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Die Sozialisationsforschung hat sich in den letzten 20 Jahren als interdisziplinäres Arbeits-gebiet mit maßgeblicher Beteiligung von Soziologie, Psychologie und Pädagogik entwi-ckelt und geht der Fragestellung nach, wie und in welchem Ausmaß soziale, kulturelle, ökologische und ökonomische Faktoren als Bedingungen der menschlichen Persönlich-keitsentwicklung wirken (vgl. Hurrelmann 2001, S. 9). Ganz allgemein gesprochen be-schäftigen sich Sozialisationstheorien demnach mit dem Einfluss der Wechselwirkung zwischen Anlagen und Umwelt auf den Prozess der Persönlichkeitsentwicklung (Hurrel-mann / Bründel 2003, S. 11).

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts fand der Sozialisationsbegriff erstmals Einzug in wissen-schaftliche Diskussionen. Einer der Vorreiter war dabei der französische Soziologe Emile Durkheim (1858-1917), der jedoch nur von einer soziologistischen Vergesellschaftung des Menschen durch die Verinnerlichung von gesellschaftlichen Normen ausging. Diese Be-trachtungsweise ist nach heutiger Auffassung natürlich eine verkürzte, da Durkheim der Eigenaktivität des Subjekts keinerlei Bedeutung beimaß (vgl. Hurrelmann 2001, S. 13 / vgl. Tillmann 2010, S. 43). Nach heutigem Verständnis geht man von einer wechselseiti-gen Beeinflussung aus.

Zum Gegenstandsbereich der Sozialisation liegen unterschiedliche Theorien vor, eine all-gemeine Definition findet sich bei Hurrelmann (2006):

„Sozialisation bezeichnet den Prozess, in dessen Verlauf sich der mit einer bio-logischen Ausstattung versehene menschliche Organismus zu einer sozial handlungsfähigen Persönlichkeit bildet, die sich über den Lebenslauf hinweg in Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen weiterentwickelt.

Sozialisati-on ist die lebenslange Aneignung vSozialisati-on und Auseinandersetzung mit den natürli-chen Anlagen, insbesondere den körperlinatürli-chen und psychisnatürli-chen Grundlagen, die für den Menschen die ‚innere‘ Realität bilden, und der sozialen und physikali-schen Umwelt, die für den Menphysikali-schen die ‚äußere‘ Realität bilden.“ (Hurrel-mann 2006, S. 15 zit.n. Andresen / Hurrel(Hurrel-mann 2010, S. 42).

Vereinfacht dargestellt ist Sozialisation ein Prozess, innerhalb dessen sich die Entstehung und Entwicklung der Persönlichkeit manifestiert. Das geschieht immer in wechselseitiger Abhängigkeit von der ökologischen und gesellschaftlich vermittelten sozialen und ding-lich-materiellen Umwelt. Indem das Individuum diese für sich aufnimmt und verarbeitet, gleichzeitig die Umwelt selbst verändert und mitgestaltet, entwickelt es sich zu einem ge-sellschaftlich handlungsfähigen Subjekt (vgl. Geulen / Hurrelmann 1980, S. 51 zit.n. Hur-relmann / Bründel 2003, S. 12). Tillmann (2010) konstatiert, dass sämtliche sozialen und materiellen, respektive physikalischen Umweltbedingungen gesellschaftlich durchdrungen sind (vgl. Tillmann 2010, S. 15). Im Sozialisationsprozess zeigt sich die Gesellschaft aller-dings nie in ihrer gesamten Komplexität. Sie offenbart sich dem Menschen in seinen jewei-ligen sozialen Umwelten, mit denen er im Laufe seiner Entwicklung konfrontiert wird. In diesem Zusammenhang gibt es ein hierarchisches 4-Ebenen-Modell, dass das Gefüge der Abhängigkeiten zwischen den einzelnen Sozialisationsbedingungen abbilden soll. Auf der ersten, untersten Ebene befindet sich das Subjekt mit seinen individuellen Erfahrungsmus-tern, Einstellungen, emotionalen Strukturen und kognitiven Fähigkeiten. Die zweite Ebene bilden die Interaktionen und Tätigkeiten wie sie in der Familie, im Unterricht, im Kontakt mit Peers, Freund/innen und Verwandten zum Tragen kommen. Diese zweite Ebene wird wiederrum von der dritten, der der Institutionen wie Betriebe, Schulen, Universitäten, Kir-che usw., direkt beeinflusst. Die vierte Ebene repräsentiert die Gesamtgesellschaft, die durch ihre ökonomische, soziale, politische und kulturelle Struktur wiederrum die nächst niedrigere regelt. Alle vier Bedingungsebenen stehen, wie bereits aufgezeigt, in einem hie-rarchischen Verhältnis zueinander. Die höhere schafft die Rahmenbedingungen für die niedrigere Ebene. Allerdings weist dies eine Doppelfunktion auf, da auch umgekehrt die Strukturen und Abläufe der unteren Ebene auf die höhere wirken und diese verändern kön-nen (vgl. ebd., S. 23f.).

