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3. PARADIGMATISCHE WORTBILDUNGSANALYSE: THEORETISCHE FRAGEN

3.5 Wortbildung und Polysemie

ln den folgenden zwei Abschnitten sollen jene Probleme behandelt werden, die für die Wortbildungsanalyse m it der Polysemie (bzw. Homonymie, Vagheit) des ablei- tenden oder des abgeleiteten Wortes verbunden sind.

3.5.1 Die M ehrdeutigkeit der ableitenden W örter

W ir verwenden hier Mehrdeutigkeit als O berbegriff für folgende semantische Bezie- hungen:

a) Homonymie: banka *stekljannyj ili m etalličeskij sosud cilindričeskoj form y' ,Einmachglas', *v reči m orjakov, rybakov — doska dlja sidenija grebcov v lodke’

,Ruderbank’, ,vozvysennyj učastok morskogo dna; podvodnaja otmel'’ *Sandbank*.

b) Polysemie: fljaga ,ploskij sosud, inogda opletennyj iii obśityj čem-1., prispo- soblennyj dlja nošenija s soboj* ,Feldflasche1, ,bolsoj sosud s ruckami dlja perevozki židkostej; bidon’ ,Kanister’; bljudo ‘stolovaja posuda v vide bolsoj tarelki dlja podači kusanja* *flache Schüssel, Schale״, ‘otdelnoe kušane iz čisla sostavljajuscix obed, zavtrak, ili užin’ 'G ericht, Gang״. Im ersten Beispiel beruht die Polysemie auf einer metaphorischen, im zweiten auf einer metonymischen Beziehung.

c) Vagheit: diese kommt grundsätzlich jedem W ort im Sprachgebrauch zu. Die Kriterien, m it denen sie von der Polysemie abgegrenzt werden kann, werden bei C r u s e 1986: 54sqq. und Z w ic k y / S a d o c k 1975 diskutiert. A u f der Ebene des Sprachgebrauchs entspricht der Vagheit ein Phänomen, das w ir m it C r u s e 1986: 53 als highlighting (bzw. backgrounding) semantischer Merkmale bezeichnen wollen: in razbit' banku w ird das M aterial, in varene v bankax die Funktion von banka in den Vordergund der Aufm erksam keit gerückt.

Es ist bekannt, daß die Abgrenzung dieser Erscheinungen voneinander sowohl in 130

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131 schiedenen semantischen Einheiten auch verschiedene Wortbildungsparadigmen zuordnen, in welchen Fällen nicht? Bei den Homonymen w ird uns die Entscheidung bereits durch die Struktur des SSS (und der ihm zugrundeliegenden Wörterbücher) abgenommen: jedes W ort erhält sein eigenes Wortbildungsparadigma. Dagegen kommt bei Fällen von Vagheit bzw. highlighting eine Aufspaltung der W ortbildungs- paradigmen nicht in Betracht: da das ableitende W ort prinzipiell in jeder Ableitung unter einem verschiedenen B lickw inkel betrachtet w ird, würde eine solche Lösung hier zu einer vollständigen Atom isierung der W ortbildungsparadigmen führen.

V or ein echtes Dilemma stellen uns dagegen ableitende W örter, die polysem sind;

die Entscheidung zwischen der Bewahrung der Einheit des Wortbildungsparadigmas und seiner Aufspaltung unter A ufteilung der Ableitungen auf die einzelnen Bedeu- tungsvarianten des ableitenden Wortes ist hier nicht einfach, und w ir werden zeigen, daß sie nur nach Plausibilitätskriterien getroffen werden kann. Dazu bemerken w ir, daß sich die Polysemie des ableitenden Wortes im abgeleiteten W ort auf zweierlei Weise niederschlagen kann: sie kann entweder erhalten oder aufgelöst werden. Was damit gemeint ist, kann am besten durch einige Beispiele gezeigt werden.

