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Die Ausnahme aus rechtstheoretischer Perspektive

Im Dokument Kultur und soziale Praxis (Seite 35-38)

Dafür spricht auch ein Blick auf das Rechtsstaatsverständnis, das Agambens Theo-rie despermanenten Ausnahmezustandsim Lager impliziert. Denn es leidet an einer Kinderkrankheit: Agambens »Denken vom Ausnahmezustand her«15verharrt in ei-ner empiristischen Negativität,16bei der er die Ausnahme als analytischen Kern seiner Theorie in der Wirklichkeit vorfindet, ohne normativ zu begründen, was denn eigentlich unter einer Ausnahme zu verstehen sei (für das Verfassungsrecht siehe Kaiser 2017: 36). Aus rechtswissenschaftlicher Perspektive entwickelt Agam-ben in vielerlei Hinsicht provokante Thesen: Nicht nur belebt er den Ausnahme-zustand als Grundlage einer Souveränitätsbestimmung in Anlehnung an Schmitt wieder. Vielmehr verwirft er im selben Zuge die Emanzipationsmöglichkeiten der Menschenrechte überhaupt und führt die Krise des Rechtsstaats auf das Ausein-anderfallen von Faktizität und Normativität im permanenten Ausnahmezustand zurück. Hier zeigt sich ein Rechtsstaatsbegriff, der rechtssoziologisch überholt ist: Gerade weil das Recht zugleich Gebote vorgeben (Normativität) und wirksam werden muss (Faktizität), ist die Möglichkeit der Transformation der Rechts (et-wa weil es unwirksam ist) eines seiner wesentlichen Bestandteile. Agamben kann

15 Augsberg bemerkt hierzu: »Zusammenfassend kann man daher der echten Ausnahme zwar einen erkenntnistheoretischen, nicht aber eine normative Funktion zuerkennen.« (Augsberg 2009: 33) Finke entwickelt einen Begriff der Ausnahme, der auf der Annahme basiert, »dass der Begriff der Ausnahme für sich genommen inhaltsleer ist« (Finke 2015: 517).

16 Siehe hierzu auch Marchart, der Agambens Theorie von Adornos negativer Dialektik ab-grenzt (Marchart 2013: 225). Geulen spricht in diesem Zusammenhang auch von einer »Apo-diktik der bloßen Setzung« (Geulen 2009: 76).

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diese Transformationsmöglichkeit bzw. -notwendigkeit aufgrund seines Ausnah-mebegriffs nicht denken.17Stattdessen affirmiert er einen »reaktionären« (Menke 2015: 163) Begriff von Ausnahme und Recht, bei dem Normativität und Faktizität im Recht unvermittelt bleiben: Im Ausnahmezustand steht auf der einen Seite das gel-tende normative Recht und auf der anderen Seite das gewaltvolle faktische Chaos.

Paradoxerweise findet er sich damit doch erneut in der Gesellschaft der liberalen Tradition der Trennung von Recht und Gewalt wieder, die er angetreten war, auf das Schärfste zu bekämpfen.

Demgegenüber betonen marxistische Theorien gerade die Reflexivität des mo-dernen Rechts auf das Nicht-Recht und die Doppelfunktion der Rechtsform der subjektiven Rechte. Menke macht beispielsweise sichtbar, dass sich das moder-ne Recht notwendigerweise selbstreflexiv zu seimoder-nem faktischen Umfeld verhalten muss. Was bedeutet das? Selbstreflexiv ist das moderne Recht nach Menke des-halb, weil es sich selbst zugleich durch die Unterscheidung zum Nicht-Recht her-vorbringt und es zu seinem Gegenstand macht (vgl. Menke 2015: 126). Moderne Rechte berechtigen die Rechtsträger*innen, zunächst außerrechtliche Gegenstän-de, wie etwa das Bedürfnis, seine Meinung zu äußern, gegen andere geltend zu machen. Dabei müssen sie sich notwendiger Weise auf ihren eigenen Gegenstand reflektieren, was wiederum zu einer Veränderung der (normativen) Rechte füh-re: Die Selbstreflexion des Rechts »verändere die Form seiner Normativität« (ebd.:

129). Während die Selbstreflexion des Rechts sowohl den Begriff der Norm als auch des Faktums verändert, indem sie sie miteinander verschränkt, lasse Agamben je-doch beides in der permanenten Ausnahme getrennt. Die Ausnahme »definiert das Recht weiterhin so wie immer, als normative Ordnung gegenüber dem Leben«

