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Modell eines idealtypischen Versöhnungsprozesses

2. INTERNATIONALER WANDEL UND GESELLSCHAFTLICHE TRANSFORMATION

2.3 E NTWICKLUNG EINES A NALYSEDESIGNS

2.3.1 Modell eines idealtypischen Versöhnungsprozesses

Die grundlegenden Annahmen des folgenden Modells sind: Versöhnung bezieht sich auf unterschiedliche nachbarschaftliche Problemlagen. Versöhnung ist ein langfristiger Prozeß und verläuft phasenweise.

Versöhnung kann von einer Vielzahl von Faktoren befördert und bzw. behindert werden. Grundlegende Voraussetzung ist, daß die Struktur des internationalen Systems einen solchen Annäherungsprozeß über-haupt ermöglicht. Sind die potentiellen Partner z. B. verfeindeten Allianzen zugeordnet, ist kaum mit dem Willen der Regierung zu rechnen, eine nachbarschaftliche Annäherung auf die außenpolitische Agenda zu setzen. Legt das internationale Klima jedoch eine Zusammenarbeit nahe, so wird eine Annäherung an den Nachbarn aus der Perspektive des nationalen Interesses geprüft. Das nationale Interesse entscheidet dar-über, ob ein solcher Annäherungsprozeß überhaupt wünschenswert und funktional für die Wohlfahrt und Sicherheit des Landes ist. In diese Bewertung fließen Faktoren wie Landesgröße, geopolitische Lage, Wirtschaftspotential und die politische Bedeutung des Nachbarn für das eigene Land mit ein. Erst wenn die Annäherung an den Nachbarn Teil des außenpolitischen Interesses ist, ist ein Versöhnungsprozess erfolgversprechend.

Der Prozeß der Versöhnung kann dann als ein dreidimensionales Modell gefaßt werden, bestehend aus Problemlagen, Erklärungsfaktoren und Prozeßphasen. Die ersten beiden Dimensionen werden im fol-genden zunächst einzeln vorgestellt, um sie schließlich mit einer bestimmten zeitlichen Abfolge, der dritten Dimension, zu verknüpfen.

Problemlagen

Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, daß sich mit Versöhnungsprozessen Problemkomplexe ver-binden, die von der schwierigen Bewertung der gemeinsamen Vergangenheit bis hin zu völkerrechtlichen Fragen reichen. In dem Modell werden daher drei Problemlagen unterschieden: eine rechtliche, eine poli-tische und eine moralische. Nachbarschaftliche Konflikte beruhen zumeist auf diesen drei Problemlagen;

sie müssen im Laufe eines Versöhnungsprozesses geklärt werden, wobei die moralischen und rechtlichen Auffassungen sowie die politischen Interessen innerhalb einer Gesellschaft in einem engen Zusammen-hang stehen und sich gegenseitig bedingen.

Bisher wurde vornehmlich das moralische Problem diskutiert. Es ist gezeigt worden, daß die Neube-wertung der gemeinsamen Geschichte, die Teil eines nachbarschaftlichen Versöhnungsprozesses ist, besondere Schwierigkeiten impliziert, da sie eine Korrektur des eigenen nationalen Selbstverständnisses erfordert. Dies gilt einmal mehr für die Zeit der Transformation, in der das nationale Selbstverständnis oft als „letztes Refugium der Gewißheit“ gilt.

78 Rock (1989)

Eine zweite, in der obigen Diskussion ebenfalls schon erwähnte Problemlage beruht auf einem politi-schen Dissens zwipoliti-schen den Nachbarn. Ein solcher kann entweder aus den gegensätzlichen Interessenla-gen innerhalb einer Gesellschaft erwachsen, oder allgemeine innergesellschaftliche Interessen geraten in Konflikt mit den außenpolitischen Zielen des Landes. In beiden Fällen können wahltaktische Rücksichten dann eine selbstkritische Versöhnungspolitik auf beiden Seiten behindern.

