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Um das Kapitel der Praxis der Biografiearbeit abzuschließen, soll an dieser Stelle ergän-zend die Beobachtung von Tim einfließen. Tim ist ein 14jähriger Junge, der in der Diako-nie de La Tour untergebracht ist und seit einigen Monaten mit seiner Bezugsbetreuerin biografisch arbeitet. Während einer Einheit konnte die Interaktion des Jungen mit der be-treuenden Pädagogin beobachtet werden. Die nachfolgende Beschreibung der Situation soll dabei verdeutlichen, wie Biografiearbeit in der sozialpädagogischen Praxis konkret durch-geführt wird. Dabei werden Methoden und Themen erläutert sowie generell das Verhalten des Kindes und der Pädagogin thematisiert, um darüber Aufschluss über die pädagogische Haltung zu erlangen.

„Tim hat nach etwas längerer Pause wieder eine Biografiearbeit-Einheit mit seiner Pädagogin. Diese überreicht ihm zu Beginn seine Lebensmappe. Beim Durchblättern und gemeinsamen Reflektieren, was bereits erarbeitet wurde, sticht ihm die Überschrift Das bin Ich! ins Auge, was er laut mit den Worten dokumentiert: ‚Aber echt, wer bin ich überhaupt?‘. Darauf erklärt ihm die Pä-dagogin, dass sie das gerne gemeinsam mit ihm herausfinden möchte.

Für den Einstieg werden Emotionen besprochen. Tim soll dabei aufzeichnen, wie man sich fühlen kann. Er malt ein fröhliches, trauriges und wütendes Ge-sicht – alle sehr detailgetreu und fügt beispielsweise auch Ohren und Zähne ein. Darauf aufbauend wird von Seiten der Pädagogin die Frage gestellt, ob Tim sich selbst auch manchmal traurig fühlt und wann das der Fall ist. Seine Antwort wird ebenfalls kurz bildlich dargestellt. Mittels dieser Emotionskärt-chen soll er sich nach Aufforderung der Pädagogin dafür entscheiden, wie es ihm heute geht. Er entscheidet sich für ein glückliches und ein trauriges Ge-sicht. Tim hat heute seinen letzten Praktikumstag absolviert und erklärt, dass es ihm gut geht, da ihm das Praktikum so viel Spaß gemacht hat, aber dass er gleichzeitig traurig ist, weil es eben schon vorbei ist.

Danach folgt ein Themenwechsel. Die Pädagogin hat für die heutige Einheit Tim’s Krankengeschichte als Kind recherchiert, da in den letzten Einheiten aufgekommen ist, dass Tim im Kinderalter an Epilepsie litt. Dazu hat sie einen Arztbefund und ein EEG aus Tim’s Mappe kopiert, sowie einen Internetartikel über Epilepsie ausgedruckt. Gemeinsam gehen sie die Unterlagen durch. Tim wirkt anfangs zwar interessiert, ist aber mit der Aufmerksamkeit nicht ganz bei der Sache, er schweift immer wieder vom Thema ab. Auf die Nachfrage der Pädagogin ob er sich noch an diese Erkrankung erinnern kann, verneint er. Als die Pädagogin ihn erklärt, dass aus den Akten hervorgeht, dass er dagegen ein Medikament nehmen musste, scheint seine Erinnerung aktiviert worden zu sein und der Name des Medikaments fällt Tim wieder ein: ‚Ospolot, Ospolot. Jetzt ist es mir wieder eingefallen!‘ Dann sprechen die Pädagogin und Tim noch kurz über seinen Opa, wobei von Tim der Einwand kommt, dass man ja seine Tante zu seinem Opa befragen könnte. Er geht aber auch auf Nachfrage der Pädagogin nicht mehr auf seine Familiengeschichte ein. Auch das Thema Epi-lepsie scheint damit für ihn abgeschlossen. Den Vordruck Meine Gesundheit möchte er zu diesem Zeitpunkt nicht ausfüllen und verweist auf ‚das nächste Mal dann‘, was von der Pädagogin auch akzeptiert wird. Mit Fragen, ob es

