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Zu aktuellen Veränderungen in der ostdeutschen Wissenschaftslandschaft

Die ostdeutsche Wissenschaftslandschaft befindet sich in der Transformation von einem relativ selbständigen "nationalen Wissenschaftspotential" in ein regionales Teilpotential der Wissenschaft im vereinten Deutschland. In der Konsequenz bedeutet dies aber nicht nur Veränderungen des bisherigen Wissenschaftssystems in Ostdeutschland; es läßt sich vielmehr bereits jetzt absehen, daß - bedingt durch die vielfältigen Verflechtungen zwischen regionalen Wissenschaftssystemen - mit der Herausbildung und Neugestaltung

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einer gesamtdeutschen Wissenschaftslandschaft unweigerlich auch Veränderungen in den westdeutschen Ländern auftreten werden. Die weitergehende Überlegung ist die, daß wir es hier gewissermaßen mit einem Präzedenzfall der neuen Situation in Europa zu tun haben. Schließlich befinden sich auch die bisherigen nationalen und regionalen W issenschaftssysteme der Länder Osteuropas im Umbruch. Die dort ablaufenden Veränderungen können gar nicht ohne Einfluß auf die Integration der W irtschafts- und Wissenschaftssysteme in Westeuropa bleiben; insofern kann man durchaus gewisse Parallelen zwischen der Herausbildung einer neuen gesamtdeutschen W issenschaftslandschaft und der später nachfolgenden bzw. angestrebten Herausbildung einer integrierten gesamteuropäischen Wissenschaft unter Einschluß der osteuropäischen Länder ziehen.

Unser Ausgangspunkt ist die relative Ganzheitlichkeit einer nationalen oder regionalen W issenschaftslandschaft als ein funktionierendes System. Dabei kann m an nicht nur die Spezifik der erwähnten drei großen Sektoren (Wirtschaft, außeruniversitäre Forschung, Universitäten/Hochschulen) und deren Unterschiede sehen; man muß auch deren inneren Zusammenhang und ihre gegenseitige Abhängigkeit berücksichtigen, die insbesondere au f einer funktionellen Arbeitsteilung zwischen den einzelnen Institutionen und den sich daraus ergebenden innerwissenschaftlichen Reproduktionszyklen beruhen. In Ostdeutschland tritt gegenwärtig das Problem auf, daß alle drei Sektoren gleichzeitig gravierenden Veränderungen unterliegen. Diese Veränderungen betreffen sowohl die Tätigkeitsfelder und das soziale Umfeld jedes einzelnen Wissenschaftlers, sie erfassen aber auch jed e einzelne Forschungsgruppe, jedes Institut und deren Trägerorganisationen.

Hinzu kommt, daß auch die "Umwelt" des Wissenschaftssystems im nationalen und internationalen Rahmen sich in grundlegender Umwälzung befindet. Das betrifft in Ostdeutschland insbesondere solche Bereiche wie das Wirtschaftssystem (Planwirtschaft zu M arktwirtschaft), die politische Sphäre (Demokratisierung) und selbst die regionalen Verwaltungsstrukturen und Zuständigkeiten (Übergang zum föderalen System mit differenzierter Länder- und Bundeskompetenz). Die größtenteils unkoordiniert verlaufenden Prozesse haben dazu geführt, daß das frühere Gesellschaftssystem der DDR beseitigt und in zwei bis drei Jahren institutionell eine völlig neue Landschaft in Ostdeutschland geschaffen worden ist. Dies trifft auch auf die Wissenschaft zu, in der neben ganz neuen FuE-Institutionen in der Wirtschaft und im außeruniversitären Bereich auch die erhaltenen Universitäten und Hochschulen durch interne Umstrukturierungen und Neuprofilierungen verändert werden.

