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2. Gilles de la Tourette-Syndrom

2.6 Was sind Tics?

Tics sind definiert als „plötzliche, schnelle, sich wiederholende, nicht rhythmische motorische Bewegungen oder Lautäußerungen“ (6). Es wird vermutet, dass Tics physiologische Bewegungen darstellen, deren Auftreten in Zeit und Situation aber pathologisch ist (45, 46).

Tics werden nach ihrer Qualität unterteilt in „motorisch“ oder „vokal“ sowie nach ihrer Komplexität in „einfach“ oder „komplex“. Findet die Bewegung nur in einer einzelnen Muskelgruppe statt, so wird dies als „einfacher Tic“ bezeichnet, z.B. Augenblinzeln, Kopf- oder Schulterzucken. Sind hingegen mehrere Muskelgruppen an der Bewegung beteiligt oder ist die Bewegung scheinbar absichtsvoll, so nennt man dies einen „komplexen Tic“, z.B.

Springen oder Berühren von Gegenständen oder Menschen. Beispiele für einfache vokale Tics sind Ausstoßen von Luft oder Seufzen. Ein Beispiel für einen komplexen vokalen Tic ist das Aussprechen kurzer Sätze.

Zusätzlich gibt es weitere typische Phänomene, die vor allem in der Allgemeinbevölkerung wegen ihrer Ausgefallenheit und gesellschaftlichen Provokation mit dem TS in Verbindung gebracht werden. Sie treten bei den Betroffenen aber nur in der Minderheit der Fälle auf.

Dazu wird die sehr seltene Kopropraxie (das Ausführen obszöner Gesten) gezählt, die mit einer Lebenszeitprävalenz von 5,9% bei Männern und 4,9% bei Frauen auftritt. Auch die Koprolalie (das Ausrufen von Schimpfwörtern) wird oft mit dem TS in Zusammenhang gebracht, obwohl sie nur bei 19,3% der männlichen und 14,6% der weiblichen Patienten vorkommt (48). Noch seltener ist die Koprographie (das Schreiben oder Malen obszöner Wörter oder Bilder). Auch Echophänomene wie die Echopraxie (Wiederholung von

automatisierte Handlungen wie Duschen oder Tippen, passive Handlungen oder Interaktion mit Familienmitgliedern (53, 54).

2.8 Vorgefühl

Das Vorgefühl (= „premonitory urge“, auch „premonitory sensory urge“) bezeichnet ein Kitzeln, Kribbeln, Druck- oder Spannungsgefühl oder auch das Gefühl, „dass etwas nicht stimmt“, bevor ein Tic sich manifestiert. Dabei kann es sich einerseits um ein diffuses generalisiertes Gefühl handeln oder andererseits um ein lokales Gefühl genau an der Stelle, an der nachfolgend der Tic auftritt. Die Intensität des Vorgefühls variiert je nach Körperregion und ist besonders intensiv an den Schultern, Händen und Oberschenkeln (55). In Studien mit Kindern und Jugendlichen konnte gezeigt werden, dass die Wahrnehmung des Vorgefühls altersabhängig ist (55, 56). Demnach besteht bei Kindern zwischen 8 und 10 Jahren in 24%

der Fälle ein Vorgefühl, bei Kindern zwischen 11 bis 14 Jahren in 34% und bei Jugendlichen besteht im Alter zwischen 15 und 19 Jahren in 57% der Fälle ein Vorgefühl (56). Über alle Altersgruppen von 8 bis 19 Jahren zusammengenommen besteht in 37% der Fälle ein Vorgefühl (56), bei Erwachsenen hingegen in 74% (57) - 93% (55) und somit der überwiegenden Mehrzahl der Patienten. Ob die Ursache dieser Entwicklung dadurch zu erklären ist, dass sich das Vorgefühl erst in der Adoleszenz entwickelt oder in einer Veränderung der Wahrnehmung und Möglichkeiten zur Artikulation liegt, konnte bisher nicht geklärt werden. Interessant ist jedoch, dass viele Patienten das Vorgefühl an sich als viel störender empfinden als den Tic selbst, der von den Betroffenen oftmals nur als Folge dieses unangenehmen und unausweichlichen Gefühls gewertet wird.

