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4 Das Puzzle-Modell – ein Vorschlag für die Herausbildung der interkulturellen

4.2 Die interkulturelle Sensibilität als affektive Komponente

4.2.2 Werte und Einstellungen

Die interkulturelle Sensibilität bezieht sich auf den affektiven Bereich der Situation eines interkulturellen Kontakts, der Grad ihrer Entwicklung hängt aber von den allgemeinen Ein-stellungen eines Menschen, seinen sozialen und individuellen Kompetenzen ab. Wenn ein Mensch bestimmte Einstellungen und Eigenschaften besitzt, die ihn bei der Kommunikati-on mit einem Vertreter des eigenen kulturellen Kreises weiterbringen, ist er sozusagen auch für eine interkulturelle Kommunikation „besser ausgestattet“. Die interkulturelle Sensibili-tät besteht quasi aus den in diesem Kapitel beschriebenen Einstellungen und emotionalen Fähigkeiten, die innerhalb der interkulturellen Thematik eine neue Schattierung, einen neu-en Klang bekommneu-en.

Unter Empathie meint der US-amerikanischen Psychologie und Psychotherapeut Carl Ro-gers „das einfühlende Verstehen, ein sich in die innere Welt eines Anderen hineinversetzen“ (Gröning 2006, S. 89). Diese Fähigkeit wird dann aktualisiert, wenn be-wusst oder unbebe-wusst etwas nicht offen ausgesprochen wird. Wie schon mehrmals er-wähnt, fehlt für beide Kommunikationspartner in einer interkulturellen Situation ein ge-meinsames Grundwissen. Was der eine als selbstverständlich wahrnimmt und deshalb kei-ne Notwendigkeit sieht, es anzusprechen, bleibt für den anderen verborgen und deshalb un-klar. Empathie hilft, solche Situationen zu vermeiden. Wenn aber die Situation schon

fehl-25 Das Wort „Gespür“ soll in unserem Fall keine mythische Schattierung haben. Gespür bedeutet, etwas Unklares besser erkennen zu können. Die Situation eines interkulturellen Kontaktes verbirgt so viel Unsichtbares und Unbekanntes für ihre Teilnehmer, dass Wissen und sehr gute kommunikative Fähigkeiten allein dabei nicht ausreichen, um die Situation zu verstehen. Dazu ist auch das Gespür notwendig. Ins Russische werden beide Wörter „Gefühl“ und „Gespür“ mit dem Wort „чувство“

übersetzt.

geschlagen ist oder fehlzuschlagen droht, kann ein empathischer Mensch versuchen, sich in die Position seines Kommunikationspartners zu versetzen, seine Gedanken und Gefühle dabei zu verstehen, und aufgrund dessen sein weiteres Verhalten zu koordinieren. Dabei besteht aber die schon erwähnte Gefahr, die Gefühle und die Gedanken des anderen auf ei-gene kulturelle Weise zu interpretieren, was nicht immer zutreffend sein wird.

„Um sich aufeinander einstellen zu können, müssen die Kommunikationspartner die Situa-tion jeweils aus der Sicht des anderen betrachten, um auf diese Weise die zu erwartenden Reaktionen des Gegenübers vorweg zu erkennen und im eigenen kommunikativen Handeln zu berücksichtigen“ (Schaub und Zenke 1997, S. 116).

Es passiert relativ oft, dass die Anekdoten, die einem fremdkulturellen Gesprächspartner erzählt werden, nicht die erwartete Lachreaktion auslösen. Es liegt nicht immer am man-gelhaften Humorsinn oder mangelnden Sprachkenntnissen, sondern häufig an dem fehlen-den Hintergrundwissen. Eine empathische Haltung in diesem Fall wäre, das notwendige Hintergrundwissen zu sichern, bevor die Anekdote erzählt wird.

Empathie schließt die Bereitschaft ein, die eigenen kulturellen Normen zu relativieren. Die-ser Bereitschaft geht das Bewusstsein der eigenen kulturellen Prägung voraus. Die kenntnis, dass die Welt in der eigenen Wahrnehmung schon durch die eigenkulturellen Er-fahrungen und auch durch die nationalen Vorurteile gefärbt ist, ruft nicht immer positive Emotionen hervor. Mit dieser Erkenntnis werden die Probleme dort aufgedeckt, wo sie frü-her nicht existierten, was manchmal zu Widerständen führen kann. Hier ein Beispiel: Wäh-rend einer Vortragsreihe an der Universität Göttingen begrüßte eine Referentin das Publi-kum mit einer afrikanischen Geste, was Verlegenheit, Unzufriedenheit oder sogar Empö-rung bei einigen Zuhörern auslöste. Dabei war das Thema des Referats unmittelbar der in-terkulturellen Arbeit gewidmet. Dieses Beispiel zeigt, dass die Zuhörer sich durch die Ver-wendung einer fremden Geste in dem Raum, der als „eigenes Territorium“ gilt, persönlich betroffen fühlten. Trotz des angesprochenen Themas waren sie nicht bereit, eigene Normen in Frage zu stellen. Die interkulturelle Sensibilität schließt unter anderem diese Bereit-schaft ein, die eigene kulturelle Prägung zu erkennen, in die Akzeptanz des Fremden aber eigene kulturelle Einstellungen einzubeziehen und infolgedessen die eigenen kulturellen Normen zu relativieren. Über die Bedeutung solcher Bereitschaft im Fremdsprachenunter-richt schreibt Tolkiehn:

„Die Konfrontation mit dem Eigenen als Gegenstand der Betrachtung und des Hinterfra-gens kann allerdings aus schon besprochenen Gründen zu Widerständen führen. (…) Es ist jedoch wichtig, sich über solche Widerstände im FU hinwegzusetzen, um eine größere

Ak-zeptanz des Fremden im Eigenen und folglich des Anderen zu ermöglichen und somit eine zusätzliche Dimension der Verständigung zu erschließen“ (Tolkiehn, S. 298).

Eine Grundlage für die Bereitschaft, die eigenen kulturellen Normen zu relativieren, bildet Offenheit gegenüber den äußeren Einflüssen. Offenheit oder Unvoreingenommenheit ge-genüber Menschen aus anderen kulturellen Kreisen im Zusammenspiel mit aufrichtigem Respekt vor diesen Menschen ist eine notwendige Voraussetzung für den Erfolg eines inter-kulturellen Kontakts. Bei dieser Haltung ist es enorm wichtig, dass Respekt und Offenheit nicht gespielt sind, sondern die Widerspiegelung der echten Gefühle darstellen.

Offenheit und Respekt sind keine interkulturell spezifischen Werte. Sie sind bei jedem Mit-glied jeder menschlichen Gemeinschaft erwünscht und willkommen, da sie den Menschen die Kommunikation und das Erfüllen einer gemeinsamen Aufgabe erleichtern. In der Situa-tion eines interkulturellen Kontakts, die durch negative Gefühle oft erschwert ist, gewinnen Offenheit und Respekt besondere Bedeutung. Die Konfrontation mit den fremden Verhal-tensweisen, Ideen und Werten wird häufig als Bedrohung für die eigene Welt empfunden.

Gefühle wie Angst, Misstrauen und Wut sind mögliche Reaktionen. Vielerlei Beispiele da-für sehen wir in unserem modernen Alltag, zum Beispiel bei den Begegnungen von Mi-granten und Einheimischen. Wenn aber in den Grundeinstellungen eines Menschen Offen-heit einen bedeutsamen Platz einnimmt, ist ein Schritt in Richtung positiver Gefühle ge-macht. Unter dieser Voraussetzung stehen die negativen Gefühle nicht im Vordergrund, und die interkulturelle Konfrontation wird als eine Chance betrachtet, „sich neue Perspektiven zu erschließen, von denen aus bestehende Prozesse hinterfragt und alternative Lösungen erkannt werden können“ (Meyer 2004, S. 155).

Offen sein ist im interkulturellen Kontext eine aktive Position. Offen sein heißt nicht nur Aufgeschlossenheit für die externen Einflüsse, es heißt auch Interesse und Neugier auf Fremdes. Auf das Fremde einzugehen, sich für die Gründe des fremden Verhaltens zu inter-essieren, die anderen Werte wahrzunehmen und zu respektieren, sind Zeichen von Offen-heit. Auf deren Grundlage entwickelt sich die Motivation zu einer gemeinsamen Kommu-nikation und die Bereitschaft, die aufzutretenden Probleme gemeinsam und akzeptabel für beide Seiten zu lösen.

Probleme einer multikulturellen Gesellschaft sind häufig in der mangelnden Offenheit und dem Fehlen von Respekt gegenüber dem Fremden verankert. Das zeigt sich in der folgen-den Meinung eines Einheimischen: „Ich habe nichts gegen Ausländer. Ich mache nichts Schlechtes gegen sie. Ich nehme an keiner Bewegung teil, die für die Vertreibung der aus-ländischen Bürger ist. Ich störe sie nicht, ich möchte aber auch nicht gestört werden“.

Die-se Position mag tolerant Die-sein, es mangelt ihr aber eindeutig an Offenheit. Es ist keine gute Grundlage für gemeinsame Tätigkeit, sei es Arbeit, Kommunikation oder einfaches Zusam-menleben.

Ambiguitätstoleranz ist eine weitere Komponente der interkulturellen Sensibilität.