Die Fokussierung auf die moralischen und politischen Probleme lassen oft die rechtliche und völker-rechtliche Dimension solcher Annäherungsprozesse aus dem Blick geraten. Unberücksichtigt blieb in den vorgestellten Analyseansätzen die Tatsache, daß offene Entschädigungsfragen, ungeregelte Minderheiten-rechte oder territoriale Revisionsforderungen einen auf Versöhnung gerichteten Dialog gänzlich blockie-ren und eine Verankerung in den Gesellschaften von vornherein behindern können – trotz des staatlichen Interesses an einer nachbarschaftlichen Annäherung. Obwohl das Spannungsverhältnis von Recht und Gerechtigkeit als eines der Kernprobleme internationaler Versöhnung gilt, hat die Lösung der Rechtsfra-gen in den Versöhnungskonzepten keinen eiRechtsfra-genen Stellenwert erhalten. Erst in jüngster Zeit beschäftigt sich die Forschung auch mit den internationalen gerichtlichen Lösungen wie beispielsweise den Interna-tionalen Kriegstribunalen.79

Deshalb verknüpft sich mit der ersten Dimension des Modells die These, daß diese unterschiedlichen Problemlagen im Rahmen eines Versöhnungsprozesses in einer bestimmten Abfolge gelöst werden müs-sen. Vorausgesetzt, daß das internationale Umfeld eine solche Annäherung erlaubt, und der nachbar-schaftliche Ausgleich Teil der außenpolitischen Agenda wird, beinhaltet eine idealtypische Problemlö-sungsabfolge in einem ersten Schritt die Auflösung der rechtlichen Antagonismen, d.h. die offenen recht-lichen Fragen müssen abschließend geregelt werden. Dabei wird angenommen, daß der Lösung des rechtlichen Dissenses zwischen den beiden Ländern in jedem Fall ein politischer Wille vorausgehen muß.

In einem eng damit verbundenen zweiten Schritt müssen diese rechtlichen Fragen, zumeist auch Zuge-ständnisse, innenpolitisch vermittelt werden. Die klassische Institution dafür ist das Parlament, das sich durch eine Ratifizierungsdebatte mit den von der Regierung getroffenen politisch-rechtlichen Vereinba-rungen auseinandersetzt. Erst zum Schluß, in einem dritten Schritt, können die moralischen Probleme gelöst werden, d.h. die unterschiedlichen Retrospektiven und Bewertungen der gemeinsamen Geschichte können durch einen selbstkritischen Diskurs einander angenähert werden. Hinter dieser Abfolge steht die Überlegung, daß ein auf Versöhnung und nachbarschaftliche Verständigung gerichteter Dialog nur auf der Grundlage abschließend geregelter politischer und rechtlicher Fragen erfolgreich sein kann! Bevor der in der Literatur und den Medien angemahnte wahrheitsverpflichtete Dialog eine gesellschaftlich relevante Dimension erreichen kann, müssen sich die Partner sicher sein, daß ihren Eingeständnissen weder rechtli-che Sanktionen noch ein Machtverlust folgen wird. Es gilt also, eine „ideale Gesprächssituation“ zu schaffen, d.h. einen machtfreien Raum, wie ihn Jürgen Habermas für eine konstruktive Verständigung als notwendig postulierte.80 Dem Einwand, daß – wie oben ausgeführt – eine rechtliche Regelung aufgrund des fehlenden gemeinsamen Regelsystems geradezu eine moralische Auseinandersetzung voraussetzt, muß entgegengehalten werden, daß die Suche nach gemeinsamen Maßstäben immer davon bedroht sein wird, daß moralische Eingeständnisse für Ansprüche materieller Art instrumentalisiert werden. Es bedarf daher eines politisch gesteuerten Kompromisses, um die sachlich-rechtlichen Probleme beizulegen.

79 Kritz Neil: Transitional Justice, Band I/II, Washington D.C. 1995.

80 Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a.M. 1981.

Erste These:

Die Lösung der nachbarschaftlichen Probleme muß in einer bestimmten Abfolge erfolgen.

1. rechtliche Probleme

2. politische Probleme

3. moralische

Probleme Versöhnung

Abbildung 1

Erklärungsfaktoren

Die zweite Dimension des Versöhnungsmodells bezieht sich auf die Faktoren, die den Prozeß vorantrei-ben bzw. behindern, und welche dann von der Forschung zur Analyse von mehr oder weniger erfolgrei-chen Versöhnungsprozessen herangezogen werden sollten. Ein Versöhnungsprozeß gilt nach Gardner Feldman als erfolgreich, wenn die gemeinsame Vergangenheit den Dialog zwischen den Nachbarn nicht mehr behindert, sondern die Differenzen zur Diskussion einladen und Geschichte zur „konstruktiven Irritanten“81 wird. Anders formuliert heißt das, das Ziel der Versöhnung ist erreicht, wenn sich Nachbar-gesellschaften mit den moralischen Problemen, die zwischen ihnen existieren, auf konstruktive Weise auseinandersetzen. Im Zuge der Lösung der rechtlichen und politischen Problemlagen ließen sich auch Teilerfolge formulieren, durch die ein solcher Dialog erst sukzessive ermöglicht wird.