Die neueste Studie zu dieser Thematik führten Ganos et al. (58) durch. Sie untersuchten an 15 erwachsenen Probanden, ob ein Zusammenhang zwischen der Stärke des Vorgefühls (anhand der Premonitory Urge Tic Scale (PUTS), siehe 3.7 Fragebögen zur Selbsteinschätzung der Probanden: PUTS, VAS und Relative Messung der Tics (RVTR)) und der Fähigkeit zur Tic-Unterdrückung besteht. Zur Berechnung der Fähigkeit zur Tic-Unterdrückung (Original:

„Inhibition potency“) entwickelten Ganos et al. den Terminus IP=(RF-RI)/RF, wobei IP = Inhibition potency (Fähigkeit zur Tic-Unterdrückung) bedeutet, RF der Tic-Schwere vor Unterdrückung entspricht und RI die Tic-Schwere während der Unterdrückung bezeichnet (basierend auf den mit dem Modified Rush Video Protokoll (MRVS) ermittelten Tic-Scores (siehe 3.3.1 Videoaufzeichnung und Modified Rush Video Protokoll). Die Autoren fanden keine signifikante Korrelation zwischen PUTS und IP oder IP und Yale Global Tic Severity

Scale (YGTSS, siehe 3.6 Fragebögen zur Charakterisierung des Probandenkollektivs) und schlussfolgerten daher, dass die Fähigkeit zur Tic-Unterdrückung nicht von der Wahrnehmung des Vorgefühls abhängt. Auch führt dies zu der Frage, ob das Vorgefühl tatsächlich der Kern des TS ist oder ein sekundär verursachtes Phänomen. Zudem stellt sich die Frage, ob das Fokussieren auf das Vorgefühl, wie es beim HRT/CBIT und der ERP (siehe 2.5 Verhaltenstherapien) trainiert wird, ein Erfolg versprechendes Therapiekonzept darstellt, dass tatsächlich am Kernpunkt der Erkrankung angreift oder ob dadurch nur die Wahrnehmung eines sekundären Vorgefühls verstärkt wird, welches für den Patienten viel unangenehmer ist als der Tic selbst.

2.9 Unterdrückbarkeit der Tics

Die Tics unterliegen nicht nur äußeren und inneren Einflüssen, sondern können auch von vielen Patienten bewusst unterdrückt werden. Während die meisten Patienten spontan angeben, dass sie ihre Tic nur kurz (d.h. für Sekunden) unterdrücken können, konnten Woods und Himle (59) zeigen, dass eine Tic-Unterdrückung nach Aufforderung und mit entsprechender Motivation, z.B. in Form einer versprochenen Belohnung, auch über einen längeren Zeitraum von 5, 25 und sogar 40 Minuten möglich ist. Dieses Charakteristikum des TS ist in der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion von großer Bedeutung, da die neu etablierten verhaltenstherapeutischen Verfahren wie HRT/CBIT und ERP (siehe 2.5 Verhaltenstherapien) eine gute Fähigkeit zur Unterdrückung der Tics voraussetzen. Dabei wird davon ausgegangen, dass es notwendig ist, die Wahrnehmung des Vorgefühls zu üben und zu stärken, um die Fähigkeit zur Unterdrückung trainieren zu können. Es wird dabei versucht, das Vorgefühl als Signal für einen kommenden Tic zu werten und daraufhin die Ausübung einer alternativen Handlung für einen einzelnen Tic (beim HRT/CBIT) bzw. die globale Tic-Unterdrückung (beim ERP) einzuleiten. Ungeklärt ist in diesem Zusammenhang, ob verhaltenstherapeutische Maßnahmen wie das HRT/CBIT oder ERP auch dann zu erlernen sind, wenn Patienten angeben, kein Vorgefühl zu haben.

Außerdem geben viele Patienten im klinischen Alltag an, dass sie ihre Tics nicht gern unterdrücken. Sie empfinden das Unterdrücken als äußerst anstrengend und erschöpfend.

Außerdem fordere es viel Konzentration und verursache eine enorme innere Anspannung, die sich dann in überschießenden Tics entlade. Weiterhin berichten die meisten Patienten spontan, dass das Vorgefühl während der Unterdrückung immer weiter zunehme bis es unerträglich

werde und nur durch einen Tic erleichtert werden könne. Dieses Gefühl könne dabei nur aufgeschoben, aber nicht aufgehoben werden.

