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Biografiearbeit ist speziell für Kinder und Jugendliche geeignet, die Brüche in ihrem bishe-rigen Leben erfahren haben. Dadurch lässt sie sich in besonderem Maße bei Kindern an-wenden, die von ihrer Herkunftsfamilie getrennt leben und denen vielfach die Möglichkeit fehlt, etwas über ihre Vergangenheit zu erfahren. Eine ungefähre Auflistung der möglichen jungen Klienten und Klientinnen findet sich bei Lattschar und Wiemann (2011):

Kinder in Pflege- und Adoptivfamilien

Kinder in Verwandtenpflege

Kinder bei Alleinerziehenden

Kinder, die einen leiblichen Elternteil nicht kennen

Kinder in Stieffamilien / Patchworkfamilien

Kinder in Erziehungsstellen

Kinder und Jugendliche in ambulanten und stationären Einrichtungen der Jugend-wohlfahrt

Kinder mit Verlusterfahrungen von Bezugspersonen

Kinder in Trennungs- und Scheidungskonflikten

Kinder mit Migrationserfahrungen (vgl. Lattschar / Wiemann 2011, S. 29ff.)

Da gerade bei Kindern, die nicht in ihrer Herkunftsfamilie aufwachsen, die familiären Wurzeln eingeschränkt oder gar nicht zugänglich sind, wird Biografiearbeit dazu verwen-det, dass die Betroffenen Klarheit über ihre eigene Lebensgeschichte erlangen und ein rea-listisches Bild von sich und ihrer Familie bekommen (vgl. Miethe 2011, S. 126).

Bei Kindern mit Migrationserfahrungen kommt oft die problematische Situation hinzu, dass sie Orientierungsangebote zweier oder mehrerer, oftmals sehr gegensätzlicher Kultu-ren integrieKultu-ren müssen. Diese Kinder kennen das Gefühl des Fremdseins, erleben unter Umständen Diskriminierung und bei Flucht vor Krieg oder Verfolgung aus dem Herkunfts-land können zusätzlich Traumatisierungen auftreten (vgl. Lattschar 2004, S. 58).

Lediglich Weinberger (2001) weist darauf hin, dass sich Biografiearbeit auch für Kinder mit einer chronischen oder lebensbedrohlichen Krankheit oder für Kinder mit Behinderung eignet (vgl. Weinberger 2001, S. 179). Allerdings gibt es für diese besondere Zielgruppe kaum Literatur mit konkreten Handlungsumsetzungen und es fehlen empirische Forschun-gen zur Wirksamkeit.

Unerwähnt lassen Lattschar und Wiemann (2011) das Einsatzgebiet der Schule für Kinder und Jugendliche. Zwar gibt es für diesen Bereich bis dato erst wenig konkrete Erfahrungen in der Umsetzung, aber einzelne Projektansätze zeigen auf, dass Biografiearbeit auch im Kontext Schule nutzbar gemacht werden kann (vgl. Morgenstern 2011 / Baierl 2008).

Den Zielgruppen inbegriffen ist die Tatsache, dass alle diese Kinder Brüche und/oder Kri-sen in ihrem Lebenslauf bewältigen müsKri-sen (vgl. Bock 2011, o.S.). Darüber hinaus wird in der Literatur auch die Auffassung vertreten, dass Biografiearbeit überall dort zum Einsatz kommen kann, wo eine kontinuierliche Arbeit mit Kindern und Jugendlichen stattfindet (vgl. Morgenstern 2011, S. 4). Biografiearbeit kann für jedes Kind eine Unterstützung dar-stellen, vor allem wenn im Leben Neubeginne oder Abschiede bevorstehen, wie beispiels-weise ein Wohnortwechsel, Eintritt in Kindergarten oder Schule, die Geburt von Ge-schwistern, der Verlust einer Bezugsperson etc. Hier bietet Biografiearbeit eine Möglich-keit, einschneidende Veränderungen besser ins Leben einordnen zu können (vgl. Wiemann 2004, S. 17 / vgl. Lattschar / Wiemann 2011, S. 29). Durch die eingangs erwähnten Mo-dernisierungsprozesse unserer Gesellschaft wird allerdings auch deutlich, dass Mädchen und Jungen zunehmend professionelle Unterstützung benötigen, ihre heterogenen Le-benserfahrungen in einen subjektiven Gesamtsinn, in ihre Biografie, einzubetten, was eine der wesentlichen Zielsetzungen im Kontext der biografischen Arbeit darstellt.

