• Keine Ergebnisse gefunden

4. Spezielle Hauptschulprobleme

4.3. Aspekte der Hauptschullehrertätigkeit

Die Bedürftigkeit heutiger Hauptschüler nach vertrauensvollen Bezugspersonen ist ebenso Realität wie die Wahrnehmung, „daß die persönliche Zuwendung von Seiten der Lehrer in dieser Altersphase nachläßt“ (Fend 1996, S. 102). In der Pubertät führen altersbezogene Veränderungen im Disziplinbereich zu rüpelhaftem Verhalten gegenüber Lehrern. Auch ohne Versagungen aufgewachsene Jugendliche ergehen sich in „aufmerksamkeitserzeugenden Selbstpräsentationen, die Angriffe und Abwehrhaltungen gegenüber der Erwachsenenwelt, insbesondere gegenüber Lehrern, enthalten.“ (Fend 1996, S.

242) Dieses überzogene Auftreten nach außen dient jedoch nur dem Zweck, die inneren Unsicherheiten zu überdecken. Ein gedrücktes Selbstgefühl, Zweifel an der Selbsteinschätzung, Kritikanfälligkeit und Empfindlichkeit sind genauso typische Pubertätsmerkmale wie Kritikfreudigkeit, Selbstbezogenheit und Abwendung von Bezugspersonen. „Aus diesem Zwischencharakter resultiert auch die Diskrepanz zwischen der häufig beobachteten mimosenhaften Verletzbarkeit dieser Altersphase und der zur Schau gestellten Arroganz.“

(Fend 1996, S. 249) Die spezifische Verletzbarkeit des Jugendlichen sowie seine immensen Identifikationsbedürfnisse erfordern ein besonderes pädagogisches Feingefühl. Treffen jedoch diese typischen pubertären Entwicklungsphasen mit einem zerstörten Selbstwertgefühl zusammen, kommt es meist zu einer Potenzierung des Ambivalenzverhaltens. Ein tief verwurzeltes und gut genährtes Unwertgefühl provoziert in der Pubertät häufig ein besonders aggressives, die seelischen Nöte verdeckendes Verhalten. Die kritische Distanz gegenüber Erwachsenen lässt den beziehungsgeschädigten Jugendlichen nicht mehr offen um Anerkennung buhlen, sondern zur eigenen Selbstwerterhöhung

trotzig darauf verzichten. In Folge vieler Enttäuschungen empfindet er Verachtung für Erwachsene und meidet zur Bestätigung seines Vorurteils die Achtung jener. Wer nichts mehr zu verlieren hat, empfindet in der offensiven Konfrontation, gerade mit Vorgesetzten, befreiende Gefühlsmomente.

Die Reaktion auf solche Verhaltensanomalien verlangt nach außergewöhnlicher sozialpädagogischer Kompetenz und Einsatzbereitschaft sowie eine quantitativ und qualitativ enge, vertrauensbildende Beziehung, wie sie nur das Klassenlehrerprinzip ermöglichen kann. Ein Klassenlehrer „ist ganz besonders in der Vorpubertät und der Pubertät vonnöten, also für elf- bis 16-jährige. Er gibt zwar auch Unterricht, vor allem aber mag er Kinder und Jugendliche, bejaht ihre Gefühlsäußerungen, interessiert sich für ihre Konfliktsituationen und hilft ihnen dabei, sie zu bewältigen.“ (Struck 1996b, S. 258) Jedoch nicht zu jeder Zeit und an jedem Ort! Während des Unterrichts muss der Klassenlehrer die Verhaltensweisen einfordern, die für einen produktiven Unterricht im Interesse aller unabdingbar sind. Die dem Zeitgeist der 70er und 80er Jahre entsprechende Meinung, die Schüler müssten ihre in die Schule mitgebrachten Probleme auch ausleben dürfen, produziert geradezu die Verwahrlosung öffentlichen Verhaltens. „Wenn die Schule in falsch verstandener Anbiederung... Schimpfkanonaden und andere Verbalaggressionen“ – oder gar körperliche Auseinandersetzungen (Anmerkung des Verfassers) – „in Gegenwart von Lehrern oder gar während des Unterrichts hinnimmt, verhält sie sich nicht etwa „kindgerecht“, sondern verwahrlosend und betrügt die Schüler um wichtige Sozialerfahrungen.“ (Giesecke 1996b, S. 207f) „Anstatt, wie der Zeitgeist nahelegt, auf die Gesinnung zu zielen - „seid lieb zueinander!“ - , wäre auf diese soziale Differenz aufmerksam zu machen. Dies nicht zu leisten und zur Not auch rigoros durchzusetzen ist pädagogisch unentschuldbar.“

(Giesecke 1996b, S. 210) Die Schüler selbst fordern Lehrer mit Führungsqualitäten, da sie während ihrer Schullaufbahn erfahren haben, dass für einen produktiven Unterricht konsequentes Einhalten von Regeln, die

Bewahrung von Ordnung und das Unterbinden von Disziplinlosigkeit notwendig sind. So entwarf eine Untersuchung zum Lehrerbild bei Hauptschülern der 9.

