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1. WÖRTER FÜR SACHEN

1.1 Konkrete Substantive: Wörter oder Sachen?

Die aufgezählten Kategorien vermitteln eine erste Vorstellung davon, was hier mit dem Terminus konkretes Substantiv (Konkretum) gemeint ist: Substantive, m it denen man sich auf die materiellen (nicht unbedingt leblosen) Objekte beziehen kann, die uns im A lltag umgeben. Personenbezeichnungen, die meist ebenfalls zu den Konkreta gezählt werden, lassen w ir beiseite, da sie sich in erster Linie auf bestimmte soziale Rollen und nur indirekt auf deren physische Träger beziehen. Damit umfassen die Konkreta sowohl agentivische (Tiere!) als auch inagentivische Substantive (nach der Einteilung bei Trost 1992).

Neben dem Terminus konkretes Substantiv (konkretnoe suščestviteVnoe) ist der Terminus gegenständliches Substantiv (predmetnoe suščestvitel'noe) in Gebrauch.

Wenn hier dem ersteren der Vorzug gegeben wird, so allein deshalb, w eil er das bequeme Univerbat Konkretum neben sich hat und sich m it der Einbeziehung von Tierbezeichnungen besser verträgt als der zweite. Beide Term ini sind insofern mißverständlich, als ja die Eigenschaften "konkret" bzw. ״gegenständlich" nicht den Substantiven selbst, sondern ihren Denotaten zukommen. Die Gefahr einer Verwechs- lung von W ort und Sache ist, wie noch zu erläutern sein w ird, bei der Untersuchung der konkreten Substantive besonders groß; w ir haben uns trotzdem nicht entschließen können, an diesem Punkt vom überkommenen terminologischen Sprachgebrauch abzuweichen ־־ umso mehr, als dieser bereits in die allgemeinsprachigen Wörterbü- eher Eingang gefunden hat: die neueste Auflage des beliebten Wörterbuches von S.I.OŽEGOV und N.Ju.Svedo va (ŠVE) enthält unter dem Stichwort konkretnyj folgenden Hinweis:

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kon kre tnye imena suscestvitel’nye -- v grammatike: suscestvitel’nye, nazyva-juščie edinicnye material’nye, vescestvennye realii, otdel’nye predmety, lica

(napr., karandaś, dom, jabloko, inžener, čudak).

A ls charakteristische sprachliche Eigenschaften konkreter Substantive gelten die Ab- Wesenheit einer Aktantenstruktur sowie die M öglichkeit, durch Ostension definiert zu werden (F ru m k in a et al. 1991: 7 oder MOSTOVAJA 1990: 143). Beides g ilt nur bedingt: Artefakte z.B. vermitteln sehr wohl die Vorstellung einer bestimmten Situation m it den darin vorkommenden Teilnehmerrollen (man denke an tram vaj oder n o i); und unzweideutige ostensive Definitionen sind allein unter der Voraussetzung m öglich, daß sich die beiden Gesprächsteilnehmer über das gemeinte Abstraktions- niveau im voraus einig sind: dem Verweis auf einen Hund ist ja als solchem nicht zu entnehmen, ob er der Erklärung von taksa, sobaka oder iivotnoe dienen soll.

Im folgenden werden nicht alle konkreten Substantive des Russischen behandelt, sondern lediglich eine sehr begrenzte Auswahl von etwas mehr als 200 W örtern, an deren Zugehörigkeit zu den Konkreta kein Zweifel besteht. W ir begnügen uns deshalb m it diesen kurzen Hinweisen, ohne die mühevolle, wenn nicht sogar unlös- bare Aufgabe einer vollständigen Klassifizierung der russischen Substantive nach semantischen Gesichtspunkten in A n g riff zu nehmen (cf. F ru m k in a et al. 1991: 12, Anm. 1).

Zwei Dimensionen sind fü r die Analyse der Inhaltsseite konkreter Substantive besonders wichtig:

a) sprachlich (lexikalisch) vs. enzyklopädisch: das sprachliche (lexikalische) Wissen umfaßt die Merkmale, die in die Definition eines Wortes eingehen; das

enzyklopädische Wissen umfaßt die Eigenschaften der Gegenstände, auf die man sich m it dem betreffenden W ort beziehen kann. (Cf. V ie h w e g e r 1977: 284-287, wo sprachliches Wissen als "systemhaft relevant gewordenes Sachwissen" [286] definiert w ird .) Diese U nterscheidung fü h rt die tra d itio n e lle U nterscheidung von (sprach)analytischen und (sprach)synthetischen Urteilen fort: wenn man sich z.B.

dafür entschieden hat, russ. kaktus als ,tropiceskoe rastenie s mjasistymi stebljami, v koljuckax i bez list’ev' zu definieren (UŠA), so gehört das Merkmal 'bez list’ev’ in die sprachliche Zone der Inhaltsseite von kaktus, und der Satz "U kaktusov koljučki vmesto list’ev" ist bereits auf Grund der D efinition von kaktus wahr: ein Kaktus m it Blättern wäre in diesem Fall keine botanische Abnormität, sondern eine sprachliche Unm öglichkeit. Die Information, daß Kakteen nur in den Wüsten der Neuen W elt Vorkommen, ist dagegen enzyklopädisch: über den Wahrheitsgehalt des Satzes

"Kaktusy rastut tolTco v Am erike" entscheidet nicht die russische Sprache, sondern der Augenschein.

