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Transformation und Integration - zwei Schritte auf dem Wege zur gesamtdeutschen und -europäischen Wissenschaftslandschaft

Die Transform ation des ostdeutschen Wissenschaftssystems stellt somit lediglich einen Übergangsprozeß oder einen ersten Schritt bei der Herausbildung einer gesamtdeutschen W issenschaftslandschaft dar. Dadurch wurde das früher gegenüber der Bundesrepublik strukturell und auch funktionell sehr unterschiedlich gestaltete ostdeutsche Wissenschaftssystem (das "nationale Wissenschaftspotential der DDR") vor allem institutionell so verändert, daß paßfähige und vergleichbare Formen zu denen der W issenschaft in den alten Bundesländern geschaffen worden sind. Da diese "Formen" hier jedoch in anderen quantitativen Proportionen und in einem gänzlich anderen Umfeld, insbesondere hinsichtlich der Wirtschaft, stehen, ist damit aber noch keine einheitliche deutsche Wissenschaftslandschaft zustandegekommen. Die künftige Aufgabe besteht darin, im Osten ein neues regionales Wissenschaftssystem zu schaffen, das wiederum selbst Teil

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eines funktionsfähigen und integrierten gesamtdeutschen Wissenschaftssystems ist. Diese Prozesse haben aber erst begonnen; sie werden zwangsläufig dazu fuhren, daß nach den gravierenden Veränderungen und Umbrüchen in Ostdeutschland nun auch in der westdeut­

schen W issenschaftslandschaft bestimmte Veränderungen notwendig werden.

Gleichzeitig ist die Angleichung der ostdeutschen an die westdeutsche W issen­

schaftslandschaft nur ein Teilschritt auf dem Wege zur Integration Europas und insbesondere der weiteren Annäherung zwischen West- und Osteuropa auch in der Wissenschaft. Die Veränderungen der deutschen Wissenschaftslandschaft stellen einerseits einen Sonderfall dar, weil sie sehr schnell verlaufen, eine unmittelbare Eingliederung des DDR-Potentials in das westdeutsche System nach dessen M uster zum Ziel haben und die Transformationsprozesse hier mit unmittelbarer personeller, finanzieller und institutioneller Unterstützung durch die westdeutsche Wissenschaft erfolgen. Dazu gehört auch die Tatsache, daß als Ziel der Transformation die unmittelbare Eingliederung des früheren DDR-Potentials in ein real vorhandenes und bisher sehr gut funktionierendes System vorgegeben ist.

Die Situation in Deutschland ist andererseits in gewissem Sinne, trotz der vorgenannten Besonderheiten, auch ein "Prototyp" oder Experiment für europäische Integrationsprozesse. Letztlich geht es bei der "Integration" darum, bisher (relativ) isolierte Wissenschaftssysteme dauerhaft und funktionell miteinander zu verbinden. Das bedeutet, daß voneinander getrennte bzw. gegeneinander sogar abgegrenzte - wie zwischen der DDR und der BRD - Forschungsprozesse, einschließlich der Reproduktionsprozesse des für sie benötigten Personals, von Geräten, Literatur usw., nun zunehmend miteinander verflochten werden können und müssen. Bei allen nationalen Besonderheiten der Transformation entsteht gleichzeitig das Grundproblem, wie eine solche Verbindung von zwei (oder mehreren) bisher stark voneinander abgegrenzten Wissenschaftssystemen möglich ist, welche Probleme dabei auftreten, welche Veränderungen schließlich in beiden Systemen notwendig sind. Dabei kann man durchaus davon ausgehen, daß diese Verände­

rungen nicht unbedingt symmetrisch, sondern eher unterschiedlich für die beteiligten Systeme ausfallen werden; es ist aber unwahrscheinlich, daß eins dieser Systeme davon gar nicht berührt wird.

Insofern können und müssen die deutsch-deutschen Erfahrungen als Anregungen nicht nur für die Transformation der Wissenschaft in Osteuropa, sondern auch für die Einbindung der osteuropäischen Länder in ein gesamteuropäisches Wissenschaftssystem angesehen werden. N icht zuletzt sollte man auch davon ausgehen, daß die Erfahrungen aus der

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deutschen Vereinigung aufmerksam in den westeuropäischen Ländern beobachtet und hinsichtlich ihrer Konsequenzen für die noch zu leistende west- und gesamteuropäische Integration in dieser Sphäre angesehen werden. Jüngste Turbulenzen in Dänemark und Großbritannien um die Ratifizierung der Maastrichter Verträge sind sicher von den deutschen Erfahrungen auf diesem Gebiet nicht unbeeinflußt geblieben.

Bei einer solchen "europäischen" Betrachtungsweise zeigt sich sehr schnell, daß die gegenwärtigen Transformationsprozesse in Ostdeutschland und in den osteuropäischen Ländern nicht nur oder nur sehr vordergründig allein ein Problem dieser Länder sind. Es handelt sich vielmehr um ein gesamteuropäisches Zukunftsproblem, so daß auch die bisher erreichten Ausgangsbedingungen sowie die künftig notwendigen Transfer- und Integrationsprozesse zwangsläufig m it zum Gegenstand entsprechender Forschungen werden müssen. All dies erfordert die Zusammenarbeit der au f diesem Gebiet forschenden W issenschaftler in Ost und West.