(ebd.: 163). Für die Möglichkeit einer Transformation des Rechts ist dies fatal: Nur wenn das Recht sich auf außerrechtliche Gegenstände reflektieren kann, kann es durch diese verändert werden. Das Recht (der Flüchtlingslager) kann nicht auf eine abstrakte losgelöste Ansammlung normativer Bestimmung darüber, wie die Migra-tionssteuerung laufensollreduziert werden, sondern kann sich auf außerrechtliche Debatten dazu, wie das Leben in den Flüchtlingslagernist, reflektieren. Es reflek-tiert sich aber nicht nur auf außerrechtliche Gegenstände, es ist selbst ein Produkt gesellschaftlicher Kämpfe. Sofern die Ausnahme vom Recht als primäres Problem moderner Gesellschaften proklamiert wird, wird die Bedeutung gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse für das Recht verkannt. Ausnahmen vom Recht zu proble-matisieren ist insofern legitim, als das Recht tatsächlich eine »relative Autonomie«

gegenüber der Gesellschaft besitzt und einen Schutzmechanismus gegen gesell-schaftliche Missstände darstellen kann – der durch die Ausnahme vom Recht

un-17 So auch Loevy, die dafür plädiert die Politiken des Ausnahmezustands nicht nur als rechtliche Ausnahmen, sondern als »dynamischen, dialektischen, historischen Prozess« zu beschreiben (Loevy 2016: 309).

terlaufen wird. Es verbleibt jedoch in einem dialektischen Verhältnis mit den ihm zugrundeliegenden sozialen Praxen: »Die Verselbständigung sozialer Verhältnisse ist zugleich die Bedingung ihrer ›relativen Autonomie‹. Die spezifische kapitalis-tische Vergesellschaftung kreiert soziale Formen, ›ökonomische‹ nicht weniger als rechtliche oder politische. Es ist die Autonomisierung und Fetischisierung jener Verhältnisse, die eine eigene Materialität dieser Formen ermöglicht.« (Ebd.: 242f.) Die Ausnahme zum Gegenstand der Rechtskritik zu machen, naturalisiert den Be-griff der Ausnahme genauso wie den des Rechts und blendet aus, dass das, was als Ausnahme vom Recht verstanden oder gesetzt wird, durch gesellschaftliche Kämp-fe bestimmt ist. Die bloße Skandalisierung der Ausnahme vom Recht bleibt deshalb zu oberflächlich.

Buckel betont zudem, dass die Form des subjektiven Rechts sowohl zur Aner-kennung als Freie und Gleiche als auch zur Subjektivierung als Vereinzelte führe und nicht in eine Richtung hin theoretisch aufgehoben werden könne (vgl. Buckel 2007: 314). Moderne Rechtssubjektivität bedeute in diesem Sinne Rechtegegen an-dere geltend zu machen und sich damit isoliertgegenandere zu positionieren (mein Recht auf Meinungsfreiheit mache ichgegenandere geltend) und zugleichTeileiner Anerkennungsgemeinschaft von Freien und Gleichen zu werden (indem ich mein Recht auf Meinungsfreiheit gegen andere geltend mache, werde ichTeilder freien und gleichen Rechtsträger*innen). Recht hat demnach eine ambivalente Wirkung:

Es ermöglicht und verhindert zugleich emanzipatorische Prozesse. Feministische Rechtswissenschaftler*innen haben in diesem Zusammenhang auch auf die »Di-lemmata im Recht« (Baer 1996: 242) oder die »Paradoxie der Rechte« (Brown 2017:

454) hingewiesen.

Für die Frage nach dem Recht in Flüchtlingslagern sind diese rechtstheoreti-schen Analysen äußerst relevant: Die rechtliche Einschränkung subjektiver Rechte der Bewohner*innen kann nur vor dem Hintergrund gesellschaftlicher, migrati-onsfeindlicher Diskurse verstanden werden. Zudem darf nicht übersehen werden, dass die Form der subjektiven Rechte zum Teil selbst zu Ausschlüssen und der Re-produktion von Herrschaft führt; beispielsweise weil sie voraussetzt, dass einzel-ne Rechtssubjekte ihre Rechte einklagen – die Bewoheinzel-ner*ineinzel-nen der Unterkünfte verfügen jedoch oftmals nicht über die notwendigen Ressourcen hierfür. Weil das Recht aber selbstreflexiv und gesellschaftlich verankert ist, kann es (im Sinne der Bewohner*innen) transformiert werden. Flüchtlingslager als Orte der Trennung des Rechts vom anomischen Nichtrecht zu skandalisieren, versperrt den Blick für diese wichtigen rechtstheoretischen Debatten und Analysen.

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Im Dokument Kultur und soziale Praxis (Seite 35-38)