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5. Diskussion

5.1. Diskussion der Hypothesen

5.1.1. Tic-Unterdrückung (nach MRVS und VAS)

Hypothese: Eine willentliche Tic-Unterdrückung führt zu einer messbaren Verminderung der Tics.

Wir konnten in unserer Studie eine 10-minütige signifikante Tic-Verminderung um 44%

durch eine willentliche Tic-Unterdrückung nach einer versprochenen Belohnung für eine gelungene Unterdrückung zeigen (nach MRVS-TTS). Ein Vergleich der objektiven Tic-Messung mittels MRVS und der subjektiven Wahrnehmung der Probanden (nach VAS) zeigte, dass die Probanden eine objektiv messbare Reduktion der Tics auch als solche Verminderung wahrnahmen. Dieses Ergebnis bestätigt die Annahme, dass auch erwachsene Probanden über einen Zeitraum von 10 Minuten ihre Tics gut unterdrücken können. Bisher konnte eine Tic-Unterdrückung bis zu 40 Minuten an gemischt adult-pädiatrischen Gruppen gezeigt werden (59). Erstmals konnten wir diesen Effekt in unserer Studie für eine rein adulte Probandengruppe nachweisen. Zusätzlich konnten wir die gute Selbsteinschätzung der Probanden während einer Phase der Unterdrückung zeigen, was vor allem im Kontrast zur Selbsteinschätzung nach 20 und 30 Minuten steht. Zu diesen beiden Messzeitpunkten nehmen die Probanden eine Verminderung der Tics war, die sich aber nicht objektiv (nach MRVS)

Bisherige Studien konnten zeigen, dass eine Tic-Unterdrückung von bis zu 40 Minuten (59) mit einer Verminderung der Tics von bis zu 70% (59, 56) möglich ist und dass die Tic-Unterdrückung durch eine Belohnung verbessert werden kann (73, 74).

5.1.2. Rebound-Phänomen und die subjektive Tic-Wahrnehmung (nach VAS)

Hypothese: Die willentliche Tic-Unterdrückung führt nachfolgend zu einem objektiv messbaren Rebound-Phänomen, das heißt zu einem Anstieg der Tics nach der Unterdrückung im Vergleich zur Tic-Ausprägung vor der Unterdrückung. Auch von den Probanden wird nach der willentlichen Tic-Unterdrückung ein Rebound-Phänomen wahrgenommen.

Das Ziel unserer Studie war es zu prüfen, ob auf eine willentliche Tic-Unterdrückung ein paradoxer Tic-Anstieg folgt. Die These gründet sich darauf, dass das Rebound-Phänomen von der Mehrzahl der Patienten und 77% der Experten als Folge einer Tic-Unterdrückung angenommen und berichtet wird (75). Das Verspüren eines Rebound-Phänomens ist der Grund dafür, dass viele Patienten ihre Tics nur äußerst ungern unterdrücken (76) und Experten lange Zeit empfohlen haben, eine willentliche Tic-Unterdrückung zu vermeiden.

Daraus resultiert ein Dilemma: Die Patienten empfinden die Tics einerseits als sozial unangemessen, weshalb sie diese unterdrücken wollen. Auf der anderen Seite wollen sie die Unterdrückung vermeiden, um nachfolgend nicht einen starken Anstieg der Tics zu provozieren.

In unserer Studie konnten wir nach einer willentlichen Tic-Unterdrückung zu keinem der Messzeitpunkte ein Rebound-Phänomen (nach MRVS) nachweisen. Die Ergebnisse stehen somit im Einklang mit den Resultaten bisheriger Studien, die ebenfalls kein Rebound-Phänomen zeigen konnten (59, 60, 62, 64). Wir führten unsere Studie an der bisher größten Zahl ausschließlich erwachsener Probanden durch und wählten mehrere Messzeitpunkte für eine Erfassung des Rebounds. Auf diese Weise optimierten wir das Studiendesign im Vergleich zu vorausgegangenen Studien.

Diese Befunde stehen in starkem Kontrast zu bisherigen Erfahrungen und Angaben der Patienten im klinischen Alltag. Nachdem wir mittels objektiver Tic-Messung nach MRVS keinen Rebound-Effekt nachweisen konnten, liefert die Messung der subjektiven Tic-Stärke (mit VAS) nun erstmals einen Hinweis auf eine Ursache für die Diskrepanz zwischen objektiver Tic-Messung und Angaben der Patienten und Experten zu einem auftretenden Rebound-Phänomen. Bemerkenswert ist hier zunächst, dass die wiederholte Erhebung der

subjektiven Stärke ebenfalls kein Rebound-Phänomen zeigt. Die subjektive Tic-Ausprägung liegt direkt nach der Tic-Unterdrückung ungefähr auf dem Niveau der subjektiven Tic-Ausprägung während der Basalrate. Nachfolgend nahmen die Probanden in unserer Studie dann 20 und 30 Minuten nach der Unterdrückung signifikant weniger Tics wahr als während der Basalrate und 10 Minuten nach der Unterdrückung. Möglicherweise liegt die Annahme, dass die Tics nach der Unterdrückung signifikant ansteigen nicht darin begründet, dass sie direkt nach der Unterdrückung über die Basalrate hinaus ansteigen, sondern darin, dass sie während der Unterdrückung und im Anschluss daran signifikant niedriger werden. Dass zwischen der Tic-Unterdrückung und bis zu 20 Minuten nach der Unterdrückung auftretende Tic-Plateau könnte subjektiv als Rebound-Phänomen wahrgenommen werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Tic-Rate während der Unterdrückung als „Referenz“ heran gezogen wird. Interessant ist jedoch, dass sich dieser Effekt nur bei der Messung mit der absoluten Skala (VAS), nicht aber bei der Selbsteinschätzung mit der relativen Skala (RVTR) zeigt, bei der Probanden keine signifikanten Veränderungen nach der Tic-Unterdrückung angaben. Eine Erklärung für diese Diskrepanz fällt schwer. Die beiden subjektiven Verfahren unterscheiden sich vor allem darin, dass bei der RVTR-Messung die Probanden ihren Zustand explizit mit der Tic-Basalrate vergleichen müssen. Dies führt – gemessen an dem objektiven Verfahren – zu einer valideren subjektiven Einschätzung.

