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2. Gilles de la Tourette-Syndrom

2.3 Ätiologie

Zurzeit gehen Experten von einer multifaktoriellen Genese bei der Entstehung des TS aus (17). Eine Zusammenfassung über die für die Pathogenese des TS diskutierten Faktoren ist in Abbildung 2 dargestellt. Es wird vermutet, dass sowohl innere als auch äußere Faktoren eine Rolle spielen. Daher gibt es intensive Bemühungen mit Hilfe von molekulargenetischen Methoden wie Segregations-, Kopplungs- und Assoziationsstudien oder latenter Klassenanalyse, ein geeignetes Kandidatengen für eine Genmutation oder einen Suszeptibilitäts-Locus zu finden. Hierzu wurden zahlreiche Studien durchgeführt, ohne dass bisher allerdings ein viel versprechender Genlocus identifiziert werden konnte.

Zurzeit geht man von einem komplexen polygenen Vererbungsmodell aus (18, 19). Da sich aber sogar bei monozygoten Zwillingen nur eine Konkordanzrate von 50-70% (und nicht etwa von 100%) findet (20), gilt es als sicher, dass auch äußere (nicht-genetische) Faktoren relevant sind, die nicht nur die Entstehung, sondern vermutlich auch das Ausmaß eines TS beeinflussen.

Neben prä- und perinatalen Komplikationen und allgemeinem Stress wurde immer wieder diskutiert, ob auch immunologische Faktoren und Infekte als derartige exogene Faktoren relevant sein könnten. Freeman et al. (10) fanden in einer großen multizentrischen Studie mit 3500 Patienten bei 20% der Probanden prä- oder perinatale Komplikationen. Als weitere Risikofaktoren werden das Rauchen der Mutter während der Schwangerschaft (21), eine geringes Geburtsgewicht und ein höheres Alter der Eltern (22), aber auch allgemeiner Stress und bedeutsame Lebensereignisse diskutiert (23). In welcher Art und welchem Maße diese von Bedeutung sind, ist jedoch ebenso wenig geklärt wie die Frage der Kausalität. So können

viele der diskutierten postnatalen Faktoren sowohl Ursache als auch Folge des TS sein. Dies gilt auch für die nachfolgend beschriebenen immunologischen Auffälligkeiten.

Im Mittelpunkt dieser Überlegungen steht die Hypothese, dass Infektionen für die Entstehung von Tic-Störungen von Bedeutung sein könnten. Hier wiederum werden insbesondere Infekte mit ß-hämolysierenden Streptokokken der Gruppe A (GABHS) diskutiert, kurz PANDAS-Hypothese (Pediatric Autoimmune neuropsychiatric disorders associated with streptococcal infections). Untersuchungen im Hinblick auf einen ursächlichen Zusammenhang zwischen solchen Infektionen und der Entstehung oder Verschlechterung von Tics erbrachten bis heute widersprüchliche Befunde, so dass die Bedeutung von GABHS-Infekten für die Entstehung von Tics unklar bleibt. Ebenso offen ist die Befundlage zur Prüfung der Hypothese, ob eine immunologische Dysregulation in verschiedenen Regelkreisen des Körpers Ausgangspunkt oder Wegbereiter der Erkrankung sein könnte. Positive Befunde zur Bedeutung der immunologischen Dysregulation erbrachten Studien zu antineuronalen Antikörpern (24, 25, 26, 27). Gegen die Relevanz der immunologischen Dysregulation sprechen jedoch eine Reihe von anderen Studien (28, 29, 30, 31). Ebenso bleibt die Rolle intrathekaler oligoklonaler Banden und deren Kausalität ungeklärt (32).

Symptomatik können auch häusliche Videoaufnahmen und eine Befragung Angehöriger hilfreich sein.

2.5 Therapie

Die Indikation zur Therapie ist stets im Einzelfall zu stellen und hängt in hohem Maße vom Wunsch des Patienten ab, aber auch von der Art und Schwere der Tics, der sozialen Beeinträchtigung und zusätzlich bestehender Komorbiditäten. Es sind vor allem Zwänge, eine Depression und eine ADHS, die die Lebensqualität der Tourette-Patienten negativ beeinflussen (36). Die gängige Therapie des Tics ist zurzeit die medikamentöse Behandlung.

