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2. INTERNATIONALER WANDEL UND GESELLSCHAFTLICHE TRANSFORMATION

2.4 Z USAMMENFASSUNG

Die nachbarschaftlichen Beziehungen in Mittel- und Osteuropa sind von historischen Konfliktlagen ge-kennzeichnet, die seit 1989 als verschiedene Formen des Nationalismus bzw. als offene, aus der Vergan-genheit rührende Rechtsfragen wieder politische Relevanz erhalten haben. Der Umgang mit diesen Kon-flikten findet im Kontext eines gleichzeitig stattfindenden internationalen und gesellschaftlichen Wandels statt. Im Zuge der Entwicklung von einer emanzipatorischen zu einer konstruktiven Außenpolitik werden die nachbarschaftlichen Probleme einem wachsenden Lösungsdruck ausgesetzt. Die Nachbarn müssen ihre bilateralen Beziehungen zum einen an extern vorgegebene politische oder normative Maßstäbe an-passen, und zum anderen geraten sie in Konflikt mit innenpolitischen Interessen und dem Selbstverständ-nis ihrer Nation. Die Lösung nachbarschaftlicher Probleme stellt sich somit in Form von zwei unter-schiedlichen Aufgaben: Zum einen als außenpolitisches Problem, als Schritt hin zu Integration in die westlichen Bündnisse, zum anderen als innenpolitisches Problem, bei dem es um eine Neubewertung der nationalen und historischen Fragen geht. Die Lösung der nachbarschaftlichen Probleme in Mittel- und Osteuropa erfordert daher eine umsichtige Akkommodierung von innen- und außenpolitischen Integrati-onszielen.

Es wurde gezeigt, daß nachbarschaftliche Versöhnungsprozesse neben den Minderheitenfragen ein typisches Problem der außenpolitischen Transformation darstellen. Die normative Bedeutung solcher Versöhnungsprozesse und die damit verbundenen Probleme warfen die Frage auf, wie solche Prozesse politikwissenschaftlich zu erfassen oder sogar zu fördern seien. Deshalb wurde in einer theoretisch und historisch vergleichenden Diskussion gefragt, welche Faktoren für die Erklärung dieses speziellen außen-politischen Prozesses besonders wichtig sind. Aus der Diskussion der Theorien der internationalen Bezie-hungen und der Konzepte zur Versöhnungspolitik erwuchsen eine Reihe von Einsichten hinsichtlich nachbarschaftlicher Versöhnung. Zu nennen ist hier vor allem die Deutsch`sche Konzeption des Werte-wandels, als ein von den oberen Eliten nach unten vermittelter Prozeß, sowie die Präzisierung des Ziels nachbarschaftlicher Versöhnung als einen selbstkritischen Geschichtsdiskurs wie bei Gardner Feldman

105 Merkel, Wolfgang: Struktur oder Akteur, System oder Handlung: Gibt es einen Königsweg in der sozialwissen-schaftlichen Transformationsforschung, in ders. (Hg.): Systemwechsel 1. Theorien, Ansätze und Konzeptionen, Opladen 1994, S. 303f.

dargelegt. Im spezifischen Kontext wurden diese Ansätze allerdings entweder dem Untersuchungsgegen-stand oder dem Transformationskontext nicht gerecht oder bedurften einer weiteren Präzisierung.

Vor diesem Hintergrund wurde deshalb ein normatives Modell entwickelt, das dem nachbarschaftli-chen Versöhnungsprozeß in seinen Problemstellungen und seiner inhärenten Dynamik gerecht zu werden sucht. Entsprechend dem Modell kommt den politischen Akteuren in der Anfangszeit eine exponierte Rolle zu. Umgesetzt wird diese methodisch-theoretische Entscheidung durch das Konzept A.L. Georges, dem nach die politischen Konzeptionen der politischen Akteure maßgeblich für die Gestaltung der Au-ßenpolitik sind. Die Dynamik der Prager Deutschlandpolitik bei der Lösung der aus der Vergangenheit rührenden Fragen ist daher im wesentlichen mit den politischen Konzepten der politischen Akteure, die in der Zeit von 1990 bis 1997 die Außenpolitik der ČSFR bzw. ČR bestimmt haben, zu erklären. Dabei werden die politischen Handlungen der tschechoslowakischen und tschechischen Akteure permanent durch den internationalen Kontext und die innergesellschaftlichen Faktoren, die im Laufe des Prozesses an Bedeutung gewinnen, mitbedingt. Umgekehrt heißt das, daß mit fortschreitender Konsolidierung die persönlichen Prägungen der außenpolitischen Akteure an Relevanz verlieren werden.