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Durch diese institutionellen Veränderungen bzw. Strukturbrüche auf allen Ebenen treten nicht nur einmalige, zeitlich überschau- und eingrenzbare Veränderungen auf. Die z. T.

zeitlich versetzt bzw. m it unterschiedlicher Geschwindigkeit und Tiefe verlaufenden Prozesse in den einzelnen Sektoren beeinflussen sich gegenseitig, wobei z. T.

widersprüchliche Effekte auftreten. Für die Wissenschaft insgesamt sind dabei hinsichtlich des Umfangs der für sie eingesetzten Ressourcen vor allem negative Wirkungen eingetreten, wie am Beispiel des FuE-Personals gezeigt werden kann.1 Das FuE-Personal wurde a u f ein Drittel, in einzelnen Sektoren und Bundesländern au f noch weniger reduziert. Trotz einer Reihe stabilisierender und belebender Ansätze, insbesondere in Form von Förderprogrammen des BMFT und des BMWi, ist eine generelle Trendwende in diesem Abbauprozeß noch nicht in Sicht (vgl. Abb. 2).

Abb. 2: Anzahl des FuE-Personals in Ostdeutschland nach Sektoren (eigene Berechnungen und Schätzungen)

(Tsd. Personen in Vollbeschäftigteneinheiten (VbE) berechnet) 1

1 Die Anzahl des FuE-Personals wird hier als ein grober und vorläufiger Indikator für die Charakterisie­

rung von Strukturen in Foischungssystemen gebraucht. Es gibt keinen Zweifel daran, daß die Leistungs­

fähigkeit von FuE in der DDR gegenüber der in der Bundesrepublik Deutschland deutlich geringer war, als es die Relationen des FuE-Personals beider Staaten zum Ausdruck bringen. Zu den leistungsbe­

stimmenden Faktoren gehören neben den Wissenschaftlern und dem übrigen Personal auch sachliche, informelle, finanzielle und andere Mittel der Forschungstätigkeit; letztere bildeten einen Schwachpunkt der Forschungsvoraussetzungen in der DDR wie in allen ehemals sozialistischen Ländern.

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Nach dieser vorläufigen Übersicht wird 1993 lediglich noch ein Drittel des früheren FuE- Personals der DDR weiter in wissenschaftlichen Einrichtungen aller drei Sektoren tätig sein, jedoch oft m it sehr unsicheren Perspektiven. Ein zweites Drittel ist bereits aus einer wissenschaftlichen Tätigkeit gänzlich ausgeschieden, insbesondere durch den Übergang in den vorzeitigen Ruhestand, in andere Tätigkeitsfelder oder in Arbeitslosigkeit. Schließlich gibt es noch ein weiteres Drittel, das bis jetzt durch Übergangsregelungen in einer "Warte­

oder Parkposition" gehalten werden konnte. Das weitere Schicksal dieses Drittels wird davon abhängen, ob und wie es zu einer wirtschaftlichen Belebung im Osten kommt und dadurch wieder ein Bedarf für FuE-Personal entsteht.

Institutionelle Neugestaltung und personelle Reduzierung haben inzwischen zu einer weitgehenden Unterbrechung der traditionell gewachsenen regionalen und internationalen (insbesondere im Rahmen des früheren RGW) Netzwerke der Wissenschaft der neuen Bundesländer sowie zwischen ihr und der Wirtschaft geführt. Man kann es auch so ausdrücken, daß sich in Ostdeutschland noch kein funktionierendes neues regionales W issenschaftssystem aus dem früheren "nationalen Wissenschaftspotential" der DDR gebildet hat, so daß hier z.Zt. mehr oder minder große und funktionierende Reste früherer Potentiale vorhanden sind. Diese Veränderungen von Verflechtungen lassen sich nur schwer messen, und sie haben bisher auch wenig Beachtung gefunden. Ihre Auswirkungen werden jedoch die Entwicklung von FuE in dieser Region längerfristig beeinflussen, so daß die Erhaltung, Erneuerung und Erweiterung von internen und externen Kommunikations- und Kooperationsbeziehungen der ostdeutschen Wissenschaft ein spezielles Problem darstellt, das auch in der Wissenschaftsforschung besondere Beachtung verdient2.