Dabei ist zu vermuten, daß die Lösung der verschiedenen Probleme von unterschiedlichen Faktoren bedingt wird. In den diskutierten Ansätzen Deutschs, Galtungs und Rocks wurde die nachbarschaftliche Annäherung als Funktion struktureller und interessenspezifischer Voraussetzungen analysiert, in den Ansätzen von Gardner Feldman und Montvilles in Abhängigkeit von unterschiedlichen politischen, insti-tutionellen und gesellschaftlichen Kräften erklärt. Um das Modell nicht zu komplex zu gestalten, wird die Vielzahl der möglichen Einflußfaktoren unter drei Variablen subsummiert.

Die erste Variable sind die politischen Akteure. In Anerkennung von Montvilles „two-track-diplomacy“82 gehören hierzu auch die Hintergrundakteure, welche auf dem „zweiten Gleis“, auf diplo-matischer und gesellschaftliche Ebene, entscheidende Vorarbeit leisten. Von den Kenntnissen und Fähig-keiten dieser Akteure hängt es maßgeblich ab, ob die innen- und außenpolitischen Interessenlagen inte-griert werden können, und wie der rechtliche Dissens gemildert werden kann. Die Aufgabe der Politiker in einem Versöhnungsprozeß ist es, die ideale Gesprächssituation für den nachbarschaftlichen Dialog zu schaffen. Versöhnung ist also keine originäre Leistung der Außenpolitik, sie kann sie jedoch durch die Schaffung bilateraler Rahmenbedingungen befördern.

Die zweite Variable bilden die Institutionen, die im Sinne einer Scharnierfunktion den Versöhnungs-prozeß zwischen den politischen Akteuren und der Gesellschaft vermitteln können. Institutionen können die Entwicklung gleichermaßen behindern und befördern. So lange sie gesellschaftliche Interessen ver-mitteln, die einem Versöhnungsprozeß ablehnend gegenüberstehen, können sie den offiziellen Annähe-rungspozeß nachhaltig blockieren. Werden sie jedoch zum Träger eines gesellschaftsübergreifenden Dia-logs, wie es Jugendwerke, Historikerkommissionen, zweisprachige Gymnasien und bilaterale Handels-kammern tun, werden die Institutionen zu den eigentlichen Transformatoren, die einen politischen Prozeß in einen gesellschaftlichen übertragen. Die Existenz institutioneller Verflechtungen, ihre Verbreitung in

81 Vgl. Gardner Feldman (1999a: 335).

82 Montville (1991)

der Gesellschaft und die Dauer ihres Wirkens sind wesentliche Faktoren bei der gesellschaftlichen Veran-kerung des Versöhnungsgedankens.

Schließlich kommt der Gesellschaft als dritter Variablen eine eigene Bedeutung zu. Es ist von den in-dividuellen und gesellschaftspolitischen Akteuren abhängig, inwieweit sie den politisch-rechtlichen Frei-raum für einen gesellschaftsübergreifenden Diskurs nutzen und ihn auch von „unten“ institutionell festi-gen.

Die Variablen politische Akteure, Institutionen, und Gesellschaft müssen als Oberbegriffe verstanden werden, die für die konkrete Analyse weiter zu spezifizieren sind. Im Laufe eines Versöhnungsprozesses und den sich wandelnden Problemstellungen kommt ihnen jeweils unterschiedliche Erklärungskraft zu.

Die These, die sich mit der zweiten Dimension des Modells verbindet und damit an die Diskussion im vorangegangenen Abschnitt anknüpft, ist, daß ein Versöhnungsprozeß eine von der politischen Elite in-itiierte Entwicklung ist, die sich über die intermediären Institutionen hinweg im Laufe der Zeit in der Gesellschaft verankert. Es sind also die politischen Eliten, die den Weg für eine nachbarschaftliche An-näherung bereiten. Wo dieser politische Wille auf höchster Ebene fehlt, erhält die nachbarschaftliche Aussöhnung nie die Dynamik und gesellschaftliche Fundierung, wie sie zumindest für die deutsch-französischen Beziehungen konstatiert werden kann.

Zweite These:

Ein nachbarschaftlicher Versöhnungsprozeß wird von der politischen Elite initiiert und über intermediäre Institutionen in der Gesellschaft verankert.