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D ie Unterscheidung zwischen sprachlichem (lexikalischem) und enzyklopädischem Wissen ist in den letzten Jahrzehnten in zunehmendem Maße unter Beschuß geraten;

daß die Grenze zwischen den beiden Bereichen nur w illkü rlich gezogen werden kann,

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gehört zu den zentralen und inzwischen bis zum Überdruß wiederholten

Glaubens-• »

sätzen der sog. kognitiven Sprachwissenschaft: charakteristische Äußerungen finden sich etwa bei Hudson 1990: 274 oder auch Geeraerts 1989: 588sq., eine eingehen- de Diskussion der Problematik bei Ha im a n 1980 und Geeraerts 1985. W ir werden sehen, daß gerade konkrete Substantive gewisse Argumente dafür liefern, die G ültig- keit der Unterscheidung einer sprachlichen und einer enzyklopädischen Wissens- komponente in Frage zu stellen.

b) naiv vs. wissenschaftlich: naives Wissen ist das Wissen, m it dem w ir im A llta g operieren; wissenschaftlich ist das Wissen, das den Anforderungen der neu-

zeitlichen Erkenntninistheorie in der Nachfolge von Bacon und Descartes genügt und im modernen Wissenschaftsbetrieb institutionell verankert ist. Naives Wissen findet sich in allen Kulturen; das wissenschaftliche Wissen ist fü r die K ultur der Neuzeit charakteristisch, die von Westeuropa ihren Ausgang nahm und sich in- zwischen über den ganzen Erdball verbreitet hat.

Diese beiden Begriffspaare werden sehr o ft in einem Atemzug genannt (USA p.

X X IV , § 7) oder sogar miteinander verschmolzen, indem man das sprachlich-naive Wissen dem enzyklopädisch-wissenschaftlichen gegenüberstellt (Apresjan 1995, Index, s.v. énciklopediceskij, naivnyj). Der Unterschied zwischen der sprachlichen und der enzyklopädischen Dimension unseres Wissens ist jedoch m it dem Gegensatz zwischen dem naiven und dem wissenschaftlichen W eltbild keineswegs deckungs- gleich (cf. Har ten stein 1981: 94-97 und 110-113): einerseits umfaßt ja das en- zyklopädische Wissen eines durchschnittlichen Sprachbenutzers nicht nur wissen*

schaftlich überprüfte Tatsachen; andererseits muß jede Wissenschaft ihre Termini definieren, bevor sie an die Untersuchung der Gegenstände herangehen kann, auf die man sich m it ihnen beziehen kann, und besitzt somit auch eine (fach)sprachliche Dimension. Die Identifizierung von ״enzyklopädisch״ und "wissenschaftlich", die die Identifizierung von ״naiv״ und ״sprachlich״ automatisch nach sich zieht, w ird durch die Tatsache begünstigt, daß enzyklopädische Nachschlagewerke in der westlichen K u ltu r nur die wissenschaftliche Beschreibung der Gegenstände enthalten und nicht die ״current platitudes" (Ma x Bl a c k 1962: 40), die man m it ihnen assoziiert; man darf sich jedoch von dieser durchaus kulturspezifischen Tatsache nicht irreleiten lassen. (W ir brauchen hier nicht auf die Frage einzugehen, auf welche Weise die Unterscheidung zwischen naivem und wissenschaftlichem Wissen auf traditionelle Kulturen ausgedehnt werden könnte; man müßte in diesem Fall wahrscheinlich von Fach- und Laienwissen sprechen.)

Bei der Behandlung der Semantik konkreter Substantive zeigt sich allerdings sehr 38

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vielen Fällen nur auf künstliche Weise voneinander getrennt werden können; in einer modemen, technisierten Gesellschaft m it allgemeiner Schulpflicht dürfte auch der Gegensatz zwischen dem naiven und dem wissenschaftlichem W eltbild allm ählich seine Schärfe verlieren. W ir wollen hier nur auf den ersten dieser beiden Aspekte eingehen.