Als ein erstes Zwischenergebnis kann festgestellt werden, daß in der ostdeutschen W issenschaft zw ar der beabsichtigte Institutionentransfer von West nach Ost weitgehend realisiert, aber noch nicht abgeschlossen ist. Es zeigt sich aber immer deutlicher, daß der Institutionentransfer allein keine adäquate Übertragung bundesdeutscher Verhältnisse, einschließlich der dort bewährten quantitativen Proportionen zwischen den verschiedenen Strukturelementen des Potentials und der daraus erwachsenden spezifischen Leistungsfähigkeit von Wissenschaft und Wirtschaft, bedeutet. Im Gegenteil zeichnen sich

2 Hier sei nur darauf verwiesen, daß wir es in der Wissenschaftsforschung, die in der ehemaligen DDR relativ gut entwickelt und vor allen Dingen stark institutionalisiert war, mit ähnlichen Erscheinungen zu tun haben. Die Vorbereitung dieser Konferenz hat dies mit aller Deutlichkeit gezeigt. Eines ihrer wichtigen Anliegen besteht gerade darin, die unbefriedigende Situation auf diesem Gebiet zu überwinden (vgl. dazu den Beitrag von Müller-Hartmann/ Schlese in diesem Tagungsband).

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nun, ausgehend von diesen Veränderungen im Osten, immer deutlicher Probleme auch für die Wissenschaft in den alten Bundesländern ab. Da im Osten noch kein sich selbst tragendes neues regionales Innovations- und Wissenschaftssystem entstanden ist, stellt die Finanzierung selbst dieses stark geschrumpften Potentials eine zunehmende Belastung dar, die u.a. durch Mittelkürzungen für die Wissenschaft in den alten Bundesländern aufgefangen werden soll. Durch die zumindest finanziell unvermeidbare Einbindung des ostdeutschen Potentials in die langfristig entstandenen, aber auch nur relativ ausgewogenen Reproduktionsbeziehungen in den alten Bundesländern wird das dort mühsam erreichte dynamische Gleichgewicht (Hohn/Schimank 1990) bereits empfindlich gestört.

Als Fakten, die zugleich entscheidende Einflußfaktoren sind, seien hier die unausgewogene Struktur nach FuE-Sektoren in Ostdeutschland und die Finanzierungsprobleme der öffentlichen Haushalte herangezogen: Die Reduzierung des FuE-Personals au f etwa 30 % hat u. a. zur Folge, daß der relative Umfang von FuE im Osten (au f Berufstätige bzw. Bevölkerung bezogen) nur noch etwa 50 % des im Westen vorhandenen beträgt. Hinzu kommt, daß die Strukturen dieses Restpersonals sowohl zwischen den einzelnen Sektoren als auch innerhalb jedes einzelnen sich deutlich von den bewährten Proportionen in den alten Bundesländern unterscheiden. Entscheidender Schwachpunkt ist bisher der Wirtschaftssektor. Dezentralisierung und Privatisierung haben in Ostdeutschland entgegen den erklärten Absichten der Politiker weder leistungsfähige FuE-Kapazitäten in der Wirtschaft erhalten noch sie bei kleinen und mittleren Unternehmen in dem in den westlichen Regionen vorhandenen Umfang aufgebaut. Selbst unter Einbeziehung des nicht unbedeutenden FuE-Potentials von West-Berlin in diese Rechnung verschärft sich die hier aufgezeigte Disproportion, da auch in West-Berlin (im Unterschied zu den alten Bundesländern) der Anteil der Wirtschaft an FuE bereits unter 50% lag (vgl. Abb.3).

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Abb. 3: FuE-Personal im Osten Deutschlands ohne und mit West­

berlin (TVbE; 1992)

In dieser Kombination von insgesamt relativ schwachem FuE-Einsatz und einem hohen Strukturdefizit bei der industriellen FuE liegt eines der Hauptprobleme für die künftige Entwicklung des gesamten ostdeutschen Raumes. Dagegen haben Japan und auch die alten Bundesländer einen Anteil von über 70 % des FuE-Potentials in der W irtschaft eingesetzt und dadurch Vorteile in der internationalen Wettbewerbsfähigkeit erlangt.