Zu fljaga verzeichnen die Wörterbücher die beiden Bedeutungen 'Feldflasche' und ,Kanister'. In fljagomojka 'Kanisterepülmaschine\/Zyago/noecrtyy ‘Kanisterspül-’ ist die Mehrdeutigkeit von fljaga aufgelöst, da die Basis in sie nur in einer ihrer Bedeu- tungsvarianten eingeht. Im A d je ktiv flja in yj ist diese M ehrdeutigkeit dagegen erhal- ten, da durch dieses W ort ein Bezug sowohl auf Feldflaschen als auch auf Kanister ausgedrückt werden kann, wobei der situative und sprachliche Kontext (in erster Linie das Substantiv, m it dem flja in yj verbunden w ird) die Entscheidung fü r das eine oder das andere ermöglicht: man vergleiche in dieser Hinsicht flja in yj cexolי

fljainaja prohka (‘Futteral, Korken einer Feldflasche') m it f ljainoe moloko (,Ka- nisterm ilch'; alle Beispiele aus dem M AS). Ä hnlich liegen die Dinge bei kotel, w ofür M AS folgende Definitionen bietet: *metalličeskij sosud okrugloj form y dija varki pisci ili kipjačenija vody' und 'zakrytyj sosud dija polučenija para iz vody'12. Die Mehrdeutigkeit ist in kotlopunkt ,stolovaja na lesoseke, polevom stane i td.1 ,Feldkü- che' zugunsten der ersten, in kotloturbinnyj ,Kesselturbinen-’ zugunsten der zweiten Bedeutungsvariante aufgelöst; in kotlovyj ,Pril. к kotel (v I i 2 znač.)׳ ist sie dagegen erhalten.

Am Wortbildungsparadigma von kotel läßt sich übrigens zeigen, daß die Zuordnung einer Ableitung zu einer der Bedeutungsvarianten des ableitenden Wortes auch dann Schwierigkeiten bereiten kann, wenn die Ableitung selbst nicht polysem ist; in den

12 Eine dritte Bedeutungsvariante 'voen. polnoe okruženie (b o lsix grupp vojsk)׳

spielt in der W ortbildung keine Rolle und findet deshalb hier keine weitere Berück*

sichtigung.

metaphorischen Ableitungen kotlovan ‘Baugrube’ und kotlovina 'Kesselschlucht’ ist es müßig zu fragen, ob Ä hnlichkeit m it einem Koch- oder einem Dampfkessel ge- meint ist, da sich Koch- und Dampfkessel in erster Linie (wenn auch nicht aus- schließlich) durch die Funktion unterscheiden, während das tertium comparationis der genannten Ableitungen in der Form liegt. Es w ird bei einem W ort wie kotlovan auch nicht m öglich sein, aufgrund des Satzkontextes zu entscheiden, ob nun die

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gegebene Bodensenkung größere Ä hnlichkeit m it einem Dampf* oder einem Koch- kessel hat13. Würde man sich zu einer Aufspaltung des Wortbildungsparadigmas von kotel entscheiden, so müßte man nicht nur Fälle wie kotlovyj, sondern auch kotlovan und kotlovina sowohl dem Wortbildungsparadigma der Bedeutungsvariante 'Dampf- kessel1 als auch dem Wortbildungsparadigma der Bedeutungsvariante ,Kochkessel’

zuordnen.

W ir wollen nun zeigen, daß die Entscheidung über die Aufspaltung eines W ort- bildungsparadigmas zugleich eine Entscheidung über die Abgrenzung des Gegen- standes der W ortbildung ist; sie kann deshalb im Rahmen der Wortbildungsanalyse selbst nicht getroffen werden. W ir wollen unsere These wieder an einem Beispiel entwickeln.

W ie die meisten Nutzpflanzen hat auch kartofel eine doppelte Bedeutung, indem es sowohl die gesamte Pflanze als auch deren T eil, die Knolle, bezeichnet: '1. ogorod- noe rastenie sem. paslenovyx, ovošč. [...] 2. sobir. podzemnye klubni étogo rastenija, upotrebljaemye v pišču'. Im Wortbildungsparadigma dieses Substantivs finden w ir das Kompositum kartofelexranilisce ‘K artoffelm iete״ und die Ableitung kartofljanišče ,(abgeemtetes) K a rtoffe lfeld״. Bei deren Behandlung stehen zwei logisch gleichbe- rechtigte Wege offen:

a) Man tastet die Einheit des Wortbildungsparadigmas von kartofel״ nicht an und setzt auf Grund der Opposition zwischen kartofelexranilisce und kartofljanišče zwei verschiedene W ortbildungskategorien an, deren Inhalt etwa m it ,Lager- Vorrichtung fü r...״ und 'Feld, auf dem ... gewachsen ist’ wiederzugeben wäre. Die beiden Bedeutungen des ableitenden Wortes erscheinen dann als kombinatorische Varianten, deren W ahl von dem Charakter des Formanten abhängt: das Endprodukt w ird gelagert, die Pflanze angebaut.

