädagogischen Bemühung in der kleinen momentanen Erfüllung“. (vgl. Weniger 1975, S. 18) Die Erziehungsverantwortung des Lehrers umschreibt er mit „Wächter des Tores“, der darauf zu achten hat, dass „von allen Mächten, die Erziehungsforderungen stellen, ein Verzicht auf ihren Machtanspruch, ihr Bildungsgehalt“ abverlangt wird. (vgl. Weniger 1975, S. 22)

Wilhelm Flitner definiert den pädagogischen Bezug zwischen Lehrer und Schüler als ein von Institutionen abgesichertes Verhältnis auf Zeit. „Die Einrichtungen stellen Ordnungen dar, die dem erzieherischen Bezug eine Dauer sichern und ihn auch da festhalten, wo er nicht lebendig erfüllt werden kann - sie sichern ihn gegenüber der Schwachheit des Geistes“. (Flitner 1975, S. 72) Neben den Institutionen misst Flitner den Erziehertypen eine Bedeutung für den pädagogischen Bezug bei. Die vier Typen – sozialer, realistischer, humanistischer und seelsorgerlicher Typ – , deren Existenz er aufgrund der unterschiedlichen altersbedingten Bedarfssituationen der Schüler für gerechtfertigt hält, gleichen seiner Meinung nach ihre unzulängliche Einseitigkeit durch ihre Kombination an einer Schule wieder aus. „Es tröstet zu wissen, dass einerseits das Zusammenwirken verschiedener Erziehertypen, denen durch Einseitigkeit Fehlformen entsprechen, in pädagogischen

Institutionen notwendig ist und dass anderseits die verschiedenen Altersstufen unterschiedliche Erziehertypen verlangen.“ (Flitner 1975, S. 79f)

Theodor Litt sieht den pädagogischen Bezug weiträumiger, indem er ihn aus der Perspektive des Verhältnisses von „Führen oder Wachsen-lassen“ zu ergründen versucht. Seine pädagogische Maxime lautet: „In verantwortungsbewusstem Führen niemals das Recht vergessen, das dem aus eigenem Grunde wachsenden Leben zusteht – in ehrfürchtigem, geduldigem Wachsen lassen niemals die Pflicht vergessen, in der der Sinn erzieherischen Tuns sich gründet“. (Litt 1976, S. 82) Litt weist außerdem darauf hin, dass die Pädagogik unter dem Einfluss „überpersönlicher Mächte“ steht und spricht ihr somit eine Autonomie ab. „Jede, auch die geringfügigste erzieherische Handlung ist durchwirkt von Beziehungen, die über die Grenzen dieses

„interpersonalen Verhältnisses hinausführen.“ (Litt 1976, S. 117) Vom Erzieher erwartet er das Bewusstsein und die Akzeptanz der pädagogischen Beeinflussung durch Wissenschaft, Religion, Staat, Gesellschaft und Kunst sowie bei der Vermittlung von Inhalten das stete Bemühen um Objektivität, welches die Professionalität des Lehrers ausmacht.

Wolfgang Brezinka warnt vor einer Überschätzung der Wirkung des pädagogischen Bezuges als intentionale Erziehungskraft, da die funktionale Erziehung durch das soziale und kulturelle Umfeld den Heranwachsenden mindestens ebenso stark beeinflusse. „Die bildende Kraft, die von geschlossenen Gruppen und ihrer verpflichtenden Ordnung des Lebens ausgeht, lässt sich durch eine Steigerung der direkten Kontakte zwischen Erzieher und Kind nicht ersetzen.“ (Brezinka 1963, S. 247) Mit Recht mahnt Brezinka hier zur Bescheidenheit, jedoch dürfen erfolgshinterfragende Bedenken den optimistischen Einsatz notwendiger Erziehungsmaßnahmen in der Schule nicht behindern. In einer Zeit, in der die funktionale Erziehung die Entwicklung des jungen Menschen in Form von pädagogischen

