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1. WÖRTER FÜR SACHEN

1.3 Zum Material der vorliegenden Untersuchung

Unsere bisherigen Ausführungen haben gezeigt, daß natürliche Kategorien ein hohes Maß an innerer Strukturiertheit aufweisen. Die Schwierigkeit, bei der Beschreibung der Semantik konkreter Substantive die sprachliche von der außersprachlichen (enzyklopädischen) Dimension zu trennen (Kapitel 1.1), rechtfertigt unsere Hinwen- dung zur psychologischen Forschung (Kapitel 1.2); sie w irft jedoch zugleich die Frage auf, auf welche Weise die psychologischen Befunde in die sprachwissen- schaftliche Analyse integriert werden können. W ir haben uns in dieser A rbeit dafür entschieden, bei der Auswahl des Materials der V ie lfa lt natürlicher Kategorien

Rechnung zu tragen, bei dessen Analyse jedoch von allen Unterschieden zwischen einzelnen Kategorien bzw. Kategorienmitgliedem abzusehen.

Tatsächlich sind die Kategorien, die in dieser Arbeit untersucht werden, in ihrem inneren Aufbau recht unterschiedlich:

• die Kategorie pticy (Vögel) ist eine taxinomisch-biologische Kategorie von natural kinds, die untereinander starke perzeptuelle Ähnlichkeiten aufweisen.

Der taxinomische Charakter dieser Kategorie wird bereits aus den den W örter- bucherklärungen im M AS deutlich: in der Regel bestehen sie aus einem Eingangsteil, den man als verkürzte taxinomische Prädikation auffassen kann (zum B e g riff der taxinomischen Prädikation s. Ar u tju n o va 1980: 197-201), und einem Hauptteil, der enzyklopädischen Charakter trägt und gewissermaßen beliebig erweiterbar ist, z.B.

IV O L G A 'Lesnaja pevčaja ptica otrjada vorob’inyx, s opereniem želtogo i čemogo ili zelenovatogo cveta'.

• der Zusammenhalt der Kategorie posuda (Küchengeschirr und Besteck) w ird in erster Linie durch konkret-situative Beziehungen zwischen den einzelnen M itgliedern gewährleistet.

• die Kategorie sredstva peredviienija (Fortbewegungsmittel) ist rein funktional bestimmt. An dieser Stelle sei angemerkt, daß sich hinter funktionaler Gemeinsamkeit sowohl eine metonymische als auch eine metaphorische Beziehung verbergen kann, je nachdem, ob die fraglichen Gegenstände ihre Funktion in einer bestimmten Situa- tion gemeinsam erfüllen oder nicht. Im ersten Fall kann man von funktional-situati- ven, im zweiten von kategorial-funktionalen Begriffen sprechen; danach wäre die Kategorie posuda als funktional-situativ, die Kategorie sredstva peredviienija als kategorial-funktional zu bezeichnen.

• bei den Kategorien frukty (Obst) und ovošči (Gemüse) treten schließlich alle drei Gesichtspunkte ״ der taxinomisch-biologische, der funktional-situative und der kategorial-funktionale -- gemeinsam auf. So haben etwa die Versuchspersonen von R.M. F ru m k in a die Zusammenfassung von arbuz und dynja sowohl durch perzeptu- eile Ä hnlichkeit ("bolsoe, vkusnoe, sočnoe״) als auch durch gemeinsamen Ursprung ("baxcevye rastenija״) begründet; bei kartofel\ morkov\ svekla, rediska, red'ka, repa, brjukva hört man Begründungen wie "ogorodnye", "[rastut] pod zem lej", "vyrastajut v tot ze god pośle togo, как ix posadili", aber auch "s-edobnye ovošči ili kom i gomogennoj i plotnoj konsistencii", bei bakłażany und kabački die Begründung

״vmeste edjatsja" etc. (F ru m k in a et al. 1991: lOOsq.).

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Ein Produktionsexperiment, das w ir im September und Oktober 1993 in Moskau durchgeführt haben (s.u.), brachte erwartungsgemäß in allen fü n f Kategorien ein hohes Maß an horizontaler Profilierung (Exemplar-Dominanz) zutage: Substantive wie vorobej, tarelka, avtobus, jabloko und kapusta fehlten auf fast keinem Fra- gebogen, Substantive wie kokos, репка, artišok, drezīna, čerpak wurden nur von vereinzelten Versuchspersonen genannt. Keine experimentellen Daten besitzen w ir dagegen über die Stellung unserer Kategorien auf der vertikalen Achse der Kategori- sierung. V ie r davon {posuda, sredstva peredviienija, ovošči, frukty) stehen m it Sicherheit oberhalb des basic level; bei der fünften {pticy) sind die Verhältnisse kom plizierter — wahrscheinlich sind sowohl ptica als auch einige seiner Hyponyme (vor allem Hausvögel) auf dem basic level anzusiedeln. Die Aufgabenstellung unserer Arbeit war m it der Einbeziehung von Kategorien unterhalb des basic level, die selber keine oder nur wenige monolexematische Unterkategorien besitzen, nicht zu verein- ׳ baren.