Die oben genannte Definition von Hurrelmann (2006) macht deutlich, dass alle Sozialisati-onstheorien von einem einseitigen und linearen Modell der Persönlichkeitsentwicklung Abstand nehmen. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass sich die Persönlichkeitsent-wicklung in einem lebenslangen dynamischen Prozess vollzieht, in dem das Individuum seine innere Realität (körperliche und psychische Eigenschaften) und die äußere Realität

(soziale und physische Umwelt) aktiv versucht zur Passung zu bringen. Dies wird unter dem von Hurrelmann geprägten Begriff der produktiven Realitätsverarbeitung zusammen-gefasst (vgl. Hurrelmann 2001, S. 63f. / vgl. Hurrelmann / Bründel 2003, S. 17).

Was dabei konkret mit der Verarbeitung von innerer und äußerer Realität gemeint ist und wie sich diese auf die Persönlichkeit auswirkt, veranschaulicht folgende Grafik:

Abb. 2: Verarbeitung von innerer und äußerer Realität (Hurrelmann / Bründel 2003, S. 16)

Die Persönlichkeitsentwicklung bildet also einen wesentlichen Definitionsbestandteil von Sozialisation, mehr noch, ohne den Persönlichkeitsbegriff lässt sich Sozialisation gar nicht erst sinnvoll beschreiben (vgl. Tillmann 2010, S. 16). Unter Persönlichkeit wird das für einen Menschen charakterisierende Gefüge von Merkmalen, Eigenschaften, Einstellungen und Handlungskompetenzen verstanden. Diese sind abhängig von den jeweiligen biologi-schen und psychibiologi-schen Anlagen und das Ergebnis hängt zentral mit der Bewältigung von Lebensaufgaben zusammen (vgl. Andresen / Hurrelmann 2010, S. 42). Zur Persönlichkeit gehören somit einerseits alle von außen beobachtbaren Verhaltensweisen und Merkmale des Individuums. Andererseits zählen dazu auch seine innerpsychischen Prozesse, Gefühle, Motivationen, sein Wissen, Sprache und Werthaltungen (vgl. Tillmann 2010, S. 16). Per-sönlichkeitsentwicklung gelingt dann, wenn es zu einer guten Passung zwischen körperli-chen und psychiskörperli-chen Anlagen und den äußeren Lebensbedingungen kommt (vgl.

Andresen / Hurrelmann 2010, S. 43).

In der Sozialisationstheorie wird also von einem Wechselspiel zwischen Anlage und Um-welt ausgegangen. Ungefähr die Hälfte aller Persönlichkeitsmerkmale und Verhaltenswei-sen sind genetisch determiniert, die andere Hälfte auf Umweltbedingungen zurückzufüh-ren, die beeinflussen, welche Merkmale zum Tragen kommen und welche nicht. Kein Kind kann die körperliche und psychische genetische Ausstattung, mit der es zur Welt kommt,

abstreifen oder die sozialen und materiellen Umweltbedingungen ausschalten. Einmalig ist allerdings, wie sich das Kind mit seinen Anlagen und der Umwelt auseinandersetzt. (vgl.