2.10 Rebound-Phänomen

Neben den für das TS typischen Fluktuationen und der Abhängigkeit von situativen und individuellen Einflüssen, berichten viele Patienten über einen Anstieg ihrer Tics und eine Verstärkung des Vorgefühls nach der Tic-Unterdrückung, dem sogenannten Rebound-Phänomen. Dieser von den meisten Patienten empfundene überschießende Tic-Anstieg ist ein Grund dafür, dass viele Patienten ihre Tics nicht gerne unterdrücken. Außerdem geben viele an, dass die Unterdrückung viel Konzentration und Anstrengung fordere. Diese Berichte von Patienten sind im Hinblick auf die Einführung von Verhaltenstherapien (HRT/CBIT, ERP) zur Behandlung von Tics von großem Interesse (siehe 2.5 Verhaltenstherapien). Sollte es in der Tat – wie von vielen Patienten beschrieben - nach dem willentlichen Unterdrücken zu einem bedeutsamen Anstieg der Tics kommen, wäre kritisch zu hinterfragen, ob Verhaltenstherapien dieser Art sinnvoll sind.

Bisher wurden vier Studien durchgeführt, in denen das Rebound-Phänomen untersucht wurde:

In der ersten Studie untersuchten Woods und Himle (16) 13 Kinder mit chronisch motorischer oder vokaler Tic-Störung oder TS. Bei 46,2% der Probanden lag zusätzlich eine ADHS vor und 38,5% litten neben dem TS an einer generalisierten Angststörung. Das mittlere Alter der Probanden lag bei 11,5 Jahren (10-17 Jahre). Die Untersuchung gliederte sich in eine Phase zur Ermittlung der Tic-Basalrate (vor der willentlichen Unterdrückung der Tics), eine Unterdrückungsphase und eine Phase nach der Unterdrückung. Jedes Kind wurde dabei mit dem Anreiz einer Belohnung angeleitet, die Tics für 5, 25 oder 40 Minuten zu unterdrücken.

Daraufhin folgte eine 5-minütige Postsuppressionsphase. Woods und Himle konnten eine signifikante Verminderung der Tics in allen Suppressionsphasen (nach 5, 25 und 40 Minuten) im Vergleich zur Basalrate zeigen. Dabei zeigte sich kein signifikanter Unterschied zwischen den Zeitspannen der Unterdrückung (5, 25 oder 40 Minuten). Außerdem fanden sie eine negative Korrelation zwischen der Leistung in einem kontinuierlichen Performanztest (Conners Continous Performance Test) und der Fähigkeit, die Tics zu unterdrücken. Das bedeutet, dass eine verminderte Aufmerksamkeitsleistung mit einer geringeren Tic-Unterdrückung einhergeht. Es zeigte sich kein Effekt komorbider Erkrankungen auf die Fähigkeit, Tics zu unterdrücken.

Verdellen et al. (60) untersuchten bei 20 Probanden mit TS die Tic-Frequenz vor und nach 10 ERP-Sitzungen (siehe 2.5.2 Verhaltenstherapie). Das mittlere Alter der Probanden betrug 22,4 Jahre (7-55 Jahre). Die Untersuchung gliederte sich in drei Phasen, in denen die Tics jeweils per Video dokumentiert und ausgewertet wurden. In der ersten Phase wurde direkt vor dem ERP-Training ein 15-minütiges Gespräch über Hausaufgaben und die Erwartungen an die folgende Sitzung per Video dokumentiert. Aus diesem Gespräch wurden 5 Minuten zur Ermittlung der für den Probanden durchschnittlichen Tic-Rate, der Tic-Basalrate, verwendet.

Darauf folgten die 10 jeweils wöchentlich stattfindenden ERP-Sitzungen. In diesen musste der Proband seine Tics für jeweils zwei Stunden unterdrücken (zweite Phase). Im Anschluss an jede der ERP-Sitzungen wurden die Tics der Probanden für weitere 15 Minuten aufgezeichnet (dritte Phase). Eine Besonderheit dieser Studie war, dass drei Videoaufzeichnungen von Angehörigen der Probanden zu Hause aufgenommen wurden. Die Untersucher fanden folgende Ergebnisse: während der Tic-Unterdrückung reduzierten sich die Tics um bis zu 91%. In der dritten Phase nach der Tic-Unterdrückung trat kein Rebound-Effekt ein, sondern im Gegenteil eine Reduktion der Tics im Vergleich zur ersten Phase um im Mittel 33%. Diese Reduktion war nach der ersten, neunten sowie zehnten ERP-Sitzung signifikant. Auch in den im vertrauten, häuslichen Umfeld vorgenommenen Einschätzungen fand sich kein Rebound-Effekt. Dies wurde dahingehend interpretiert, dass die Art des Umfeldes (Labor versus Zuhause) nicht für das Ergebnis bedeutsam ist.