Als grundlegendes Forschungsproblem läßt sich die Frage nach den Voraussetzungen, W egen und Zielen der Integration von bisher (mehr oder minder stark) getrennten regionalen oder nationalen Wissenschaftssystemen ableiten. Hierfür gibt es u. E. noch keine umfassende theoretische Grundlage, was nicht ausschließt, daß man für Teilprobleme au f vorliegende theoretische Ansätze zurückgreifen kann. Da diese im allgemeinen aber so beschaffen sind, daß sie Veränderungen in einem Teilausschnitt des Wissenschaftssystems erklären und dabei die jeweilige "Umwelt" als neutral oder stabil voraussetzen, greifen sie dann nicht oder nur unvollkommen, wenn sich, wie gegenwärtig, das gesamte Wissenschaftssystem und dessen Umfeld in starken Veränderungen bzw. im Systemumbruch befinden.

Die hier aufgezeigte Problemstellung läßt sich noch erweitern bzw. grundsätzlicher fassen, wenn m an die aktuellen Prozesse in den osteuropäischen Ländern einbezieht. Es geht dann um Grundfragen der Desintegration, der Generierung bzw. Re-Integration großer regionaler oder nationaler Wissenschaftssysteme. Man kann danach fragen, was sich wie ändert, wenn

a) zwei ganz verschiedene Wissenschaftssysteme zu einem integriert werden (Beispiel Deutschland) oder auch umgekehrt, wenn

b) ein großes "supranationales" Wissenschaftssystem in mehrere einzelne, kleinere "natio­

nale" Wissenschaftssysteme zerfällt (Beispiel UdSSR und deren Nachfolgestaaten

-\

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vgl. Abb. 5; ähnliches gilt wahrscheinlich auch für die Tschechoslowakei nach ihrer staatlichen Teilung).

%

Turkmenien Usbekistan

Abb. 5: Anzahl der Forschungseinrichtungen und der FuE-Beschäftigten der ehemaligen

Sowjetunion nach Regionen in Prozent (1989; UdSSR = 100%) (zusammengestellt von A.

Nadiraschwili)

Da die neu entstehenden Staaten wiederum bestrebt sind, sich viel stärker als früher in die internationale und insbesondere in die westeuropäische Wissenschaft einzubinden, entsteht die Frage, wie

c) künftig ein integriertes europäisches Wissenschaftssystem - vorerst im Rahmen der EG, längerfristig aber auch als gesamteuropäische Wissenschaftslandschaft unter Einschluß Osteuropas - gestaltet sein sollte bzw. werden könnte.

Als einen brauchbaren Ansatz für die hier notwendigen Forschungen sehen w ir dabei das

"Potentialkonzept der Wissenschaft" an, da die Entstehung, Ausdifferenzierung und Entwicklung moderner Wissenschaftssysteme in engstem Zusammenhang m it der Herausbildung wissenschaftsintemer wie -externer Reproduktionsprozesse der wesentlichen Voraussetzungen (Personal, Geräte, Informationen, Institutionen ...) wissenschaftlicher Tätigkeiten steht.

Regionale, nationale und internationale Wissenschaftssysteme sind vor allem durch den Grad der "Geschlossenheit" ihrer "Reproduktionsprozesse" bestimmt. Das Problem ihrer

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Integration, Desintegration und Re-Integration fordert dazu heraus, die Veränderungen der die jew eiligen Systeme konstituierenden Reproduktionszyklen zu untersuchen. Integration könnte danach als Prozeß der Ausdehnung bzw. Verflechtung wesentlicher Repro­

duktionszyklen charakterisiert werden; im Gegensatz dazu beruht die Desintegration auf der Unterbrechung oder Aufgliederung bisheriger relativ geschlossener und stabiler Reproduktionszyklen.

Bestand das Anliegen der Wissenschaftsforschung au f diesem Gebiet bisher vor allen Dingen darin, existierende Wissenschaftssysteme zu vergleichen und zu erklären, so geht es jetzt in Europa darum, die Prozesse der Desintegration und Re-Integration (institutionell, strukturell, quantitativ, qualitativ ...) sehr unterschiedlicher regionaler und nationaler Wissenschaftssysteme zu untersuchen. Hierzu bieten die in der DDR entwickelten Konzeptionen bestimmte Ansätze. Ihre Auswertung und kritische Aufarbeitung könnten in Verbindung m it den inzwischen durchgefuhrten Analysen von Transformationsprozessen des ostdeutschen Wissenschaftspotentials und seiner beginnenden Integration in eine neue gesamtdeutsche Wissenschaftslandschaft zur Herausbildung und Begründung neuer Forschungsansätze beitragen.

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Probleme bei der Neuordnung der außeruniversitären natur- und