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Umgangsstrategien/Selbstorganisation

Im Dokument Kultur und soziale Praxis (Seite 89-95)

Während bis jetzt die Strategien der Verwaltungshandelnden betrachtet wurden, sind noch vereinzelte, in ihrer Breite subtilere Umgangsstrategien mit Barrieren seitens der Geflüchteten zu verzeichnen gewesen. Beispielsweise schnitten Asyl-suchende Löcher in den Zaun des Lagers, um sich erleichterten Zugang abseits des offiziellen Tores zu schaffen. Diese wurden allerdings geduldet, weil das Manage-ment den Nutzen gegen den Schaden dieser informellenZirkulationabwog:

»Als ich meine Begleitung auf die zahlreichen Löcher im Zaun anspreche, sagt er mir lediglich, dass sich der Zugang aufgrund der Überbelegung und der großen Zahl der Menschen nicht kontrollieren lässt und dass die Leute vom Olive Grove5 so ebenfalls einen direkten Zugang zum Camp und damit ebenfalls zur Essens-ausgabe haben.« (Beobachtungsprotokoll vom 13.03.2019)

Zusätzlich dazu ließen sich die geschaffenen Strukturen unter bestimmten Bedin-gungen vorteilhaft nutzen, so wie es mir Hamid beschrieb, der sein Asylverfahren nach Versäumnis eines Termins wiederaufnehmen und dafür einen neuen Termin an den Fenstern von EASO bekommen wollte:

5 Eine informelle Struktur außerhalb des formellen Lagers zur Unterbringung, die sich Stand März 2020 um ganzMoriaherum ausbreitete und deutlich mehr Personen als das Lager fass-te.

Physische Barrieren als Elemente der Ordnung und Regierung von Geflüchteten 89

»After one hour, he bring for me an appointment for three months […]. And I come from this window to another one and I told another one. […] I told her sir, I have this problem, my case is closed, and, he said, ok wait here, he go exactly on that time, and he go and he bring for me another appointment for one week, after one week.« (Interview mit Hamid)

Durch die Parzellierung der Zugänge und Zuständigkeiten gestaltete sich auch der Informationsfluss zwischen den unterschiedlichen Stellen innerhalb der Zone als unzureichend. Diese Fragmentierung nutzten Asylsuchende in ihrem Sinne.

Neben den Praktiken, die die Strukturen zum Teil unterlaufen, ließen sich auch solche ausfindig machen, die jene eher stützten und auf der Selbstorganisa-tion und -regulaSelbstorganisa-tion der Lagerbewohnenden basierten. So organisierte sich bspw.

die afghanische Community im Lager in Bezug zur Essensausgabe selbst: Einzel-ne PersoEinzel-nen, ausgestattet mit gelben Warnwesten, regelten den ordnungsgemä-ßen Verlauf an der Ausgabe. Zusätzlich dazu entstanden Praktiken, die weniger im Sinne der Positionierung zu und Umgang mit Barrieren gezählt werden kön-nen, sondern auf gegenseitiger Hilfe beruhten und den beschränkten Zugang zu Informations- und Versorgungsleistungen, zum Beispiel durch gemeinsames Ein-kaufen oder die Weitergabe von Informationen über Netzwerke, teilweise substitu-ierten. Das Angewiesen-Sein vor allem auf Institutionen des Asylverfahrens konn-ten sie hingegen nicht verringern.

Schlussbetrachtung

Bei abschließender Betrachtung der Empirie und mit Rückbezug auf die Theo-rie der geographisch-gouvernementalistischen Mobilitätsforschung wurden Bar-rieren vor allem als Mittel genutzt, um den adäquaten Ablauf von Verwaltungs-handlungen in Bezug auf Asylsuchende sicherzustellen. Die stark differierende Mobilität, ausgedrückt als Möglichkeit, sich und andere in der Interaktion zu po-sitionieren, hat sowohl der Theorie als auch der Empirie zufolge große Auswirkun-gen auf den Handlungsspielraum der Akteur*innen und auf die Konstitution des Feldes Geflüchtetenlager.

So führt schon die Barriere des Meeres dazu, dass Asylsuchende kaum undo-kumentiert weiterreisen können und in das Regime desHot Spot-Centreseintreten und sich zu großen Teilen zur Steigerung ihrer Mobilität den Registrierungs- und Verwaltungsprozeduren fügen mussten. Auf kleinräumigerer Ebene drückte sich die Mobilität als Handlungsmöglichkeit vor allem im Zugang zu institutionell und strategisch wichtigen Arealen wie EASO oder dem New Arrival-Areal aus. Dadurch, dass sich die Verwaltungshandelnden (mit Abstufungen) frei bewegen konnten und somit eine höhere Mobilität besaßen, konnten sie sich und andere zu Gunsten der

Verwaltung positionieren und erhielten mehr Handlungsressourcen. Dies drückt sich in der Möglichkeit aus, sich und andere zu mobilisieren, also der Theorie nach durchMobilität bzw. Bewegung zu regieren. Die Verwaltungshandelnden konnten sich aus der Interaktion zurückziehen, bestimmte Personengruppen aus einem bestimmten Bereich heraushalten oder innerhalb von Bereichen immobilisieren, sodass die Handlungsmöglichkeiten geflüchteter Personen in hohem Ausmaß ein-geschränkt worden sind. Dies bezieht sich nicht nur auf die Mobilisierung von Personen. Auch die Mobilisierung von Gütern und Informationen besaßen Ein-fluss auf die Handlungsressourcen der Asylsuchenden. Zwischen beidem besteht jedoch ein Zusammenhang: Erhöht sich die Mobilität der Geflüchteten, steigt auch ihr Zugang zu Informationen und Versorgungsleistungen und umgekehrt, was auf die komplexen Wechselverhältnisse verweist.