Nun liegt gewiß die Frage nahe, ob solche Unterschiede zwischen den natürlichen Kategorien von Unterschieden im W ortbildungsverhalten der entsprechenden kon- kreten Substantive begleitet werden. Soll die W ortbildungsanalyse eine zuverlässige Grundlage für die Beantwortung dieser Frage abgeben, so muß sie selbst von allen Unterschieden zwischen den einzelnen Kategorien bzw. ihren M itgliedern absehen.

Es ist verführerisch, die Wortbildungsparadigmen der funktionalen Kategorie sredstva peredviienija nach anderen Prinzipien zu analysieren als die der biologischen Katego- rie pticy oder bei der Aufstellung von W ortbildungskategorien Ableitungen zentraler M itglieder wie jabloko und vorobej stärker zu gewichten; in diesem Fall wäre jedoch die Ausgangshypothese (die Korrelation zwischen W ortbildungs- und Kategorien- struktur) als Voraussetzung in die Wortbildungsanalyse selbst eingegangen und könnte nicht mehr m it ihrer H ilfe überprüft werden. W ir werden deshalb in den folgenden Kapiteln alle Wortbildungsparadigmen nach denselben Prinzipien be- handeln und jede Berufung auf die in diesem Kapitel diskutierte quantitative und qualitative Variation im Bereich der natürlichen Kategorisierung vermeiden.

Bei der Bestimmung der Substantive, die in jede der fü n f genannten Kategorien fallen, haben w ir uns für ein experimentelles Verfahren entschieden. Es sei wie- derholt, daß dieser Entscheidung im Rahmen der paradigmatischen Methode keine prinzipielle Bedeutung zukommt: der Gebrauch von Wörterbüchern, die Introspektion oder ein Zufallsprinzip wären vom Standpunkt der Methode aus gleich legitim -- auch wenn die Annahme, den Wortbildungsparadigmen einer zufälligen Auswahl von Substantiven liege dasselbe abstrakte Wortbildungsparadigma zugrunde, extrem unplausibel sein dürfte. Für unsere Wahl waren allein praktische Gesichtspunkte ausschlaggebend: die Wörterbücher waren für unseren Zweck wenig geeignet, da sie in ihren Definitionen nur von taxinomischen Kategorien Gebrauch machen: kapusta w ird nicht als ovošč, sondern als ogorodnoe rastenie, losad' nicht als sredstvo peredviienija, sondern als krupnoe neparnokopytnoe iivotnoe eingeordnet etc. (cf.

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oben zu ivolga sowie W ie rz b ic k a 1985: 261-263); und auf die Introspektion kann man sich nur als Muttersprachler verlassen.

W ir haben deshalb im September und Oktober 1993 in Moskau ein Produktions־

experiment durchgeführt, dessen Verlauf und Ergebnisse in Anhang 1 wiedergegeben sind, und werden in den folgenden Kapiteln jene Substantive, die von unseren Versuchspersonen genannt wurden, auf ihre Wortbildungseigenschaften hin untersu- chen. Außer den Ergebnissen dieses Experimentes standen uns folgende Quellen zur

Verfügung:

• zu den Kategorien ovošči, frukty und posuda die Listen, die R.M. F ru m k in a und ihre M itarbeiter ihren Experimenten zugrundegelegt haben (zu deren Zusammenstellung s. F ru m kin a et al. 1991: 63sq.);

• wertvolles Material enthält auch die Abhandlung von V.N. M a s k a d y n ja , Normativnye dannye dlja 50 substantivnyx kategorij. Na materiale russkogo jazyka, K alinin [T ve r] 1987 (MASKADYNJA 1987), die jedoch leider unver- öffentlicht geblieben ist. Sie enthält die Ergebnisse eines breit angelegten Experimentes, das an der Staatlichen Universität von K alinin durchgeführt wurde. Die Ergebnisse zu den Kategorien, die den hier untersuchten Katego- rien am nächsten standen, wurden m it freundlicher Genehmigung der Verfasse- rin in Anhang 2 abgedruckt und werden bei unserer Wortbildungsanalyse von Fall zu Fall herangezogen.

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