Das Bedürfnis nach biografischen Sinnzusammenhängen steigt in Zeiten von Krisen und Umbrüchen und führt mitunter dazu, dass sich Identitätsfindung in der Postmoderne nicht mehr aus der Tradition ergibt, sondern dass diese nur durch eine mühevollen und risikorei-chen Reflexionsprozess gewonnen werden kann, bei dem die Unterstützung eines kompe-tenten Erwachsenen von Vorteil sein kann (vgl. Gudjons et al. 2008, S. 20). Diesbezüglich kommen auch Wandlungsprozesse auf die Sichtweise von Kind und Kindheit allgemein zum Tragen, die Bock (2010) wie folgt im Kontext der postmodernen Gesellschaft be-schreibt:

„(…) in denen Kindheit und Kindsein sukzessive als eigenständige Lebenspha-se konzipiert wird, in der biographische VerLebenspha-selbstständigungsschritte, spezifi-sches Alltagserleben, Aufwachsbedingungen und Alltagsorganisation im Hori-zont von speziellen Lebensmilieus, sozialen Ungleichheiten, gesellschaftlichen Chancen, Möglichkeiten und Grenzen in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Modernisierungsschüben und Wandlungsprozessen gesehen werden.“ (Bock 2010, S. 34)

Diese Ausführungen belegen, dass die subjektive Biografie eng an die vorgefundenen Rahmen- und Aufwachsbedingungen gekoppelt ist. Biografiearbeit sollte daher das Kind in

seiner gesamten Komplexität sehen und neben dem familiären auch den kulturellen, sprachlichen und religiösen Hintergrund des Kindes mit einfließen lassen und berücksich-tigen (vgl. Frampton 2006, S. 129).

Bezogen auf die Zielgruppe der Kinder und Jugendlichen will Biografiearbeit dahingehend unterstützen, dass das Kind seine eigene Lebensgeschichte verstehen und akzeptieren lernt und es zu einer neuen Betrachtung und Bewertung von gemachten Lebenserfahrungen ge-langt. Auf diese Weise kann es ein realistisches Selbstbild entwickeln und die eigene Iden-tität festigen (vgl. Krautkrämer-Oberhoff 2009, S. 123f.).

„Biografiearbeit kann schwierige Lebenserfahrungen der Kinder und Jugendli-chen nicht rückgängig maJugendli-chen. Sie kann aber im Umgang mit solJugendli-chen Leben-sereignissen unterstützen und es ermöglichen, dass Kinder und Jugendliche diese Erfahrungen als Teil ihres Lebens akzeptieren lernen.“ (Miethe 2011, S.

130).

Im Sinne einer lebensweltorientierten Sozialen Arbeit begünstigt Biografiearbeit das Errei-chen eines gelingenderen Alltags (Thiersch 1986 zit.n. Köttig / Rätz-Heinisch 2005, S. 16).

Dies meint, dass die Kinder und Jugendlichen dahingehend unterstützt werden sollen, um am Ende der Maßnahme die Anforderungen des Alltags besser und weitgehend selbststän-dig bewältigen können. In diesem Sinne soll dialogische Biografiearbeit durch das Anre-gen von Selbstverstehensprozessen Kinder bei der bewussten und aktiven Gestaltung des eigenen Lebens unterstützen (vgl. ebd., S. 16ff.).

Biografiearbeit stellt außerdem einen möglichen Weg dar, um auf niederschwellige Weise Zugang zu den Erinnerungen der Kinder und Jugendlichen zu bekommen (vgl. Wiemann 2003, S. 124). Sie kann dabei hilfreich sein, Brücken von einem Lebensraum in den nächs-ten zu schlagen und Übergänge professionell zu begleinächs-ten. Dieses Brücken bauen von der Vergangenheit über die Gegenwart hin zur Zukunft wird in der Fachsprache als Bridging bezeichnet und stellt den Versuch dar, Lebenserfahrungen in einen sinnvollen Zusammen-hang zu bringen (vgl. Maywald 2001, S. 235).