Dabei handelt es sich um eine symptomatische, oft unzureichend wirksame und nebenwirkungsreiche Therapie. Aus diesem Grund müssen mögliche Nebenwirkungen gegenüber dem zu erwartenden Therapieerfolg sorgfältig abgewogen werden. In den meisten Fällen ist eine Reduktion der Tics mit Hilfe einer medikamentösen Therapie um etwa 50% zu erwarten. In den letzten Jahren wurden neben der medikamentösen Therapie verschiedene Formen der Verhaltenstherapie eingeführt. Eine kurative Therapie ist bisher nicht bekannt (37).

2.5.1. Medikamentöse Therapie

Insgesamt ist die Datenlage zur medikamentösen Behandlung von Kindern und Erwachsenen mit Tics schlecht (37). Das in Deutschland einzig zugelassene Medikament in der Behandlung des TS ist Haloperidol. Wegen stärkerer Nebenwirkungen im Vergleich zu anderen Substanzen – vor allem Müdigkeit, Gewichtszunahme und sexuelle Dysfunktion – wird es jedoch heute nur noch als Reservemedikament eingesetzt. Auch andere klassische Antipsychotika wie Pimozid und Fluphenazin stellen in der Behandlung Erwachsener lediglich Reservemedikamente dar. Aufgrund guter klinischer Erfahrungen wird das Benzamid Tiaprid von der deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie als Medikament der ersten Wahl für Kinder empfohlen, gefolgt von den Atypika Risperidon und Aripiprazol. Bei Erwachsenen gelten Sulpirid, Risperidon und Aripiprazol als Substanzen der ersten Wahl.

Diese oben genannten Dopaminrezeptor-Antagonisten führen häufig zu Nebenwirkungen wie Müdigkeit, Gewichtssteigerung und Sexualfunktionsstörungen. Die meisten Studien zur Behandlung von Tics liegen für das Antipsychotikum Risperidon vor. In jüngster Zeit mehren

Antipsychotikum Aripiprazol besonders gut zur Behandlung von Tics geeignet ist, da es offenbar gut wirksam ist und seltener zu Nebenwirkungen führt. So kommt es unter Aripiprazol nicht zu Sexualfunktionsstörungen, Gewichtszunahme oder einer Prolaktinerhöhung und seltener zu Müdigkeit und extrapyramidal-motorischen Symptomen.

Wegen fehlender Studien beruht die Auswahl der Substanz vor allem auf klinischer Erfahrung und Gepflogenheiten der behandelnden Zentren.

2.5.2. Verhaltenstherapien

2.5.2.1. Habit Reversal Training und Comprehensive Behavorial Intervention for Tics (CBIT)

Das HRT wurde erstmals in den 1970er Jahren zur Behandlung von pathologischem Nägelkauen, Daumen lutschen und gegen Trichotillomanie eingesetzt (38, 39). Wenn solche automatisierten, ritualisierten und situationsspezifischen Verhaltensauffälligkeiten Teile von Verhaltensketten sind, so ist es für die Betroffenen meist schwer, diese spontan zu durchbrechen. Mit Hilfe des HRT wird versucht, in fünf Behandlungsschritten statt der oftmals ohne bewusste Kontrolle ablaufenden Verhaltensweisen ein neues kompetitives Alternativverhalten zu erlernen:

1. Wahrnehmungstraining: Das pathologische Verhalten (beispielsweise ein Tic) soll bewusst wahrgenommen werden. Um eine Intervention durchführen zu können, müssen den Tics vorausgehende Warnsignale sowie auslösende und aufrechterhaltende Faktoren erkannt werden. Bei Tourette-Patienten geht dem Tic in der Mehrzahl der Fälle ein Vorgefühl voraus. Wird dies spontan nicht berichtet, wird die Wahrnehmung eines vorangehenden Vorgefühls geübt. Als helfende Instrumente dienen Tagebücher oder Videodokumentation, vor allem bei bisher nicht wahrgenommenen Tics.