Daß in der Inhaltsseite vieler konkreter Substantive sprachliches und enzyklopä- disches Wissen auf unentwirrbare Weise miteinander verflochten sind, zeigt sich daran, daß man m it diesen Substantiven kaum echte (sprach)analytische U rteile bilden kann: der Unterschied zwischen den Aussagen, daß Kakteen keine Blätter aufweisen und daß sie ausschließlich in Am erika verbreitet sind, ist in dieser Hinsicht weitaus weniger deutlich, als oben zu Illustrationszwecken angenommen wurde.

Angesichts dieser Schwierigkeit war man versucht, konkrete Substantive w ie Eigen- namen zu behandeln, d.h. ihnen eine rein sprachliche Inhaltsseite abzustreiten, um sie aus dem Gegenstandsbereich der lexikalischen Semantik ganz zu verbannen.1

W ir wollen hier einen weniger radikalen Weg einschlagen und an der Grenze zw i- sehen lexikalisch relevanten Merkmalen und enzyklopädischen Tatsachen festhalten.

Im Bereich der konkreten Substantive ist jedoch diese Grenze extrem beweglich: ein und dieselbe Wissenskomponente kann bald als definitorisches M erkm al, bald als Eigenschaft des Gegenstandes selbst aufgefaßt werden.2 Gerade in der W ortbildung zeigt sich dies m it besonderer Deutlichkeit: so kommt etwa dem M erkm al ‘że ltyj’ von lim on in der Ableitung lim onnica ‘babocka limonno-želtogo ili zelenovato-belogo eveta’ sprachimmanenter Status zu (cf. IsaCenko 1976: 423sqq.; Apresjan 1992:

53); heißt das aber, daß sich die Fügung s in ij lim on auf dieselbe Weise wie z.B. die Fügung p o iilo j rebenok verhält — daß sie die semantischen Kom patibilitätsregeln des Russischen verletzt und nur eine metaphorische Interpretation zuläßt?

Diese Plastizität der sprachlichen Inhaltsseite ist nicht für alle konkreten Substantive in demselben Maße charakteristisch. Am deutlichsten tritt sie bei T ier- und Pflanzen­

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' Wie r z b ic k a 1972: 22. Die A utorin hat fre ilich an diesem Punkt ihre M ei- nung inzwischen geändert, s. WIERZBICKA 1985: 163. Auch im M odell ,S m y s l^ te x t’

werden die konkreten Substantive von dem Kembereich sprachwissenschaftlicher Untersuchungsgegenstände ausdrücklich ausgenommen; cf. HARTENSTEIN 1981:

108-110 und die Polemik bei FRUMKINA 1984: 6sqq.

2 Ein einprägsames B ild dafür findet sich bei Wittg enstein 1984: 284sq.; cf.

Wittg enstein 1992: 140, 151. Io r d a n s k a ja/Melč u k 1980: 200-202 stellen zwei Tests auf, m it denen man konventionalisierte enzyklopädische Wissenskomponenten, die sie Konnotationen nennen, von sprachlich-lexikalischen Merkmalen unterscheiden kann; APRESJAN 1992: 49 fügt einen dritten Test hinzu, bemerkt aber selbst: "N i odin iz étix testöv ne javljaetsja absoljutno nadeznym".

bezeichnungen hervor -- und hier wiederum im mittleren, der W illk ü r sprachlicher Kategorisierung am wenigsten ausgesetzten Bereich der Taxinomie; bei jenen Kon- kreta also, deren Umfang uns gewissermaßen von der Natur aufgedrängt w ird, deren B egriffsinhalt jedoch nur durch Beobachtung und wissenschaftliche Forschung aufgedeckt werden kann. Bei Artefakten bildet die Funktion den begrifflichen Kern, um den sich die enzyklopädische Inform ation gruppiert; aber auch hier können einzelne vom funktionalen Standpunkt aus irrelevante Merkmale defmitorischen Status erhalten und sich etwa in Ableitungsbeziehungen niederschlagen (paroxod, čugunok). Personenbezeichnungen (Eigennamen natürlich ausgenommen), die w ir hier aus dem Kreis der konkreten Substantive ausgeschlossen haben, weisen schließlich in ihrer sprachlichen Inhaltsseite den höchsten Grad an Stabilität auf. Man hat diesen Unterschieden durch die Gegenüberstellung von identifizierenden und prädizierenden W örtern (ide ntificiru juščie und predikatnye slova) bzw. natural und nom inal kinds Rechnung zu tragen versucht.3 Selbstverständlich handelt es sich hierbei nicht um eine starre Dichotom ie, sondern um ein Kontinuum, in dem sehr viele Zwischen- stufen m öglich sind (cf. Ke il 1989: 56); um jedoch zu eindeutigen Entscheidungen zu gelangen, werden w ir in dieser Arbeit lediglich den Tier- und Pflanzenbezeichnun- gen bei der Aufstellung von Ableitungsbeziehungen (Kapitel 2.2.3) bzw. bei der Analyse der W ortbildungsparadigmen (Kapitel 3.1) einen gewissen Sonderstatus einräumen.

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