et-was gibt, worüber er heute gerne reden möchte, versucht sie Tim’s Interesse wieder auf die Biografiearbeit zu lenken. Daraufhin fängt er mit spürbarer Be-geisterung an, über sein Praktikum bei einer Hundetrainerin zu erzählen. Er zeigt der Pädagogin sein Abschiedsgeschenk, das ihm anlässlich seines letzten Tages als Erinnerung mitgegeben wurde und berichtet über ein Erfolgserlebnis, bei dem es ihm gelungen ist, einem Hund etwas beizubringen. Die Pädagogin versucht dabei, seinen Bericht in einer Zeichnung abzubilden, da sie unmittel-bar davor von ihm erfragt hat, dass er kein Foto als Erinnerung an das Prakti-kum hat. Tim fragt neugierig nach ‚Was tust du da?‘, worauf sie ihm erklärt, dass sie für ihn eine Erinnerungsbild an das Praktikum anfertigen möchte. Die-se Idee scheint ihm gut zu gefallen und er sagt ihr, was sie noch für ihn auf das Bild zeichnen soll. Als das Bild zu Tim’s Zufriedenheit fertiggestellt wurde, nutzt die Pädagogin das erzählte Erlebnis um Tim zu fragen, ob er auch schon ein anderes Mal jemandem etwas beigebracht hat. Er verneint dies und lenkt das Gespräch wieder auf sein Praktikum und erklärt, dass ihm der Beruf Hun-detrainer sehr gut gefallen würde: ‚Ja, das mag i schon machen!‘. Da auch Überlegungen zu Tim’s beruflicher Zukunft anstehen, wird dies von der Päda-gogin vermerkt. Tim äußert sich dazu aber nur, indem er der PädaPäda-gogin berich-tet, dass die Ausbildung derzeit nur in Salzburg möglich sei und er da vorerst nicht hin möchte. Nach diesem kurzen Gespräch lässt Tim’s Aufmerksamkeit deutlich nach, er blickt aus dem Fenster und auf Frage der Pädagogin ob er denn noch aufnahmefähig sei, antwortet er mit: ‚I bin so müde schon!‘. Dieser Satz wird von der Pädagogin auch als Ende für die heutige Einheit aufgenom-men. Sie lässt Tim noch entscheiden, welche der heute erarbeiteten Unterlagen er in seine Lebensmappe geben möchte und lässt sie ihn selbst lochen und ein-ordnen.“ (Beobachtung Tim 2012)

Aus dieser Beobachtung wird gut ersichtlich, wie innerhalb eines wechselseitigen Prozes-ses lebens- und alltagsrelevante Themen des Jugendlichen innerhalb der Biografiearbeit-Einheit aufgearbeitet werden. Die Pädagogin orientiert sich in ihrem Vorgehen an Tim’s Interessen und lässt sich während der gesamten Sitzung flexibel von seinen Wünschen und Bedürfnissen leiten. Das Gespräch wird abgesehen von einigen Erzählimpulsen der Päda-gogin (z.B.: „Hast du sonst schon einmal jemanden was beigebracht?“; „Kannst du dich noch daran erinnern?“) weitgehend von Tim strukturiert. Aus seinen Erzählungen versucht sie gemeinsam mit ihm ausfindig zu machen, was er in der Situation seines Praktikums an Erfahrungen gewonnen hat und beginnt auch Stärken (jemanden etwas beibringen) bzw.

mögliche Zukunftsperspektiven herauszuarbeiten. Tim steht im Mittelpunkt und die ge-samte Interaktion zeichnet sich durch eine hohe Partizipation seinerseits aus. Auch sein Interesse, die Pädagogin an seinen Erfahrungen teilhaben zu lassen, kommt in der Be-obachtung zum Ausdruck. Dies merkt man insbesondere in der Situation, wo er mit hörba-rer Begeisterung von seinem Praktikum erzählt und der Pädagogin stolz sein Abschiedsge-schenk zeigt. Das Ende der Einheit wird ebenfalls durch seine nonverbalen und verbalen Signale bestimmt.

Diese Überlegungen sollen den praxisorientierten Rahmen der Biografiearbeit vorläufig abschließen, bevor weiter unten geklärt wird, wie Biografiearbeit dabei helfen kann, die zentrale Frage der Identitätsentwicklung, nämlich Wer bin ICH eigentlich? zu klären.

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OZIALISATIONSTHEORIE

Da Biografie und Biografisierung hochgradig mit der Sozialisationsforschung verbunden sind, und sich der individuelle Lebenslauf in komplexen Sozialisationsprozessen manifes-tiert (vgl. Jansen 2011a, S. 18 / vgl. Petzold 1999, S. 49), ist es sinnvoll sich die Identitäts-entwicklung auf dem Hintergrund der Sozialisation im Kindes- und Jugendalter anzu-schauen.

Daher soll im nachfolgenden Kapitel aufgezeigt werden, wie im Kontext der Sozialisati-onstheorie Persönlichkeit gebildet wird und in weiterer Folge die Identitätsentwicklung, als wesentlicher Teil dieses Prozesses, explizit erläutert werden.