2. Training im Umgang mit unvorhersehbaren Ereignissen: Tics können als Reaktion auf vorhersehbare und unvorhersehbare Ereignisse auftreten. Ein zentraler Bestandteil des HRT ist es, Bewältigungsstrategien für unvorhersehbare Ereignisse einzuüben.

3. Entspannungstraining: Da Tics typischerweise durch Stress und Angst verstärkt werden und Entspannung meist zu einer Abnahme der Tics führt, umfasst das HRT das Einüben von Entspannungstechniken (z.B. progressive Muskelrelaxation nach Jacobsen (40)).

4. Identifizieren und Erlernen eines Alternativverhaltens = Competing Response Training: Alternativbewegungen sollen idealerweise mit den antagonisierenden Muskeln des eigentlichen Tics durchgeführt werden.

Wesentliche Bestandteile dieses Therapieschrittes bilden die Motivation des Patienten und die positive Verstärkung.

5. Automatisierung und Generalisierung des Verhaltens für gegebenenfalls schwierige Alltagssituationen.

Eine Weiterentwicklung des HRT ist die Comprehensive Behavorial Intervention for Tics (41). Zusätzlich zu den o.g. Techniken des HRT nutzt das CBIT ein erweitertes Spektrum an Strategien wie z.B. Psychoedukation über Tic-Störungen und eine detaillierte Funktionsanalyse.

2.5.2.2. Exposure and Response Prevention Training (ERP)

Beim ERP (42) wird von der Annahme ausgegangen, dass dem Tic immer ein Vorgefühl vorausgeht. Folglich wird zunächst die Wahrnehmung des Vorgefühls trainiert. Der sonst nachfolgend automatisch ausgeführte Tic soll unterdrückt werden, bis der Drang, den Tic auszuführen, nachlässt.

2.5.3. Therapie der Komorbiditäten

Bei der Therapie der Komorbiditäten ist grundsätzlich zu beachten, dass die Lebensqualität des Patienten durch stärker ausgeprägte Komorbiditäten meist sehr viel mehr beeinträchtigt wird als durch die Tics (36). Aus diesem Grund ist es wichtig, in der Anamnese auch mögliche komorbide Erkrankungen zu erfassen und ggf. zu behandeln.

2.5.3.1. Therapie der Zwangserkrankung

Die Therapie der Zwangserkrankung erfolgt alternativ medikamentös oder mittels kognitiver Verhaltenstherapie, bei der die Konfrontation mit der Angst-auslösenden Situation und die anschließende Bewältigung dieser Situation erfolgen soll (42). Medikamente der ersten Wahl sind Serotonin-Wiederaufnahmehemmer wie Citalopram oder Escitalopram (43).

2.5.3.2. Therapie der ADHS

Die Therapie der ADHS sollte stets multimodal erfolgen – gegebenenfalls unter Einbeziehung der Familie und des sozialen Umfeldes – mittels Psychoedukation, kognitiver Therapie, sozialem Kompetenztraining, Therapie von Teilleistungsschwächen und eventuell auch einer Pharmakotherapie. Präparat der ersten Wahl bei der medikamentösen Behandlung ist Methylphenidat. Andere Stimulanzien wie Amphetaminsulfat, Dexmethylphenidat oder Dextroamphetamin sind Mittel der zweiten Wahl. Für Kinder und Jugendliche sind außerdem als Mittel der zweiten Wahl das Präparat Atomoxetin sowie Lisdexfetamin zugelassen (37, 44).

2.6 Was sind Tics?

Tics sind definiert als „plötzliche, schnelle, sich wiederholende, nicht rhythmische motorische Bewegungen oder Lautäußerungen“ (6). Es wird vermutet, dass Tics physiologische Bewegungen darstellen, deren Auftreten in Zeit und Situation aber pathologisch ist (45, 46).