Bei Biografiearbeit mit Kindern und Jugendlichen geht es noch mehr als mit anderen Ziel-gruppen um ein entwerfendes Verstehen, das heißt, Kinder zu befähigen den Blick auf neue Zukunftsperspektiven zu richten. Allerdings geschieht dies unter dem Aspekt, gemeinsam mit dem Kind Wissen und Verständnis für all das zu entwickeln, was bisher in seinem Le-ben geschehen ist. Diese Prämisse beinhaltet auch, dass Biografiearbeit Raum schafft, sich mit seiner eigenen Vergangenheit auszusöhnen und den Weg für neue Handlungsmöglich-keiten zu ebnen (vgl. Gudjons et al. 2008, S. 19f.).

„Gerade die Kinder, die massive biografische Brüche erlebt haben, wissen sehr genau, dass die Welt von morgen ganz anders sein kann als es heute scheint.“

(Wolf 2009, S. 245).

Dieses Zitat zeigt auf, dass gerade Kinder mit Umbrucherfahrungen dabei unterstützt wer-den müssen ihre eigene Lebensgeschichte annehmen zu können. Um sich selbst wieder als aktive/r Gestalter/in des eigenen Lebens verstehen zu können und die Selbstbestimmung zu erhöhen, ist es hilfreich wenn Platz für Emotionen wie Wut, Trauer oder Hoffnungslosig-keit geschaffen wird (vgl. Gudjons et al. 2008, S. 19f.). Weiß (2009) spricht im Zusam-menhang von Traumatisierungen bei Kindern und Jugendlichen davon, dass der Weg in die Zukunft untrennbar mit der Vergangenheit eines Menschen verbunden ist. Das bedeutet folglich, je belastender die gemachten Erfahrungen sind, desto eingeschränkter sind die Perspektiven und Vorstellungen für die Zukunft. Damit Lebensgestaltung selbstbestimmter werden kann, benötigen die Mädchen und Jungen Bewusstheit über die Zusammenhänge, die ihr aktuelles Leben prägen (vgl. Weiß 2009, S. 84ff.). Um den Bogen wieder zurück zu einem gelingenderen Alltag zu spannen, erklärt Miethe (2011):

„Zukunft wird aber lebbarer, wenn die verschiedenen Anteile des bisherigen Lebens in den Lebensverlauf integriert werden können und nicht negiert wer-den müssen.“ (Miethe 2011, S. 127)

Weiß (2009) verweist allerdings auch darauf, dass Pädagog/innen der Vergangenheit der Kinder, vor allem wenn sie eine sehr belastete ist, vielfach aufgrund von Überforderung, aus dem Weg gehen wollen. Dies geschieht indem zum Beispiel die Verantwortung an die Psychotherapie abgegeben wird (vgl. Weiß 2009, S. 84ff.).

Biografiearbeit kann somit den Versuch darstellen, diesem Defizit in der Pädagogik ge-recht zu werden und so wie Plass (2004) postuliert, als methodischer Zugang die jungen Menschen bei der Wahrnehmung ihrer Lebensgeschichte und der darauffolgenden Ausei-nandersetzung mit zurückliegenden Ereignissen und deren Bedeutung für die Gegenwart und Zukunft zu unterstützen (vgl. Plass 2004, S. 6). Das Stärken für die Zukunft wird auch in folgendem Zitat zum Ausdruck gebracht:

„Es geht darum, die eigene Biografie immer neu zu erschaffen, um sich seiner selbst zu vergewissern und selbstbewusst in die Zukunft zu gehen.“ (Maywald 2001, S. 240).

Das Hauptanliegen von Biografiearbeit mit Kindern besteht darin, den kindlichen Selbst-wert und die Selbstachtung zu stärken, um langfristig die Entwicklung einer stabileren Identität zu fördern (vgl. Frampton 2006, S. 126). Biografiearbeit will Kinder stark für die

Zukunft machen. Je nach Zielgruppe müssen die Unterziele und die Umsetzung flexibel an das Kind und seine Bedürfnisse angepasst werden. Näheres dazu findet sich im nächsten Kapitel.