Wie sich in der Empirie zeigt, sind die Praktiken der Mobilisierung mit den übergeordneten Systemen der Zirkulation verschränkt, sei es auf der übergeord-neten Ebene des europäischen und griechischen Asylsystems, aber auch innerhalb des Lagers. So waren die Mobilisierungstechniken darauf ausgelegt, einen mög-lichst flüssigen Ablauf von Verwaltung des Lagers und Abwicklung des Asylsystems im Sinne der Verwaltenden zu gewährleisten. Das bedeutet freilich nicht, dass die Asylgesuche möglichst schnell abgewickelt wurden, denn in der übergeordneten Politik und der konkreten lokalen Ausformung lässt sich eine Tendenz zur Ver-langsamung der Zirkulation von Asylsuchenden bis hin zur direkten Inhaftierung und Abschiebung erkennen.

Mit speziellem Fokus auf die Barrieren wurden diese und damit in Verbindung stehende Durchgänge auf unterschiedliche Weise in soziale Praktiken mit einbe-zogen, um Asylsuchende entweder zu mobilisieren, zu immobilisieren sowie sie zu lokalisieren. Dabei wurde durch und über Barrieren hinweg kommuniziert, sie beeinflussten damit die Interaktion bzw. wurden aktiv in diese einbezogen. Fens-ter und Türen konnten hingegen genutzt werden, um Verwaltungshandeln ent-weder direkt abzuwickeln oder die Flüsse eben auf jene Zu- und Durchgänge zu konzentrieren. Zusätzlich dazu konnte über die Barrieren Abstand zwischen den Verwaltungshandelnden und den Asylsuchenden hergestellt werden: Entweder, um Konfrontationen zu vermeiden oder um Asylsuchende, meist mit Verweis auf Ab-grenzungen oder ihnen zugeschriebene Positionen, zu mobilisieren. Die an der Interaktion Beteiligten wurden also mit Rückbezug auf die Raum- und Mobilisie-rungstheorie durch Bewegung, aber vor allem unter Einbezug der Zäune und The-ken, unterschiedlich in Beziehung gesetzt und erhielten dadurch unterschiedliche Handlungsressourcen zueinander. Dabei lassen sich zwei Hauptfunktion der Bar-rieren identifizieren: Zum einen der Ein- und Ausschluss von Personen, zum ande-ren die partielle und kontrollierte Durchlässigkeit als Mittel der Kontrolle von Zir-kulation als auch der Mobilisierung einzelner Personen. Während durch restriktive Zugänge Positionen zugewiesen wurden, nützt die eingeschränkte

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heit der klaren Lokalisierung und Registrierung, im Falle derDetentionauch der Isolierung von Zugängen zu Institutionen und Informationen.

Der ersten Analyse folgend können einige Stellen identifiziert werden, die durch weitere Forschung und kleinteiligere Analyse gefüllt werden sollten: In Bezug auf das Feld selbst erscheint es notwendig, Transformationen und neue Erscheinungsformen der Praktiken der (Im-)Mobilisierung zu identifizieren, die aus dem Brand und der damit einhergehenden grundlegenden Reorganisierung des Feldes der Migration in Form eines neuen und potentiell zukünftigen Lagers hervorgehen, und sie darauf zu untersuchen, wie Barrieren und andere Materia-litäten mit einbezogen werden. Die Ankündigung der griechischen Regierung, ein geschlossenes Lager errichten zu wollen, gibt einen ersten Vorgeschmack.

Zusätzlich müssten etwa die in der Theorie aufgeworfenen Subjektivierungs-und Selbstregulationsweisen infolge der Verknüpfung von Raum Subjektivierungs-und Wissen sowie symbolischer Ordnungen näher beleuchtet werden. Durch die weitere Durchführung und Auswertung von Interviews können nicht nur diese, sondern auch subtilere Gegenstrategien identifiziert werden, die das Feld grundlegend mit konstituieren und einen nuancierteren Blick auf eben jenes zulassen. Es erscheint ebenfalls als gewinnbringend, das Feld dahingehend zu durchleuch-ten, welche weiteren Materialitäten und Technologien6 in Verbindung mit der Regierungshandlung durch Barrieren stehen, um breitere Funktionsweisen und auch Brüche, die unter anderem durch zunehmende Komplexität auftreten, of-fenzulegen. Zusätzlich dazu schien immer wieder eine Analyseachse durch, die vor allem in der Geographie wieder mehr Beachtung findet und schon implizit in der Theorie mitgeschwungen ist: die der räumlichen Skala. Im Beispiel der Aussetzung des Asylverfahrens und der sich daraus ergebenden veränderten Verwaltungshandlungen kann argumentiert werden, wie die unterschiedlichen räumlichen Ebenen ineinandergreifen und sich gegenseitig stützen bzw. konsti-tuieren. Das Zusammenbringen der Regierung von Flüssen auf übergeordneter Ebene mit der Mobilisierung auf lokaler Ebene sollte demnach ebenfalls im Zen-trum weiterer Analyseschritte stehen, um die Funktionsweisen des Lagers als Teil des Grenzregimes adäquat beschreiben und in Beziehung setzen zu können.

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