b) Man stellt für jede der beiden Bedeutungen von kartofel' ein eigenes W ort- bildungsparadigm a auf. N ichts spricht dann dagegen, kartofelexranilišče und kartofljanišče als Realisationen ein und derselben W ortbildungskategorie anzusehen, deren nunmehr recht abstrakter Inhalt m it ,O rt, wo sich ... befindet’ umschrieben

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werden könnte. Jetzt sind die beiden Bedeutungen ‘Lagervorrichtung' und ‘Feld’

(bzw. die onomasiologischen Kopulae ‘lagern’ und ‘anbauen’) kombinatorische Va- rianten der Wortbildungskategorie, die in Abhängigkeit vom lexikalischen Charakter der Ableitungsbasis gewählt werden: handelt es sich um die Pflanze, so ist der Ort, an dem sie sich naturgemäß befindet, das Feld; ist die Rede von ihrer bereits geemte- ten K nolle, so kann nur ein Lagerraum gemeint sein.

Auch hier geht es letzten Endes um nichts anderes als um die Grenze, die W ort- bildung und Lexikologie trennt: die erste Lösung verschiebt diese Grenze zugunsten der W ortbildung (die Wortbildungsbedeutungen werden konkreter, lexikalischer), die zweite zugunsten der Lexikologie. Eine Entscheidung fü r die eine oder die andere Lösung setzt voraus, daß man diese Grenze nach einem systemextemen Gesichts- punkt bereits gezogen hat. Dies ist immer dann der Fall, wenn etwa behauptet w ird, bestimmte Bedeutungen seien fü r die D efinition der W ortbildungskategorien nicht abstrakt genug: es dürfe zwar nomina loci, aber keine nomina agri geben. Man muß sich jedoch darüber im klaren sein, daß man m it solchen apriorischen Behauptungen keine empirischen Aussagen über das Wortbildungssystem einer bestimmten Sprache trifft, sondern nur den Gebrauch des Terminus ‘W ortbildungskategorie1 auf mehr oder weniger sinnvolle, aber prinzipiell w illkü rlich e Weise festlegt.

Eine zweite M öglichkeit, eine Entscheidung in unserem Fall herbeizuführen, bestün- de darin, die Ausdrucksseite zur Richtschnur zu nehmen: die erste Lösung wäre demnach deshalb vorzuziehen, weil ja der semantische Unterschied zwischen kartofelexranilisce und kartofljanišče nicht am Wortstamm von kartofel\ sondem an dessen Erweiterungen zum Ausdruck komme. Dieses K riterium scheint auf den ersten B lic k unanfechtbar, ist jedoch ebenso problematisch wie das erste, da es das sprachliche Zeichen nicht durch seinen Wert (valeur), sondern durch seine Aus- drucksseite (und damit wieder von einem systemextemen Standpunkt aus) zu de- finieren versucht. Es ist offensichtlich, daß ein und dieselbe W ortbildungskategorie durch mehrere W ortbildungsm ittel, ja sogar durch mehrere W ortbildungsarten ausge- drückt werden kann, und daß umgekehrt hinter ein und derselben Ausdrucksseite des Wortstammes oft eine Vielzahl von Bedeutungen steht: nicht umsonst hat man vom asymmetrischen Dualismus des sprachlichen Zeichens gesprochen (SERGEJ K a r - CEVSKIJ; cf. die Einleitung dieser Arbeit).

Das Dilemma, vor dem w ir stehen, w ird übrigens bei D e b a t y - L u c a 1986: 173sqq.

auf eine unzulässige Weise vereinfacht. D e b a t y - L u c a stellt einen Gegensatz auf zwischen den wahren Oppositionen, in denen die lexikalische Bedeutung der Basis identisch bleibt und nur die W ortbildungskategorie wechselt, und den Pseudoop- Positionen, denen unterschiedliche Bedeutungsvarianten der Basis zugrundeliegen.