Als Limitationen dieser Studie sind folgende Punkte zu sehen: Ziel der Studie war es, die Wirksamkeit des ERP nachzuweisen, daher wurde die Hypothese aufgestellt, dass es keinen Rebound-Effekt gibt. Es liegen in der Studie einige Bedingungen vor, die den Nachweis des postulierten Rebound-Effekts erschweren. So konnte gezeigt werden, dass ein Gespräch über Tics, wie das über die bevorstehende ERP-Sitzung, die Tics verstärkt (61). Dann wäre die Anzahl der Tics in der Basalrate höher und der Nachweis eines Rebound-Phänomens folglich weniger wahrscheinlich. Zudem ist einzuwenden, dass eine gemischte pädiatrische und adulte Probandengruppe untersucht wurde, obwohl bekannt ist, dass Kinder unter 10 Jahren ihre Tics signifikant schlechter unterdrücken können als Erwachsene (56). Außerdem folgte der Postsuppressionsphase ein Gespräch über den Verlauf des ERP und die Hausaufgaben für die nächste Sitzung. Das könnte dem Probanden in der Postsuppressionsphase das Gefühl gegeben haben, dass die Sitzung „noch nicht vorbei sei“ und so zu einer weiteren Unterdrückung geführt haben.

Himle und Woods (62) führten eine weitere Studie mit insgesamt 7 Kindern durch, davon 6 Kinder mit TS und 1 Kind mit einer chronisch motorischen Tic-Erkrankung. Die Kinder waren im Mittel 9,86 Jahre (8-12 Jahre) alt. Bei einem Kind lag zusätzlich eine ADHS vor.

Die Studie war in 5 Phasen unterteilt: Ermittlung der Tics während der (1) Basalrate, (2) einer Suppressionsphase und (3) einer Postsuppressionsphase. Im Anschluss daran wurde die Tic-Häufigkeit in einer erneuten (4) Suppressionsphase und dann wieder einer (5) Postsuppressionsphase ermittelt. Alle Phasen waren jeweils 5 Minuten lang. Den Kindern wurde eine Belohnung für erfolgreiches Unterdrücken versprochen. In der Studie zeigte sich eine signifikante Verminderung der Tics um etwa 70% in den Suppressionsphasen im Vergleich zur Basalrate, aber kein Hinweis auf ein Rebound-Phänomen in den Postsuppressionsphasen. Ganz im Gegenteil kam es sogar auch in der Postsuppressionsphase nicht etwa zu einer Zunahme, sondern zu einer Verminderung der Tics um 17% im Vergleich zur Basalrate. Außerdem fanden die Autoren eine negative Korrelation zwischen einem Defizit der Aufmerksamkeitsleistung (gemessen mit der Child Behavior Checklist, „Attention problems subscale“ (63)) und der Fähigkeit zu unterdrücken.

Ebenso wie bei den zuvor beschriebenen Studien ist auch in dieser Studie die geringe Probandenanzahl als Limitation hervorzuheben. Dies gilt vor allem bezüglich der Korrelation zwischen ADHS und der Fähigkeit zu unterdrücken, da nur bei einem Probanden eine ADHS vorlag. Hinzu kommt, dass nicht angegeben wurde, wie genau die „Fähigkeit zu unterdrücken“ berechnet wurde. Da nach bisheriger Studienlage die Unterdrückbarkeit von Tics im Kindesalter nicht so gut ausgebildet ist wie in der Adoleszenz und im Erwachsenenalter (62), ist außerdem fraglich, ob fünf-minütige Untersuchungsintervalle nicht zu kurz sind, um mögliche Effekte durch eine Unterdrückung zuverlässig zu erfassen.

Meidinger et al. (64) untersuchten eine kleine Probanden-Gruppe mit 4 Kindern und 2 Erwachsenen in einem A-B-A-Design. Das mittlere Alter der Probanden betrug 10,83 Jahre (7-20 Jahre). Die Patienten wurden mittels einer Videokamera gefilmt und anschließend wurde die Anzahl der Tics ausgezählt. In der ersten Phase wurde die Tic-Basalrate ermittelt (A). Danach folgte die Tic-Unterdrückung (B). Nachfolgend kam die Postsuppressionsphase, in welcher keine Instruktion / Anreiz zur Tic-Unterdrückung gegeben wurde (A). Alle Phasen dauerten 30 Minuten. Während der Phase der Ermittlung der Tic-Basalrate und in der Postsuppressionsphase wurde den Probanden eine Fernsehsendung gezeigt. Die Phase der Unterdrückung gliederte sich in zwei Abschnitte: Im ersten Teil wurde die explizite Anweisung gegeben, die Tics zu unterdrücken, während der Proband sich allein im