Tics werden nach ihrer Qualität unterteilt in „motorisch“ oder „vokal“ sowie nach ihrer Komplexität in „einfach“ oder „komplex“. Findet die Bewegung nur in einer einzelnen Muskelgruppe statt, so wird dies als „einfacher Tic“ bezeichnet, z.B. Augenblinzeln, Kopf- oder Schulterzucken. Sind hingegen mehrere Muskelgruppen an der Bewegung beteiligt oder ist die Bewegung scheinbar absichtsvoll, so nennt man dies einen „komplexen Tic“, z.B.

Springen oder Berühren von Gegenständen oder Menschen. Beispiele für einfache vokale Tics sind Ausstoßen von Luft oder Seufzen. Ein Beispiel für einen komplexen vokalen Tic ist das Aussprechen kurzer Sätze.

Zusätzlich gibt es weitere typische Phänomene, die vor allem in der Allgemeinbevölkerung wegen ihrer Ausgefallenheit und gesellschaftlichen Provokation mit dem TS in Verbindung gebracht werden. Sie treten bei den Betroffenen aber nur in der Minderheit der Fälle auf.

Dazu wird die sehr seltene Kopropraxie (das Ausführen obszöner Gesten) gezählt, die mit einer Lebenszeitprävalenz von 5,9% bei Männern und 4,9% bei Frauen auftritt. Auch die Koprolalie (das Ausrufen von Schimpfwörtern) wird oft mit dem TS in Zusammenhang gebracht, obwohl sie nur bei 19,3% der männlichen und 14,6% der weiblichen Patienten vorkommt (48). Noch seltener ist die Koprographie (das Schreiben oder Malen obszöner Wörter oder Bilder). Auch Echophänomene wie die Echopraxie (Wiederholung von

automatisierte Handlungen wie Duschen oder Tippen, passive Handlungen oder Interaktion mit Familienmitgliedern (53, 54).

2.8 Vorgefühl

Das Vorgefühl (= „premonitory urge“, auch „premonitory sensory urge“) bezeichnet ein Kitzeln, Kribbeln, Druck- oder Spannungsgefühl oder auch das Gefühl, „dass etwas nicht stimmt“, bevor ein Tic sich manifestiert. Dabei kann es sich einerseits um ein diffuses generalisiertes Gefühl handeln oder andererseits um ein lokales Gefühl genau an der Stelle, an der nachfolgend der Tic auftritt. Die Intensität des Vorgefühls variiert je nach Körperregion und ist besonders intensiv an den Schultern, Händen und Oberschenkeln (55). In Studien mit Kindern und Jugendlichen konnte gezeigt werden, dass die Wahrnehmung des Vorgefühls altersabhängig ist (55, 56). Demnach besteht bei Kindern zwischen 8 und 10 Jahren in 24%

der Fälle ein Vorgefühl, bei Kindern zwischen 11 bis 14 Jahren in 34% und bei Jugendlichen besteht im Alter zwischen 15 und 19 Jahren in 57% der Fälle ein Vorgefühl (56). Über alle Altersgruppen von 8 bis 19 Jahren zusammengenommen besteht in 37% der Fälle ein Vorgefühl (56), bei Erwachsenen hingegen in 74% (57) - 93% (55) und somit der überwiegenden Mehrzahl der Patienten. Ob die Ursache dieser Entwicklung dadurch zu erklären ist, dass sich das Vorgefühl erst in der Adoleszenz entwickelt oder in einer Veränderung der Wahrnehmung und Möglichkeiten zur Artikulation liegt, konnte bisher nicht geklärt werden. Interessant ist jedoch, dass viele Patienten das Vorgefühl an sich als viel störender empfinden als den Tic selbst, der von den Betroffenen oftmals nur als Folge dieses unangenehmen und unausweichlichen Gefühls gewertet wird.