Als ein Beispiel der letzteren dienen ihm die Paare der deverbalen Substantive auf -ment und ־age im Französischen: abattage/abattement, éclaircissage/éclaircissement etc. Im Gegensatz zwischen diesen beiden Suffixe hat man oft den Ausdruck einer

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aspektuellen Opposition sehen wollen. Im Verbalabstraktum auf -ment erscheine die Handlung als ein abgeschlossenes Ganzes: es sei also als perfektiv {punktuell, term i- nativ) anzusehen; -age stelle dagegen die Handlung in ihrem Verlaufe dar und müsse deshalb als im perfektiv (d u ra tiv, ite ra tiv) bezeichnet werden (p. 177-188).14 De b a t y- Lu c a bemerkt dazu auf p. 179 seiner Théorie fonctionnelle de la suffixation:

Nous sommes en présence de "pseudo-oppositions"; les bases des dérivés ein -age et celles des dérivés ein -ment ne sont pas absolument identiques. Suivant les cas, l’aspect durativ, iteratív ou concret est dans abattre ‘faire tomber, tuer’, [...], é c la irc ir 'rendre moins sombre, rendre moins dense’, [...1; l’aspect ponctu- el, te rm ina tif ou abstrait réside dans abattre ‘ôter les forces', é c la irc ir ‘rendre cla ir pour l’esprit’ [...]. En somme, on a coutume de projeter sur -age et -ment

— au sens presque psychologique du terme — des qualités qui leur sont absolu- ment extérieures.

W er entscheidet jedoch, daß Bedeutungselemente wie ‘durativ’ oder ‘abstrakt’ der W ortbildung absolut fremd sind und nur in die Semantik der Ableitungsbasen einge- hen?

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A ls Ergebnis unserer Überlegungen halten w ir fest, daß bei polysemen ableitenden W örtern sowohl die Aufspaltung des Wortbildungsparadigmas als auch die Bewah- rung seiner Einheit legitim e Entscheidungen sind, die vor Beginn der W ortbildungs- analyse getroffen werden müssen. W ir haben uns bemüht, jede der fü n f untersuchten Kategorien nach einheitlichen Gesichtspunkten zu behandeln, und werden unsere Entscheidungen im nächsten Kapitel von Fall zu Fall begründen.

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3.5.2 Die M ehrdeutigkeit der Ableitungen

B ei der A u fs te llu n g der W o rtb ild u n g s p a ra d ig m e n haben w ir W ö rte r, d ie in allen F le x io n s fo rm e n m ite in a n d e r absolut id e n tisch sin d , im SSS je d o c h in getrennten L em m ata a n g e fü h rt w erden, zu einem e in zig e n Lexe m zusammengefaßt. W egen ih re r Z u g e h ö rig k e it zu e in und derselben W o rtfa m ilie w eisen solche W ö rte r stets gewisse B edeutungsüberschneidungen a u f und sind deshalb vom S tandpunkt der allgem einen L e x ik o lo g ie aus n ic h t als h o m o n ym , sondern als polysem anzusehen. In der W o rt- b ild u n g s le h re sp ric h t m an m eist von (W o rtb ild u n g s )h o m o n y m ie ; dieser B e g riff hat a lle rd in g s b isla n g sehr unte rsch ie d lich e Interp re tatione n erfahren ( Tix o n o v 1971, So b o l e v a 1980, Tix o n o v/Pa r d a e v 1989: 46sqq., A x m a n o v a 1974). W ir w o lle n

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überlegen, wie er im Rahmen der bislang gemachten Ausführungen sinnvoll definiert werden kann.

Das Prinzip der Ökonomie verbietet uns, semantische Oppositionen, die durch keine formale Opposition zum Ausdruck gebracht werden, zur Grundlage der Aufspaltung von Ableitungen und ihrer Zuordnung zu verschiedenen W ortbildungskategorien zu machen. Falls jedoch die betreffende semantische Opposition in anderen W ort- bildungsparadigmen von einer formalen Opposition begleitet w ird, so sind w ir berechtigt, W ortbildungskategorien aufzustellen, m it denen auch polyseme (oder homonyme — auf den Unterschied kommt es hier nicht an) W örter ein und desselben Wortbildungsparadigmas voneinander abgegrenzt werden können. So erm öglicht uns etwa der formale Gegensatz zwischen dem Dem inutivum gorošek und dem Singulati- vum gorošina auch klubnička, malinka oder smorodinka, die nach Aussage der W ör- terbücher sowohl Deminutiva als auch Singulativa sind, in je zwei verschiedene Ableitungen aufzuspalten.