Als ein zweites Grundproblem kann man feststellen, daß der Hochschulsektor und insbesondere die Hochschulforschung nicht gestärkt werden konnten, sondern ebenfalls stark reduziert worden sind. Diese Entwicklung ist noch nicht abgeschlossen, wird aber angesichts der finanziellen Probleme in den neuen Bundesländern in nächster Zukunft kaum wesentlich verändert werden können, sieht man von bestimmten Differenzierungen zwischen den Bundesländern ab.

Schließlich weist auch die institutionelle Struktur der außeruniversitären Forschung im Osten nicht nur deutliche Unterschiede zu den früheren DDR-Strukturen auf, sondern auch zu denen in den alten Bundesländern (vgl. Abb. 4).

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Abb. 4: FuE-Beschäftigte im außeruniversitären Bereich in den alten (ABL) und neuen Bundesländern (NBL) nach Trägereinrichtungen

Bisher sind hier vor allem relativ geringe Kapazitäten der Max-Planck-Gesellschaft und auch der Großforschung geschaffen worden; dafür sind die anwendungsorientierten Einrichtungen der Fraunhofer-Gesellschaft und vor allem die Institute der "Blauen Liste"

relativ stark vertreten. Bereits jetzt zeichnen sich Auseinandersetzungen um Ressourcen und Kompetenzen zwischen den verschiedenen Trägerinstitutionen ab. Zu beachten ist hierbei, daß es sich um zwei unterschiedliche Strukturdimensionen handelt: einmal geht es um die Unterschiede in den Anteilen der einzelnen Trägerorganisationen zwischen den alten und den neuen Bundesländern; zum anderen haben sich dadurch auch die Gesamtproportionen zwischen diesen Institutionen im vereinten Deutschland gegenüber den bisher gewachsenen und bewährten Proportionen in der alten Bundesrepublik deutlich verändert.

Im Haushalt der Bundesrepublik sind bekanntlich die Mittel für die Forschung insgesamt nicht proportional zum hinzugekommenen Personal in Ostdeutschland gewachsen. Die Finanzierungsprobleme der öffentlichen Haushalte führen auch in den alten Bundesländern zu Einschränkungen bei der Grundfinanzierung von Universitäten, Hochschulen und anderen Einrichtungen sowie bei den öffentlichen Quellen für Drittmittel. Das BMFT hat z. B. ein Einfrieren der finanziellen Mittel der Großforschungseinrichtungen in den alten Ländern bis zum Jahre 1994 beschlossen, was eine Kürzung um etwa 15 % oder fast 2.000 Planstellen bedeutet. Ähnlich sieht die

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Situation bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) aus. Die früher bei etwa 75 - 80 % liegende Bewilligungsrate bei Anträgen zur Projektforderung an die DFG ist inzwischen au f etwa 40 % gesunken. Dies wird vor allem durch eine gewachsene Anzahl von Antragstellern aus den alten Bundesländern und weniger durch die eher geringe Antragstellung aus den neuen Ländern hervorgerufen. Die eigentliche Ursache für diese Situation liegt darin, daß die Mittel für die Grundfinanzierung sowie für die direkte Förderung durch das BMFT geringer geworden sind, w orauf die westdeutschen W issenschaftler u. a. mit einer erhöhten Anzahl von DFG-Anträgen reagieren.

Die Veränderungen in der ostdeutschen Wissenschaftslandschaft lassen den Schluß zu, daß man zum indest folgende Sachverhalte unterscheiden und noch weiter untersuchen muß:

a) die tatsächlichen Ausgangsbedingungen und Voraussetzungen der Wissenschaft in der D D R vor deren Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland;

b) die seit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik im Jahre 1990 abgelaufenen

"Transformationsprozesse" in Ostdeutschland, die bisher vor allen Dingen durch einen Institutionentransfer und einen damit gekoppelten und in diesem Ausmaß bisher nie gekannten Abbau von FuE-Personal gekennzeichnet sind sowie

c) die m it dieser Transformation im Osten erst begonnenen und voraussichtlich länger andauernden Integrationsprozesse der Wissenschaft in Deutschland.

3. Transformation und Integration - zwei Schritte auf dem Wege zur