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Widerstand gegen die Ausnahme und Wunsch nach Normalisierung

Im Dokument Kultur und soziale Praxis (Seite 177-184)

Die Demobilisierungslager spielen eine zentrale Rolle für den Friedensprozess. Sie stellen gewissermaßen den physischen Dreh- und Angelpunkt der Demobilisie-rung dar, weil dort die Ankunft bewaffneter Kämpfer*innen aus der Klandestinität, die Konzentration der Guerilla, die Waffenabgabe und legale Verwaltung vormals illegaler Kämpfer*innen stattfindet. In diesem Raum kommen die unterschiedli-chen politisunterschiedli-chen und sozialen Vorstellungen aller beteiligten Akteur*innen über den Frieden zum Ausdruck. Die Bewohner*innen der Lager haben das Bedürfnis nach kollektiven Räumen materialisiert, in denen sie sich langfristig aufhalten kön-nen und die ihkön-nen eine Zukunftsperspektive bieten. Der Prozess der Aneignung der provisorischen Lager und der Umbau zu formalisierten Siedlungen ist ein In-dikator für den Widerstand gegen das individuelle Reinkorporationskonzept der Ex-Kämpfer*innen, das von der Regierung verfolgt wurde und bis dato zum Stan-dardmodell jedes Demobilisierungsprozesses illegaler bewaffneter Gruppen in Ko-lumbien zählte.

Obwohl die Lebensbedingungen und die Infrastruktur in Pondores und Tier-ra GTier-rata weniger günstig sind, beobachten wir dort ein Wachstum der Lager und eine stärkere Kohäsion des Kollektivs als in La Elvira. Die interviewten Personen erklären dies damit, dass die Ex-Kommandant*innen bis heute im Lager geblie-ben sind und als »neue soziale Aktivist*innen« eine Führungsrolle übernehmen.

In diesem Sinne erklärt uns ein ehemaliger Kämpfer: »Ich bleibe hier wegen mei-nes Kommandanten. Sie sagen uns, was wir zu tun haben.« (Interview mit EP, 07.04.2019) Die Kommandanten haben weiterhin die Leitung des Lagers inne und regeln Fragen des Zusammenlebens, auch wenn die Mitbestimmung im Vergleich zu Kriegszeiten größer geworden ist. Demnach überdauern militärische Hierar-chien und frühere Autoritäten spielen weiterhin eine wichtige Rolle im Übergang zur »Normalität«. Wie wir aber feststellen konnten, hängt die soziale Position im Lager nicht mehr nur von der Stellung innerhalb der vorherigen Hierarchie ab, son-dern von der Fähigkeit des Einzelnen, sich an zivile Gewohnheiten anzupassen,

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strategisch wichtige Kontakte nach außen aufzubauen und Ausbildungswege zu beschreiten. Die individuelle Berufswahl und funktionale Differenzierung im La-ger wirken auf die Zersetzung des Kollektivs stärker als die allmähliche Auflösung ehemaliger Befehlsketten. Ähnlich wie in Geflüchtetenlagern stellen sich soziale Ungleichheiten in den Lagern über den unterschiedlichen Zugang zu Ressourcen her, die für die Lagerrealität bedeutsam sind (vgl. Agier 2002: 330). Es herrscht also ein Spannungsverhältnis zwischen Aufrechterhaltung von ehemaligen Hierarchien und der sozialen Kohäsion auf der einen Seite und Fliehkräften wie Individualisie-rung auf der anderen Seite.

Ein weiterer ausschlaggebender Punkt für die Verstetigung des Lagers ist die Organisationskapazität der Gruppe in Bezug auf die legale Interessensdurchset-zung: »Seit dem ersten Moment der Ankunft im Lager haben wir uns zum Bleiben entschieden. Kurz darauf haben wir einen Kommunalen Aktionsrat gegründet, um unseren Interessen in politischen Instanzen Gehör zu verschaffen.« (Interview mit JTG, 06.04.2019). Während die Regierung von der Annahme ausging, dass das Le-ben in den Lagern die individuelle Reinkorporation fördert, und nicht umgekehrt, erklärt eine ehemalige Kämpferin: »Die Regierung möchte, dass jeder von uns das macht, was ihm beliebt, aber hier haben wir eine andere Vorstellung. Wir kämpfen gemeinsam für unsere Zukunft und deshalb sind wir zusammengeblieben.« (In-terview mit RTG, 05.04.2019) Rückblickend war es zum einen entscheidend, dass sich die Guerillera-Mitglieder in Pondores und Tierra Grata am Bau des Lagers be-teiligt und den Raum ihren Vorstellungen und Bedürfnissen gemäß mitgestaltet haben, und zum anderen, dass die FARC-EP zumindest Unterkünfte in Leicht-bauweise anstatt Zelte mit der Regierung verhandelt hatte. Die Mitgestaltung des Lagers im Konkreten interpretieren wir als einen Ausdruck des Widerstands gegen die Regierungspolitik. Das Lager ist zum neuen Kampffeld der ehemaligen Kämp-fer*innen für eine kollektive Lösung der Transition sowie des politischen und öko-nomischen Überlebens der FARC-EP geworden. Die Demobilisierungslager stellen deshalb »den letzten Ort des Krieges und den ersten Ort des Friedens dar« (Ma-rín/Espinosa Menéndez 2017: 442).