W ir werden Paare abgeleiteter W örter, deren M itglieder auf diese Weise voneinander abgegrenzt wurden, schlechthin als Wortbildungshomonyme bezeichnen. P rinzipiell ließe sich auch in diesem Bereich ein Unterschied zwischen Polysemie und Hom ony־

mie treffen ־־ je nachdem, wie groß der A nteil der gemeinsamen semantischen Komponenten der Wortbildungskategorien ist, denen die beiden Ableitungen angehö- ren; diese Unterscheidung ist jedoch fü r die Konstitution der W ortbildungskategorien selbst ohne Belang und w ird deshalb hier nicht weiterverfolgt.

Unser Vorgehen entspricht also auch in diesem Fall der Grundvoraussetzung der paradigmatischen Wortbildungsanalyse: der Annahme, daß allen Ableitungen einer bestimmten Gruppe von Wörtern dasselbe abstrakte W ortbildungsparadigma (dassel- be System von W ortbildungskategorien) zugrundeliegt. Dam it w ird auch die Pa- rallelität zwischen W ortbildungs- und Flexionsparadigmen gewahrt: auch im Bereich der Deklination bleibt ja der Synkretismus zweier Kasus in einem einzelnen Párádig- ma so lange unberücksichtigt, wie der Unterschied zwischen ihnen in anderen Para- digmen derselben Sprachstufe belegt ist. (Bei dieser Gelegenheit wollen w ir darauf hinweisen, daß der Eindruck der Regelmäßigkeit, den die Flexionsparadigmen im Gegensatz zu den Wortbildungsparadigmen hervorrufen, zu einem nicht geringen Teil darauf zurückzuführen sein dürfte, daß im Bereich der Flexion die Synkretismen sowie die Defektivität vieler Paradigmen zugunsten eines weitgehend fiktive n Nor- malsystems ausgeklammert werden15.) Es darf allerdings nicht verschwiegen werden, daß die Aufspaltung der Wortbildungshomonyme nach unserem K riterium von einem lexikologischen Standpunkt aus nicht ganz gerechtfertigt ist: sie entspricht den Polysemiekriterien, die bei Z w ic k y / S a d o c k 1975: 4-7 unter dem T itel appeals to semantic differentiae behandelt werden und als äußerst unzuverlässig gelten. Aus der

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15 Zum B e g riff des Normalsystems s. Hj e l m s l e v 1935/37: l,81sqq.

Tatsache, daß eine semantische Opposition an bestimmten Stellen des lexikalischen Systems einer Sprache form al m arkiert ist, kann man nicht ohne weiteres schließen, daß w ir es in den Fällen, in denen sie unausgedrückt bleibt, m it Polysemie und nicht m it Vagheit zu tun haben. Um dies an einem Beispiel zu verdeutlichen: im Bereich der Gewässerbezeichnungen des Russischen w ird die semantische Opposition ‘künst- lieh :: natürlich' durch das Paar kanal :: reka repräsentiert. Es wäre unzulässig, daraus den Schluß zu ziehen, vodopad sei ein polysemes Lexem m it den beiden Bedeutungen '1. künstlicher, 2. natürlicher W asserfall’. Vielm ehr ist vodopad im H in b lick auf diese semantische Opposition einfach vage (nichtspezifisch).

Es ist deshalb zu betonen, daß w ir die nach dem hier aufgestellten Verfahren ge- trennten W ortbildungshomonyme nicht ohne weiteres als Fälle von lexikalischer Polysemie ansehen dürfen. Für die W ortbildung sind sie durch ihre Zugehörigkeit zu unterschiedlichen W ortbildungskategorien eindeutig als zwei verschiedene Einheiten gekennzeichnet; ob sie auch im lexikalischen System des Russischen als solche fungieren, ob also die Lexik die M öglichkeiten, die ihr die W ortbildung zur V erfü- gung stellt, an diesen Stellen voll ausnutzt, müßte getrennt untersucht werden.

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