Die neueste Studie zu dieser Thematik führten Ganos et al. (58) durch. Sie untersuchten an 15 erwachsenen Probanden, ob ein Zusammenhang zwischen der Stärke des Vorgefühls (anhand der Premonitory Urge Tic Scale (PUTS), siehe 3.7 Fragebögen zur Selbsteinschätzung der Probanden: PUTS, VAS und Relative Messung der Tics (RVTR)) und der Fähigkeit zur Tic-Unterdrückung besteht. Zur Berechnung der Fähigkeit zur Tic-Unterdrückung (Original:

„Inhibition potency“) entwickelten Ganos et al. den Terminus IP=(RF-RI)/RF, wobei IP = Inhibition potency (Fähigkeit zur Tic-Unterdrückung) bedeutet, RF der Tic-Schwere vor Unterdrückung entspricht und RI die Tic-Schwere während der Unterdrückung bezeichnet (basierend auf den mit dem Modified Rush Video Protokoll (MRVS) ermittelten Tic-Scores (siehe 3.3.1 Videoaufzeichnung und Modified Rush Video Protokoll). Die Autoren fanden keine signifikante Korrelation zwischen PUTS und IP oder IP und Yale Global Tic Severity

Scale (YGTSS, siehe 3.6 Fragebögen zur Charakterisierung des Probandenkollektivs) und schlussfolgerten daher, dass die Fähigkeit zur Tic-Unterdrückung nicht von der Wahrnehmung des Vorgefühls abhängt. Auch führt dies zu der Frage, ob das Vorgefühl tatsächlich der Kern des TS ist oder ein sekundär verursachtes Phänomen. Zudem stellt sich die Frage, ob das Fokussieren auf das Vorgefühl, wie es beim HRT/CBIT und der ERP (siehe 2.5 Verhaltenstherapien) trainiert wird, ein Erfolg versprechendes Therapiekonzept darstellt, dass tatsächlich am Kernpunkt der Erkrankung angreift oder ob dadurch nur die Wahrnehmung eines sekundären Vorgefühls verstärkt wird, welches für den Patienten viel unangenehmer ist als der Tic selbst.

2.9 Unterdrückbarkeit der Tics

Die Tics unterliegen nicht nur äußeren und inneren Einflüssen, sondern können auch von vielen Patienten bewusst unterdrückt werden. Während die meisten Patienten spontan angeben, dass sie ihre Tic nur kurz (d.h. für Sekunden) unterdrücken können, konnten Woods und Himle (59) zeigen, dass eine Tic-Unterdrückung nach Aufforderung und mit entsprechender Motivation, z.B. in Form einer versprochenen Belohnung, auch über einen längeren Zeitraum von 5, 25 und sogar 40 Minuten möglich ist. Dieses Charakteristikum des TS ist in der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion von großer Bedeutung, da die neu etablierten verhaltenstherapeutischen Verfahren wie HRT/CBIT und ERP (siehe 2.5 Verhaltenstherapien) eine gute Fähigkeit zur Unterdrückung der Tics voraussetzen. Dabei wird davon ausgegangen, dass es notwendig ist, die Wahrnehmung des Vorgefühls zu üben und zu stärken, um die Fähigkeit zur Unterdrückung trainieren zu können. Es wird dabei versucht, das Vorgefühl als Signal für einen kommenden Tic zu werten und daraufhin die Ausübung einer alternativen Handlung für einen einzelnen Tic (beim HRT/CBIT) bzw. die globale Tic-Unterdrückung (beim ERP) einzuleiten. Ungeklärt ist in diesem Zusammenhang, ob verhaltenstherapeutische Maßnahmen wie das HRT/CBIT oder ERP auch dann zu erlernen sind, wenn Patienten angeben, kein Vorgefühl zu haben.

Außerdem geben viele Patienten im klinischen Alltag an, dass sie ihre Tics nicht gern unterdrücken. Sie empfinden das Unterdrücken als äußerst anstrengend und erschöpfend.

Außerdem fordere es viel Konzentration und verursache eine enorme innere Anspannung, die sich dann in überschießenden Tics entlade. Weiterhin berichten die meisten Patienten spontan, dass das Vorgefühl während der Unterdrückung immer weiter zunehme bis es unerträglich

werde und nur durch einen Tic erleichtert werden könne. Dieses Gefühl könne dabei nur aufgeschoben, aber nicht aufgehoben werden.