Anstatt also das Lager zu verlassen und auf diese Weise ihre Liminalität auf-zuheben, verbleiben die ehemaligen Kämpfer*innen in den Lagern und versuchen mittels der Überführung der Lager in eine Dorfgemeinschaft die Temporalität der Ausnahme aufzulösen. Für dieses Argument spricht zudem, dass es in Pondores und Tierra Grata ein neues Bauprojekt mit dem Namen »Friedensdörfer« (Ciuda-delas de Paz) mit Unterstützung der EU gibt, um auf dem Gelände des Lagers (in Tierra Grata) bzw. auf einem nahegelegenen Gelände (in Pondores) dauerhafte Un-terkünfte für die Lager-Bewohner*innen zu bauen. Aus dieser Perspektive ist der Übergangsritus also nicht mit der Waffenabgabe – also dem militärischen Mo-ment der Normalisierung – abgeschlossen, denn die politische, ökonomische und soziale Reinkorporation bzw. Normalisierung der FARC-EP vermittelt über den Ort

des Lagers verlangt eine Prolongation des Übergangs, dessen Abschluss vielleicht nie mit einem einzigen Angliederungsritus markiert bzw. vollzogen wird, sondern mehrere zeitversetzte Schlüsselmomente beinhaltet. Auch deswegen befindet sich der Friedensprozess in Kolumbien längst nicht in einer postliminalen, geschweige denn in einer Postkonfliktphase, wie die kolumbianische Regierung und interna-tionale Beobachter*innen gern glauben machen wollen (vgl. Dießelmann/Hetzer 2016a).

Eine weitere Strategie der FARC-EP zur Überwindung der »ausschließenden Einschließung« (Agamben 2002: 117) ist der Kontaktaufbau zu den angrenzenden Dorfgemeinden. Unsere Ergebnisse erlauben es, Agambens Perspektive des Lagers als Elements des Ausnahmezustands zu erweitern, denn die Demobilisierungs-lager oszillieren zwischen Ausnahme und »Normalität«. Rechtlich bildet der De-mobilisierungsprozess diesen Übergang ab: Aus einem völlig entrechteten, illega-len, bewaffneten Akteur wird ein Rechtssubjekt. Der Ausnahmezustand des Lagers zu Beginn der Demobilisierung wird stückweise von Momenten der Normalität durchsetzt. Das Zusammenleben mit Zivilen im Lager und die Kontakte zu Perso-nen außerhalb des Lagers – sei es durch den Kindergarten oder Sportveranstaltun-gen – traSportveranstaltun-gen zu einer Normalisierung der SozialbeziehunSportveranstaltun-gen bei. Auf diese Wei-se verliert der liminale Zustand Wei-seinen »anormalen« Charakter und die FARC-EP erreicht einen neuen sozialen Status sowohl als Partei als auch als zivile Dorfge-meinschaft. Gleichwohl versucht sich die FARC-EP diskursiv von der Aufnahme-gesellschaft abzugrenzen, um weiterhin eine Existenzberechtigung als »besondere Gemeinschaft« (Interview mit BP, 09.04.2019) mit spezifischen Notwendigkeiten zu begründen.

Abschließend ist festzuhalten, dass die zunehmende Auflösung vieler ETCR ein wichtiges Indiz für den Zerfall der kollektiven Organisation der FARC-EP und für das Scheitern des Friedensprozesses mit der Guerilla insgesamt ist, was die Zahl der Dissident*innen und die Wiederbewaffnung einiger Einheiten eindrück-lich zeigen. Laut dem Zensus der Nationaluniversität vom Juli 2017 befanden sich 8.185 Personen in den ZVTN bzw. PTN (vgl. Universidad Nacional 2017: 2), wohin-gegen die ARN im Februar 2020 nur noch 2.893 Personen zählt (vgl. ARN 2020), die sich in den ETCR aufhalten. Diese Zahlen verdeutlichen den Mangel an Perspek-tiven in den Lagern. Zudem wurden mindestens 200 ehemalige Kämpfer*innen ermordet. Falls die positiven Beispiele wie Pondores oder Tierra Grata ebenfalls scheitern sollten, stände eine weitere notwendige Bedingung für einen stabilen und dauerhaften Frieden in Kolumbien auf dem Spiel.

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Interviews

MTG (Ex-Guerillera und Mitglied des Kommunikationsteams), Tierra Grata, 05.04.2019.

RTG (Ex-Guerillero und Bedienung im Laden), Tierra Grata, 05.04.2019.

JTG (Ex-Guerillera und Mitglied des Kommunalen Aktionsrates), Tierra Grata, 06.04.2019.

SP (Ex-Guerillera), Pondores, 06.04.2019.

EP (ehemaliger politischer Gefangener), Pondores, 07.04.2019.

JP (Ex-Guerillera und Kindergärtnerin), Pondores, 08.04.2019.

BP (Ex-Kommandant), Pondores, 09.04.2019.

YE (ehemalige politische Gefangene), Elvira, 28.03.2017 und 04.12.2018.

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RE (Ex-Guerillero), Elvira, 13.10.2017.

VE (Ex-Guerillero und Bäcker), Elvira, 16.11.2018.

PE (Ex-Kommandant und Führungsspitze der Genossenschaft), Elvira, 17.11.2018.

Feldtagebücher

ALD – Anna-Lena Dießelmann AH – Andreas Hetzer

Im Dokument Kultur und soziale Praxis (Seite 177-184)