1. politische Akteure (Funktionsträger, Hintergrundakteure)

2. intermediäre Institutionen (Parteien, Kirchen, Verbände)

3. Gesellschaft

Versöhnung

Abbildung 2

Prozeßphasen

Mit der Annahme einer bestimmten Problemlösungsabfolge und eines von oben initiierten Versöhnungs-verlaufs ist die zeitliche Dimension im Versöhnungsmodell bereits impliziert. Versöhnungsprozesse fin-den praktisch wellenartig statt.83 Sie sollen daher idealtypisch als ein Drei-Phasenmodell beschrieben

83 Nach Alfred Grosser fand z. B. die deutsch-französische Versöhnung „wellenweise“ statt. Eine erste Welle, zwischen 1945-49, wurde von einigen wenigen Pionieren initiiert, eine zweite Welle regten die sogenannten Eu-ropäer, wie Robert Schuman, an, und eine dritte versuchte seit den späten 50ern den französischen Nationalismus für die deutsch-französische Versöhnung zu kanalisieren. Vgl.: Grosser, Alfred: French Foreign Policy under de Gaulle, 1965.

werden, in dem den Phasen nicht nur unterschiedliche Probleme des nachbarschaftlichen Konfliktes, sondern auch unterschiedliche Erklärungsfaktoren zugeordnet werden können.

Wenn die internationale Situation eine solche Annäherung erlaubt bzw. wünschenswert erscheinen läßt, und nachdem sie in die außenpolitische Agenda aufgenommen wurde, beginnt die erste Phase des Versöhnungsprozesses, die zunächst nur als bilaterale Annäherung auf diplomatischer Ebene erfolgt. In dieser Phase geht es vor allem darum, die offenen rechtlichen Fragen zu lösen. Die Gestaltung dieser Aufgabe hängt dabei maßgeblich von der Motivation und der Kompetenz der politischen Akteure ab. In einer zweiten Phase muß der eingeschlagene außenpolitische Kurs innenpolitisch vermittelt werden. Auch diese Aufgabe ist noch maßgeblich von den staatlichen Akteuren abhängig, bedarf jedoch ebenso der institutionellen und parteipolitischen Unterstützung. Ohne ein konstruktives Zusammenspiel dieser beiden Faktoren kann der Vermittlungsprozeß nach innen scheitern. Erst in der dritten Phase kann sich eine selbstkritische Diskussion innerhalb und zwischen den Gesellschaften um eine Neubewertung der ge-meinsamen Vergangenheit bemühen. In dieser Zeit stellen die länderübergreifenden intermediären Insti-tutionen wichtige Foren der Verständigung dar. Die Verbindung dieser drei Dimensionen als eine dreiek-kige Pyramide verdeutlicht die dem Versöhnungsmodell zugrundeliegende Idee eines sich immer weiter vertiefenden und verbreiternden Versöhnungsgedankens in der Gesellschaft.

Versöhnungsmodell

Versöhnung rechtlicheProbleme

politische Probleme

moralischeProbleme

politische Akteure

Institutionen

Gesellschaft Konflikt

Abbildung 3

Diese verschiedenen Phasen des Annäherungsprozesses müssen nicht notwendigerweise alle aufeinander-folgen. Nicht jeder internationale Spielraum wird von den Staaten für eine Annäherungspolitik genutzt werden, nicht immer werden die staatlichen Bemühungen durch einen gesellschaftlich verankerten Dialog komplettiert. Es wird jedoch vermutet, daß ein erfolgreicher Versöhnungsprozeß entlang der im Modell vorgegebenen Problemlösungsabfolge verläuft und jeweils unterschiedliche Erklärungsansätze impliziert.

Anders formuliert, eine gesellschaftlich verankerte Versöhnung, ist gegen internationale Strukturen, ohne

den politischen Willen der staatlichen Akteure und institutionelle Unterstützung nur schwer denkbar.

Argumenten, die für ein Modell der „Versöhnung von unten“ sprechen und dabei auf solche herausragen-den Gesten wie beispielsweise herausragen-den Brief der polnischen Bischöfe von 1965 verweisen, muß entgegenge-halten werden, daß der selbstkritische Geschichtsdiskurs zunächst auf eine kleine Elite beschränkt blieb.

Um beim polnisch-deutschen Verhältnis zu bleiben: es bedurfte erst das Endes des Kalten Krieges und nicht zuletzt die endgültige Anerkennung der deutsch-polnischen Grenze bis sich in beiden Ländern ein selbstkritischer Umgang mit der gemeinsamen Vergangenheit durchsetzen konnte.84