Jahrgangsstufen im Raum Nürnberg von Oskar Seitz folgendes Lehrerwunschbild: „Zusammenfassend können wir die Ergebnisse unserer Erhebung dahingehend interpretieren, dass sich Hauptschüler durchaus einen Lehrer mit Führungsqualitäten wünschen - aber nicht bedingungslos:

Verständnis und Akzeptanz sind in Einstellung und Verhalten gefordert; wenn die Schüler dem Lehrer Vertrauen entgegenbringen können, erkennen sie ihn auch als Autorität an. Hauptschüler fordern Lenkung, lehnen aber Gängelei ab;

der Hauptschüler muss als Mensch im Vordergrund der Unterrichts- und Erziehungsarbeit stehen, nicht als Befehlsempfänger und nicht als Stoffvertilger oder anonyme Leistungsvariable.“ „Aufgesetzte Kumpelhaftigkeit, distanzlose Nähe, plumpe Anbiederung sind bei Hauptschülern nicht gefragt. Insgesamt ist also der Lehrer, der Liebe und Strenge, Zuwendung und Abwendung, Nähe und Distanz in je situativer Abhängigkeit zu realisieren vermag, ohne grundsätzlich die personale Würde des Schülers zu verletzen, der ideale Typus, der von Hauptschülern gewünscht wird. Wir entdecken darin eine vielleicht spezifische Nuance des Hauptschülers, wenn in dieser Deutlichkeit didaktische und Leistungsvariablen zurücktreten.“ (Seitz 1996, S. 114f). Die Hauptschule benötigt infolge der zunehmenden Bedürftigkeit ihrer Schüler einsatzfreudige und einfallsreiche Lehrer, „die bereit sind, ihren Beruf als einen des Zusammenlebens mit ihren Schülern zu verstehen, die die ihnen anvertrauten jungen Menschen ein Stück deren Lebens begleiten wollen und Unterricht für sekundär halten, obwohl er ihnen meist wesentlich besser gelingt als denjenigen Lehrern, die weder in der Lage noch bereit sind, sich über ihre fachwissenschaftliche Kompetenz hinaus zu engagieren“. (Struck 1997, S. 285) Die Bündelung fachwissenschaftlicher und sozialpädagogischer Kompetenzen würde sich zwar auch theoretisch durch die Addition verschiedener Fachleute erreichen lassen, jedoch scheitert diese in der Praxis an dem hohen Vertrauensanspruch Jugendlicher. Hauptschüler brauchen „die Bündelung

möglichst vieler pädagogischer Kompetenzen in möglichst wenigen Bezugspersonen“ (Struck 1996a, S. 203), da ihr Verhalten nur innerhalb einer vertrauensvollen Beziehung positiv beeinflusst werden kann. Das belegen die Ergebnisse mehrerer Erhebungen pädagogisch-psychologischer Vertrauensforschung, indem sie feststellen, „daß interpersonales Vertrauen zur Verhinderung sozial abweichenden Verhaltens im pädagogischen Feld beitragen kann“ und „daß viele Erziehungsprobleme mit unzureichenden Vertrauensverhältnissen verbunden sind“. (Schweer 1996, S. 43)

Da der in der Hauptschule unterrichtende „Rest“-Lehrer sich – im Gegensatz zum Gymnasial- und Realschullehrer – nicht mehr mit restriktiver Abschiebetaktik nach unten unbequemer Schüler entledigen kann, ist er auf Gedeih und Verderb seiner pädagogischen Kompetenz ausgeliefert.

Pädagogische Fähigkeit und pädagogische Motivation erfordern als pädagogisches Können und pädagogisches Wollen für den interpersonalen Umgang mit den Hauptschülern als dem maßgeblichen Handlungsfeld eine sozialpädagogische Ausrichtung, um die Herausforderungen erfolgreich bestehen zu können.

5. PÄDAGOGISCHE KOMPETENZ DES