„Das Verhältnis zu Deutschland und den Deutschen bedeutet für uns mehr als bloß ei-nes der Themen unserer Diplomatie. Es ist ein Teil unseres Schicksals, sogar ein Teil unserer Identität. Deutschland ist unsere Inspiration wie unser Schmerz; eine Quelle von verständlichen Traumata und vielen Vorurteilen und Irrglauben sowie von Maßstä-ben, auf die wir uns beziehen; einige sehen Deutschland als unsere größte Hoffnung, andere als unsere größte Gefahr. Man kann sagen, daß sich die Tschechen durch ihre Einstellung zu Deutschland und den Deutschen sowohl politisch als auch philosophisch definieren und daß sie durch den Typ dieser Einstellung nicht nur ihr Verhältnis zur eigenen Geschichte, sondern auch den eigentlichen Typ ihres nationalen und staatli-chen Selbstverständnisses bestimmen.“

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Zweiter Teil:

Das tschechisch-deutsche Problem – eine Analyse

Mit den oben zitierten Worten hat Václav Havel in seiner Rede am 17. Februar 1995 an der Prager Karls-Universität die Beziehung der Tschechen zu den Deutschen in ihrer tiefen Widersprüchlichkeit beschrie-ben. Für die Tschechen ist das Verhältnis zu den Deutschen ein Teil der tschechischen Identität. Die über achthundert Jahre währende „Konfliktgemeinschaft“107 und ihr gewaltsames Ende Mitte des 20. Jahrhun-derts haben dieser Nachbarschaft am Anfang der neunziger Jahre eine schwere Hypothek hinterlassen.

Die Beziehungen von Tschechen und Deutschen zu Beginn der neunziger Jahre lassen sich daher nicht nur durch die allgemeinen Problemstellungen der mittel- und osteuropäischen Demokratisierung und des internationalen Wandels verstehen. Das Verhältnis beider Völker ist ein ganz spezifisches, das sich auch in seiner historischen Entstehung und seiner daraus rührenden Komplexität in der Gegenwart von anderen mittel- und osteuropäischen Nachbarschaften unterscheidet. Die Zähigkeit und Dauer der bilateralen Ver-handlungen – ob nun während oder nach dem Ende des Kalten Krieges geführt - weisen es als ein beson-ders schwieriges Verhältnis aus.

Im zweiten Teil dieser Arbeit wird der Frage nachgegangen werden, worin das tschechisch-deutsche Problem besteht. In einem kurzen Abriß wird zunächst die historische Entwicklung der deutsch-tschechischen Beziehung im Verlauf des 20. Jahrhundert skizziert. Vor diesem historischen Hintergrund und ausgestattet mit einer entsprechenden begrifflichen Grundlage, soll im Hauptteil des zweiten Teils der Arbeit, die tschechisch-deutsche Problematik, wie sie in den neunziger Jahren vorzufinden war, ana-lytisch aufbereitet werden. In Anlehnung an die unter 1.3.1 eingeführte Unterscheidung in eine morali-sche, eine rechtliche und eine politische Problemlage wird von der in der Arbeit ansonsten aufrecht er-haltenen Prager Perspektive abgewichen, und die tschechischen und deutschen Positionen werden entlang dieser Ebenen separat dargestellt. Dadurch soll die Unvereinbarkeit der jeweiligen Positionen herausgear-beitet werden, durch die sich die deutschlandpolitische Aufgabe für die ČSFR bzw. die ČR Anfang der neunziger Jahre definierte.

106 Havel, Václav: Tschechen und Deutsche, Rede an der Karls-Universität Prag am 17. Februar 1995, abgedruckt in:

Blätter für deutsche und internationale Politik, 4/1995, S. 505-512.

107 Křen (1996)