Bei einem interkulturellen Kontakt, wenn der fremdkulturelle Kommunikationspartner völ-lig unterschiedliche Interpretations-, Kommunikations- und Verhaltensweisen zeigt, sind Verunsicherung und Zweifel natürliche Reaktionen. Sie werden dadurch erzeugt, dass die beiden Kommunikanten vor dem Problem stehen, das Verhalten und die Denkweise des an-deren nicht nachvollziehen und deshalb nicht prognostizieren zu können. Sie wissen oft nicht, wie sie sich verhalten sollen, welches Verhalten in der vorliegenden Situation üblich ist. Der Wissensstand über die Kultur des Kommunikationspartners reicht nicht aus; es ist einfach nicht möglich, das übliche Verhalten in jeder möglichen Situation des interkulturel-len Kontakts zu lehren. Gerade in diesem Moment ist Ambiguitätstoleranz erforderlich.

Ambiguitätstoleranz (lat. ambiguous schwankend, ungewiss, zweideutig, tolerare ertragen, dulden; engl. ambiguity tolerance) beschreibt die Fähigkeit, mit unstrukturierten und wi-dersprüchlichen Situationen umgehen zu können, d.h. sie aushalten zu können und dabei handlungsfähig zu bleiben (vgl. Cockwell 2010, S. 34).

Im interkulturellen Kontext heißt es, die Uneindeutigkeiten, Ungewissheiten der Situation des interkulturellen Kontaktes ertragen und die Lösungen, der durch diese Situationen er-zeugten Probleme finden zu können. Ein Mangel an Ambiguitätstoleranz führt dazu, dass die Kommunikationspartner die Situation als unkomfortabel und sogar bedrohlich wahr-nehmen, sie zeigen sich desinteressiert und verängstigt. Personen mit einem hohen Grad an Ambiguitätstoleranz bleiben dagegen positiv eingestimmt und interessiert, sie suchen nach Kompromissen und versuchen, einfache und klare Lösungen zu den Problemen zu finden.

Zwei Bedingungen sind für die Entwicklung der Ambiguitätstoleranz wichtig: eine starke Identität und gute Beherrschung der Problemlösungsstrategien.26 Eine starke Selbstbe-wusstheit und ein gut entwickeltes Selbstwertgefühl geben dem Kommunikationspartner in solchen gespaltenen Situationen Halt und Kraft. „Eine hohe Ambiguitätstoleranz gilt im Allgemeinen als Zeichen seelischer Ausgeglichenheit und Ichstärke“ (Schraub und Zenke 1997, S. 22). Andererseits ist eine aktive Position bezüglich der auftretenden Probleme, Aufgeschlossenheit, Bereitschaft und Mut, sie zu lösen, eine Vorbedingung.

Ein Beispiel von mangelnder Ambiguitätstoleranz wäre die Geschichte einer

amerikani-26 Quasi spiegelt die Ambiquitätstoleranz die grundlegende Beziehung des Interkulturellen: Ich und die Andere, einerseits wie ich mich selbst wahrnehme und andererseits wie ich mit dem Fremden umgehe.

schen Studentin japanischer Herkunft. Mit Hilfe eines Austauschprogramms wurde eine längst ersehnte Reise nach Japan, ins Land ihrer Vorfahren für sie möglich. Die erste Ent-täuschung erlebte sie schon bei der Ankunft im Flughafen, als sie die Sprache der sie um-gebenden Menschen fast nicht verstand, obwohl sie die japanische Sprache von ihren El-tern gelernt und durch Kurse an der Universität vertieft hat. Andere Enttäuschungen und Missverständnisse folgten den ersten. Nach einer kurzen Zeit wollte die frustrierte Studen-tin nur noch nach Amerika zurück. Die Situation für diese StudenStuden-tin war sicherlich nicht einfach. Die Kluft zwischen den Erwartungen und Hoffnungen, in der „alten Heimat“ zu-rück zu sein, deren Traditionen und Denkweisen verstehen zu können, und der Realität, wo sowohl die Kommunikationsmittel als auch das Verhalten und Denken der Einheimischen fremd erscheinen, war groß. Um diese Zweideutigkeit ertragen zu können und aus dieser schwierigen Situation das sicherlich vorhandene positive Potenzial herauszuziehen, wurde Ambiguitätstoleranz benötigt.

Interkulturelle Sensibilität stellt eine affektive Komponente der interkulturellen Kompetenz dar und setzt sich aus unterschiedlichen Eigenschaften, Werten, Einstellungen und Fähig-keiten einer Person zusammen. Besonders wichtig für die Entwicklung der Sensibilität sind Empathie, die Bereitschaft, die eigenen kulturellen Normen zu relativieren, Offenheit und Respekt im Umgang mit fremden Kulturen und Ambiguitätstoleranz.