Vernachlässigungen schädlich beeinflusst, ist die intentionale Erziehung aufgefordert kompensatorisch zu wirken, d.h. alles zu versuchen, den Heranwachsenden in seinem menschlichen Werdegang zu fördern. „Überall ist gefordert, daß zunächst einmal da, wo uns Kinder und junge Menschen anvertraut sind, ein erzieherisches Verhältnis in die Wege geleitet, ein pädagogischer Bezug hergestellt werde, damit wenigstens etwas geschehe.“

(Weniger 1964, S. 362f)

In Zusammenhang mit der Autoritätsthematik innerhalb der „kritischen Theorie“

der Frankfurter Schule wurde der pädagogische Bezug als anachronistisch abgestempelt, da in ihm Erziehungsziele wie Kritikfähigkeit und Eigenständigkeit zu wenig angestrebt würden. Der prozesshafte Charakter des pädagogischen Bezugs aber, der letztlich auf dessen Auflösung hinstrebt, verweist dadurch geradezu auf die Abnabelung und Verselbständigung des Jugendlichen. Da Kritikfähigkeit als die Fähigkeit des sachlichen Abwägens die Aufnahme von Wissen voraussetzt, kann ihr der pädagogische Bezug nur hilfreich sein, indem er die für Bildungsprozesse förderliche Beziehungsebene liefert.

Auch die Forderung Nohls nach personaler Repräsentation wurde von Vertretern des Operationalismus der Sozialwissenschaften als Überforderung des Lehrers heftig kritisiert, da sie wissenschaftlich weder wahrnehmbar noch lehrbar sei. Die Tatsache, dass akademische Lehre keine grundsätzliche Persönlichkeitsbildung bewirken kann, darf aber nicht zur Missachtung der Persönlichkeitsdimension in der Erziehung führen. Die Alltagserfahrung belegt, dass erzieherische Effekte in bestimmten Aspekten der Lehrerpersönlichkeit begründet liegen. Wenn „die Repräsentation des höheren Lebens vor dem Zögling“ (Nohl 1988, S. 168) nicht als Inkarnation allmächtigen Seins verstanden wird, sondern als die authentische Präsentation einer höheren

Bewusstseinsstufe, so erfüllt sie geradezu die Voraussetzung für den pädagogischen Bezug.

Die verhältnismäßig einfache Widerlegbarkeit der Kritiken an dem pädagogischen Bezug sowie die Erfahrungen in der Praxis belegen, dass gerade in einer Zeit, in der autoritäre Verhaltensweisen abgestreift werden, pädagogische Erfolge nur über einen personalen Bezug zu erzielen sind. Durch die hohen erzieherischen Anforderungen, denen ein Lehrer heutzutage ausgesetzt ist, spielt der pädagogische Bezug in der Schule eine wichtige und in der Hauptschule eine entscheidende Rolle.

Voraussetzung für die Anbahnung des pädagogischen Bezugs ist die personale Zuwendung an den einzelnen Schüler infolge von pädagogischer Achtung, auch oder gerade an den verhaltensauffälligen. Diese emotionale Basis entspringt persönlichkeitsbedingten Qualitäten, deren intentionale Herbeiführung bis heute nicht möglich ist. Optimismus bezüglich der personalen Entwicklung des Schülers, Freundlichkeit in Sprache, Mimik und Gestik, pädagogischer Takt, Konsequenz, Gerechtigkeit, Geduld und Humor sowie natürliche Autorität seien als die wichtigsten Persönlichkeitsmerkmale genannt, die ein Lehrer für die Schaffung einer entspannten und herzlichen Klassenatmosphäre benötigt. Die gegenseitige Achtung als Basis des pädagogischen Bezugs schließt menschliche Gleichgültigkeit aus und fördert das Selbstvertrauen, wodurch wiederum gelegentliche Misserfolge besser toleriert werden können.