Untersuchungszimmer befand („alone suppression“). Im zweiten Teil erhielt der Proband keine explizite Handlungsanweisung. Der Untersucher führte eine Unterhaltung mit dem Probanden, die aber nicht die Tics zum Inhalt hatte. Dies hatte das Ziel, den Einfluss von sozialem Druck auf die Unterdrückung zu untersuchen („social suppression“). In einer zweiten Phase der Untersuchung verkürzten Meidinger et. al das A-B-A-Design auf 5 Minuten pro Phase und erweiterten das Probandenkollektiv um einen Probanden (4 Kinder, 2 Erwachsene). Allerdings sahen die Probanden in dieser Folgestudie keine Fernsehsendung.

Des Weiteren wurden die Untersuchungsteilnehmer in der Suppressionsphase im Untersuchungszimmer allein gelassen.

Meidinger et al. (64) fanden lediglich bei einem Kind einen Rebound-Effekt im Sinne einer signifikanten Erhöhung der Tics (p<.0001; Angaben zur Stärke des Effektes werden nicht gemacht) in der Postsuppressionsphase im Vergleich zur Tic-Basalrate. Vorangegangen war eine signifikante Verminderung der Tics in der Suppressionsphase (bei sozialem Druck) im Vergleich zur Basalrate. Außerdem zeigte sich eine signifikante Erhöhung der Tics in der Postsuppressionsphase gegenüber der Basalrate (unter sozialem Druck) bei zwei Kindern, was üblicherweise als Rebound-Effekt angesehen wird. Allerdings waren die Tics während der Suppression nicht signifikant geringer als während der Basalrate, so dass davon auszugehen ist, dass die beiden Probanden ihre Tics nicht unterdrückt haben. Definiert man einen Rebound-Effekt als Folge einer gelungenen Suppression, dann ist bei diesen Kindern der Terminus Rebound-Effekt nicht angemessen. Bei den anderen 3 Probanden ergab sich hingegen kein Hinweis auf einen Rebound-Effekt.

Die Autoren führten als mögliche Ursache für den fehlenden Rebound eine eigene Beobachtung an. Und zwar beschrieben sie, dass während der Tic-Unterdrückung vor allem offensichtliche Tics, wie zum Bespiel Tics im Bereich des Gesichts, abnahmen. Auf der anderen Seite kam es zur Zunahme anderer natürlicher wirkender Tics. Nach Angabe der Autoren erschwerte dieses „Umlenken der Tics“ das Auszählen durch den Untersucher erheblich. Dadurch könnte es zu einer fehlerhaften Einschätzung der Tic-Häufigkeit gekommen sein. Dies sahen die Autoren im Zusammenhang mit der Tatsache, dass die Bewertung der Tics nur anhand der Tic-Häufigkeit erfolgte, was möglicherweise unzureichend ist. Vielmehr sollte auch eine Bewertung der Schwere der Tics erfolgen. Als Bestätigung für diese Auffassung führten die Autoren eigene Beobachtungen während der Studie an. So nahmen die Untersucher bei einigen Patienten eine stärkere Suppression und

sich jedoch objektiv nicht bestätigen. Eine mögliche Erklärung der Diskrepanz zwischen einer Erhöhung der Tics in der Postsuppressionsphase, die bei zwei Kindern, nicht aber bei den Erwachsenen gefunden wurde, sehen die Autoren darin, dass Erwachsene durch eine langjährige soziale Kontrolle (lächerlich machen und Bestrafung wegen der Tics) gelernt haben, ihre Tics besser umzulenken und somit gegenüber Dritten besser verbergen zu können.

Aufgrund der äußerst geringen Probandenzahl mit zusätzlich heterogenem Alter sollten weitere Studien folgen, um die Generalisierbarkeit dieser Ergebnisse zu überprüfen.

2.11 Ziele dieser Studie

Ziel dieser Studie war es zu überprüfen, ob infolge der Unterdrückung von Tics ein Rebound-Phänomen auftritt. Hiermit sollte auch der Frage des Nutzens verschiedener verhaltenstherapeutischer Therapieverfahren auf den Grund gegangen werden, deren Kern das Unterdrücken der Tics bzw. das Ausführen einer konkurrierenden Handlung oder Bewegung ist. Für derartige Therapieformen ist es daher von zentraler Bedeutung, ob es nach dem Unterdrücken der Tics zu einem überschießenden Anstieg der Tics über das Niveau vor der Unterdrückung hinaus kommt. Dies ist insofern von klinischer und praktischer Bedeutung, als eine vorübergehende Verminderung der Tics um den Preis einer anschließenden vorübergehenden Zunahme der Tics als Therapiekonzept nicht sinnvoll erscheint.