Hurrelmann / Bründel 2003, S. 14f. / vgl. Andresen / Hurrelmann 2010, S. 43). Kinder werden ohne ihren Einfluss in bestimmte Verhältnisse hineingeboren, die aber sehr wohl ihr gesamtes Aufwachsen mitbestimmen und wo bestimmte Deutungsmuster und Strate-gien tradiert werden und den eigenen Erfahrungsraum strukturieren (vgl. Wolf 2009, S.

242). Dies impliziert, dass die biologische Verankerung menschlicher Grundmerkmale den Rahmen für Entwicklungsmöglichkeiten über den gesamten Lebensverlauf vorgibt. (vgl.

Andresen / Hurrelmann 2010, S. 42). Umweltbedingungen beeinflussen allerdings wann und welche Gendispositionen aktiviert werden (vgl. Asendorpf 2007 zit.n. ebd., S. 42).

Die Entwicklung der Persönlichkeit im Sozialisationsprozess läuft also gleichzeitig auf die Vergesellschaftung und Individuierung der Person hinaus (vgl. Tillmann 2010, S. 17).

Das Sozialisationskonzept beschreibt generationsübergreifende Aneignungs-, Vermitt-lungs- und Veränderungsprozesse sozialer Wirklichkeit (vgl. Bamler / Werner / Wustmann 2010, S. 56). Da Kinder in sozialisatorischen Netzwerken aufwachsen, die sich durch Be-ziehungsgeflechte auszeichnen, werden insbesondere dort wichtige Sozialisationsleistun-gen vollzoSozialisationsleistun-gen (vgl. Wolf 2009, S. 243). Zu diesen Sozialisationsinstanzen zählen exempla-risch die Familie, der Kindergarten, die Schule, Gleichaltrigengruppen oder sozialpädago-gische Einrichtungen. Diese nehmen gezielt Einfluss auf die Entwicklung des Kindes, fes-tigen die Grundstrukturen der Persönlichkeit und helfen beim Erwerb von Basiskompeten-zen (vgl. Hurrelmann / Bründel 2003, S. 18f.).

Die Ausführungen machen deutlich, dass Persönlichkeitsentwicklung in hohem Maße von den sozialen Bindungen, ökologisch-ökonomischen Rahmenbedingungen und daher auch von der sozialen Schichtzugehörigkeit abhängig ist (vgl. Bamler et al. 2010, S. 54).

Insbesondere für die kindliche Entwicklung stellt die Sozialisationstheorie einen fruchtba-ren Ansatz dar, vor allem durch ihr zugrundeliegendes Verständnis von Kind und Kindsein, wie es vor allem innerhalb der deutschsprachigen Kindheitsforschung zum Tra-gen kommt. Kinder werden als Subjekte verstanden, als aktive Gestalter/innen und Verar-beiter/innen, die in die Konstruktion ihres alltäglichen Lebens – und damit auch der Kind-heit allgemein – aktiv eingebunden sind. Kinder sind demzufolge schöpferisch tätig, indem sie innerhalb ihrer entwicklungsbedingten Grenzen aktiv auf die Gestaltung ihrer sozialen Lebensbedingungen einwirken und sich ihre Umwelt für ihre persönliche Entwicklung zu Nutzen machen (vgl. Andresen / Hurrelmann 2010, S. 44). Es gibt einige Kritiker/innen,

die behaupten, dass der Kinderalltag und die darin eingelagerten Aneignungsweisen in der Sozialisationstheorie zu wenig Berücksichtigung finden. Tillmann (2010) plädiert hier je-doch dafür, den Kinderalltag nicht aus der Sozialisationstheorie auszuklammern, sondern sie um die Forschungsperspektive Kindheit zu erweitern. Auch Bock(2010) konstatiert kindliche Perspektive und gesellschaftliche Lebensbedingungen nicht getrennt voneinander zu betrachten, sondern als Einheit zu verstehen (vgl. Bock 2010, S. 100).