2.10 Rebound-Phänomen

Neben den für das TS typischen Fluktuationen und der Abhängigkeit von situativen und individuellen Einflüssen, berichten viele Patienten über einen Anstieg ihrer Tics und eine Verstärkung des Vorgefühls nach der Tic-Unterdrückung, dem sogenannten Rebound-Phänomen. Dieser von den meisten Patienten empfundene überschießende Tic-Anstieg ist ein Grund dafür, dass viele Patienten ihre Tics nicht gerne unterdrücken. Außerdem geben viele an, dass die Unterdrückung viel Konzentration und Anstrengung fordere. Diese Berichte von Patienten sind im Hinblick auf die Einführung von Verhaltenstherapien (HRT/CBIT, ERP) zur Behandlung von Tics von großem Interesse (siehe 2.5 Verhaltenstherapien). Sollte es in der Tat – wie von vielen Patienten beschrieben - nach dem willentlichen Unterdrücken zu einem bedeutsamen Anstieg der Tics kommen, wäre kritisch zu hinterfragen, ob Verhaltenstherapien dieser Art sinnvoll sind.

Bisher wurden vier Studien durchgeführt, in denen das Rebound-Phänomen untersucht wurde:

In der ersten Studie untersuchten Woods und Himle (16) 13 Kinder mit chronisch motorischer oder vokaler Tic-Störung oder TS. Bei 46,2% der Probanden lag zusätzlich eine ADHS vor und 38,5% litten neben dem TS an einer generalisierten Angststörung. Das mittlere Alter der Probanden lag bei 11,5 Jahren (10-17 Jahre). Die Untersuchung gliederte sich in eine Phase zur Ermittlung der Tic-Basalrate (vor der willentlichen Unterdrückung der Tics), eine Unterdrückungsphase und eine Phase nach der Unterdrückung. Jedes Kind wurde dabei mit dem Anreiz einer Belohnung angeleitet, die Tics für 5, 25 oder 40 Minuten zu unterdrücken.

Daraufhin folgte eine 5-minütige Postsuppressionsphase. Woods und Himle konnten eine signifikante Verminderung der Tics in allen Suppressionsphasen (nach 5, 25 und 40 Minuten) im Vergleich zur Basalrate zeigen. Dabei zeigte sich kein signifikanter Unterschied zwischen den Zeitspannen der Unterdrückung (5, 25 oder 40 Minuten). Außerdem fanden sie eine negative Korrelation zwischen der Leistung in einem kontinuierlichen Performanztest (Conners Continous Performance Test) und der Fähigkeit, die Tics zu unterdrücken. Das bedeutet, dass eine verminderte Aufmerksamkeitsleistung mit einer geringeren Tic-Unterdrückung einhergeht. Es zeigte sich kein Effekt komorbider Erkrankungen auf die Fähigkeit, Tics zu unterdrücken.

Verdellen et al. (60) untersuchten bei 20 Probanden mit TS die Tic-Frequenz vor und nach 10 ERP-Sitzungen (siehe 2.5.2 Verhaltenstherapie). Das mittlere Alter der Probanden betrug 22,4 Jahre (7-55 Jahre). Die Untersuchung gliederte sich in drei Phasen, in denen die Tics jeweils per Video dokumentiert und ausgewertet wurden. In der ersten Phase wurde direkt vor dem ERP-Training ein 15-minütiges Gespräch über Hausaufgaben und die Erwartungen an die folgende Sitzung per Video dokumentiert. Aus diesem Gespräch wurden 5 Minuten zur Ermittlung der für den Probanden durchschnittlichen Tic-Rate, der Tic-Basalrate, verwendet.

Darauf folgten die 10 jeweils wöchentlich stattfindenden ERP-Sitzungen. In diesen musste der Proband seine Tics für jeweils zwei Stunden unterdrücken (zweite Phase). Im Anschluss an jede der ERP-Sitzungen wurden die Tics der Probanden für weitere 15 Minuten aufgezeichnet (dritte Phase). Eine Besonderheit dieser Studie war, dass drei Videoaufzeichnungen von Angehörigen der Probanden zu Hause aufgenommen wurden. Die Untersucher fanden folgende Ergebnisse: während der Tic-Unterdrückung reduzierten sich die Tics um bis zu 91%. In der dritten Phase nach der Tic-Unterdrückung trat kein Rebound-Effekt ein, sondern im Gegenteil eine Reduktion der Tics im Vergleich zur ersten Phase um im Mittel 33%. Diese Reduktion war nach der ersten, neunten sowie zehnten ERP-Sitzung signifikant. Auch in den im vertrauten, häuslichen Umfeld vorgenommenen Einschätzungen fand sich kein Rebound-Effekt. Dies wurde dahingehend interpretiert, dass die Art des Umfeldes (Labor versus Zuhause) nicht für das Ergebnis bedeutsam ist.