Dies ist von besonderem Interesse, da eine Vielzahl von Patienten im klinischen Alltag berichten, dass sie ihre Tics aufgrund einer nachfolgenden überschießenden Tic-Verschlechterung nur ungern unterdrücken. Wie oben beschrieben, konnte in allen bisherigen Studien kein Rebound-Effekt nachgewiesen werden. Aufgrund der Limitationen dieser Studien und im Hinblick auf die gegenteiligen klinischen Erfahrungen erschien es sinnvoll, eine erneute Prüfung der Hypothese vorzunehmen.

In keiner der bisher durchgeführten Studien wurde eine mögliche Erklärung dafür gefunden, warum die Patienten und Experten zwar von einem Rebound-Phänomen berichten, aber dieses bisher nicht nachgewiesen werden konnte. Ursächlich für die Diskrepanz zwischen den Ergebnissen empirischer Studien und den Berichten der Patienten könnten zum einen methodische Schwächen der bisher durchgeführten Studien gewesen sein. Bisher wurde nur eine sehr kleine Anzahl von Probanden untersucht, was den Nachweis eines Rebound-Effekts erschwert. Die Probandengruppen bestanden aus Kindern oder gemischt pädiatrisch-adulten Probandengruppen. Da Kinder ihre Tics schwerer unterdrücken können, ist das Auftreten

eines Rebound-Effektes hier weniger wahrscheinlich. Weiterhin vermuteten wir, dass bisher kein Rebound-Phänomen gezeigt werden konnte, weil die Messung der Tics in der Postsuppressionsphase unzureichend war. Eine gute zeitliche Auflösung der Registrierung der Tics in der Postsuppressionsphase ist von besonderer Bedeutung, um den Zeitraum des Rebound-Phänomens zu erfassen. Eine falsche Wahl der Messzeitpunkte könnte zu falsch negativen Ergebnissen führen. Zudem kontrollierten wir Variablen, die das Auftreten eines Rebound-Phänomens moderieren könnten. Wir haben Faktoren berücksichtigt, die sich auf die Fähigkeit zur Unterdrückung auswirken, da das Rebound-Phänomen eine Fähigkeit oder zumindest eine Anstrengung zur Tic-Unterdrückung voraussetzt. In diesem Zusammenhang untersuchten wir den Einfluss einer komorbiden ADHS sowie der Schwere auf die Tic-Unterdrückung.

Zum anderen könnte die Diskrepanz zwischen Studienlage und Patientenberichten auf eine verzerrte Wahrnehmung der Patienten zurückzuführen sein. Aus diesem Grund berücksichtigten wir die subjektive Wahrnehmung der Tics sowie das vorangehende Vorgefühl. Für den Fall, dass kein Nachweis eines Rebound-Effektes gelingt, liefert die Berücksichtigung subjektiver Parameter Hinweise für die Erklärung der Diskrepanz zwischen objektiven und subjektiven Befunden. In diesem Zusammenhang war es uns wichtig, dass die Probanden das Ziel der Studie nicht kannten. Da die Compliance für eine Verhaltenstherapie wesentlich durch das subjektive Erleben beeinflusst ist, hat dies auch eine klinische Bedeutung.

2.12 Hypothesen

Folgende Hypothesen wurden aufgestellt:

1. Eine willentliche Tic-Unterdrückung führt zu einer messbaren Verminderung der Tics.

2. Die Probanden nehmen subjektiv eine Verminderung der Tics während der Unterdrückung wahr.

3. Die willentliche Tic-Unterdrückung führt nachfolgend zu einem objektiv messbaren Rebound-Phänomen, das heißt zu einem Anstieg der Tics nach der Unterdrückung im Vergleich zur Tic-Ausprägung vor der Unterdrückung.

4. Auch von den Probanden wird nach der willentlichen Tic-Unterdrückung ein Rebound-Phänomen wahrgenommen.

5. Während der willentlichen Tic-Unterdrückung kommt es zu einer Zunahme des

5. Während der willentlichen Tic-Unterdrückung kommt es zu einer Zunahme des