Als Limitationen dieser Studie sind folgende Punkte zu sehen: Ziel der Studie war es, die Wirksamkeit des ERP nachzuweisen, daher wurde die Hypothese aufgestellt, dass es keinen Rebound-Effekt gibt. Es liegen in der Studie einige Bedingungen vor, die den Nachweis des postulierten Rebound-Effekts erschweren. So konnte gezeigt werden, dass ein Gespräch über Tics, wie das über die bevorstehende ERP-Sitzung, die Tics verstärkt (61). Dann wäre die Anzahl der Tics in der Basalrate höher und der Nachweis eines Rebound-Phänomens folglich weniger wahrscheinlich. Zudem ist einzuwenden, dass eine gemischte pädiatrische und adulte Probandengruppe untersucht wurde, obwohl bekannt ist, dass Kinder unter 10 Jahren ihre Tics signifikant schlechter unterdrücken können als Erwachsene (56). Außerdem folgte der Postsuppressionsphase ein Gespräch über den Verlauf des ERP und die Hausaufgaben für die nächste Sitzung. Das könnte dem Probanden in der Postsuppressionsphase das Gefühl gegeben haben, dass die Sitzung „noch nicht vorbei sei“ und so zu einer weiteren Unterdrückung geführt haben.

Himle und Woods (62) führten eine weitere Studie mit insgesamt 7 Kindern durch, davon 6 Kinder mit TS und 1 Kind mit einer chronisch motorischen Tic-Erkrankung. Die Kinder waren im Mittel 9,86 Jahre (8-12 Jahre) alt. Bei einem Kind lag zusätzlich eine ADHS vor.

Die Studie war in 5 Phasen unterteilt: Ermittlung der Tics während der (1) Basalrate, (2) einer Suppressionsphase und (3) einer Postsuppressionsphase. Im Anschluss daran wurde die Tic-Häufigkeit in einer erneuten (4) Suppressionsphase und dann wieder einer (5) Postsuppressionsphase ermittelt. Alle Phasen waren jeweils 5 Minuten lang. Den Kindern wurde eine Belohnung für erfolgreiches Unterdrücken versprochen. In der Studie zeigte sich eine signifikante Verminderung der Tics um etwa 70% in den Suppressionsphasen im Vergleich zur Basalrate, aber kein Hinweis auf ein Rebound-Phänomen in den Postsuppressionsphasen. Ganz im Gegenteil kam es sogar auch in der Postsuppressionsphase nicht etwa zu einer Zunahme, sondern zu einer Verminderung der Tics um 17% im Vergleich

Die Studie war in 5 Phasen unterteilt: Ermittlung der Tics während der (1) Basalrate, (2) einer Suppressionsphase und (3) einer Postsuppressionsphase. Im Anschluss daran wurde die Tic-Häufigkeit in einer erneuten (4) Suppressionsphase und dann wieder einer (5) Postsuppressionsphase ermittelt. Alle Phasen waren jeweils 5 Minuten lang. Den Kindern wurde eine Belohnung für erfolgreiches Unterdrücken versprochen. In der Studie zeigte sich eine signifikante Verminderung der Tics um etwa 70% in den Suppressionsphasen im Vergleich zur Basalrate, aber kein Hinweis auf ein Rebound-Phänomen in den Postsuppressionsphasen. Ganz im Gegenteil kam es sogar auch in der Postsuppressionsphase nicht etwa zu einer Zunahme, sondern zu einer Verminderung der Tics um 17% im Vergleich