Unsere Ergebnisse bestätigen Daten, die Pappert et al. (77) in einer Längsschnittstudie erhoben. Während alle Probanden, die in der Selbsteinschätzung Tics berichteten, auch objektiv Tics zeigten, waren nur 50% der Probanden Tic-frei, die subjektiv keine Tics angaben. Diese Studiengruppe fand also ebenso wie wir Unterschiede zwischen der subjektiven und objektiven Tic-Messung. Darüber hinaus fanden sie, dass die Probanden in der Selbsteinschätzung weniger Tics angaben, als objektiv messbar waren. Bisher wurde keine Hypothese zu diesem Phänomen aufgestellt.

Wir können aufgrund unserer Ergebnisse vermuten, dass die Patienten fälschlicherweise von einem Rebound-Effekt ausgehen, da sie stark von der kurzfristigen Tic-Ausprägung beeinflusst werden und nicht so sehr die Tics im Gesamtverlauf wahrnehmen und korrekt einordnen können. Dies wäre eine plausible Erklärung dafür, dass die Tics etwa direkt nach der Tic-Unterdrückung als „überschießend“ wahrgenommen werden und gleichzeitig aber keine signifikante Tic-Erhöhung in bisherigen Studien und unserer Studie nachgewiesen

Patienten und Experten von einem Rebound-Phänomen ausgehen, bisherige Studien (einschließlich unserer) aber keines nachweisen konnten.

Wenn sich diese neu gewonnen Hinweise bestätigen lassen, sollte ein Umdenken in der Beratung der Patienten und Eltern von Kindern mit TS stattfinden. Patienten kann empfohlen werden, dass sie ihre Tics durchaus unterdrücken können und keine überschießende Tic-Reaktion zu erwarten ist z.B. nach einer Tic-Unterdrückung während der Arbeit oder in der Schule. Im Rahmen verhaltenstherapeutischer Interventionen wie HRT/CBIT und ERP wird eine Unterdrückung der Tics bzw. eine alternative Handlung eingeübt (s.o.). Wäre ein Rebound-Phänomen nach der Unterdrückung der Tics zu erwarten, würde das gegen dieses Prinzip der Therapie sprechen. Da mit unserer Studie nun zum wiederholten Mal gezeigt werden konnte, dass es zumindest nach einer Unterdrückung der Tics von zehn Minuten nicht zu einem signifikanten Tic-Anstieg kommt, finden Verhaltenstherapien wie HRT/CBIT und ERP weitere Unterstützung.

5.1.3. Vorgefühl (nach PUTS)

Hypothese: Während der willentlichen Tic-Unterdrückung kommt es zu einer Zunahme des Vorgefühls.

In unserer Studie empfanden alle Probanden ein Vorgefühl. Es zeigte sich über die fünf Messzeitpunkte keine signifikante Variation des Vorgefühls. Es fand sich lediglich eine Korrelation des Vorgefühls mit der Anzahl der Tics (nach MRVS) zum letzten Messzeitpunkt 30 Minuten nach der Tic-Unterdrückung. Weiterhin fanden wir in unserer Studie keinen Zusammenhang zwischen dem Vorgefühl und der Tic-Schwere (nach YGTSS). Auch korrelierte das Vorgefühl (nach PUTS) nicht mit der Fähigkeit zur Tic-Unterdrückung (IP) (58). Dies deckt sich mit den Studienergebnissen von Ganos (58). Die Autoren stellten im Zuge ihrer Studie die Hypothese auf, dass die Fähigkeit, die Tics zu unterdrücken, unabhängig von der Wahrnehmung des Vorgefühls ist. Die mangelnde Variation des Vorgefühls über verschiedene Phasen der Tic-Ausprägung und die mangelnde Korrelation des Vorgefühls mit der Fähigkeit zur Unterdrückung stützen die aufgestellte Hypothese, dass das Vorgefühl kein unbedingtes Erfordernis für einen Tic ist, sondern Tic und Vorgefühl voneinander unabhängige Phänomene sind. Dies stellt die gängige Praxis nicht infrage, mit den Patienten im Rahmen einer Verhaltenstherapie wie dem HRT/CBIT die Wahrnehmung des Vorgefühls zu trainieren. Diesbezüglich sind jedoch spezifische Studien erforderlich. Die fehlende Variation des Vorgefühls über alle Messzeitpunkte ist auch insofern ein interessantes

Ergebnis, als die Patienten in der Praxis im Gegenteil berichten, dass das Vorgefühl während des Unterdrückens immer weiter ansteige und sie die Tics nicht weiter unterdrücken könnten, weil das Vorgefühl so stark würde. Unsere Daten zeigen, dass das von den Probanden berichtete Vorgefühl während der Unterdrückung nicht ansteigt. Es gilt zu berücksichtigen, dass die Anzahl der Tics in der Unterdrückungsphase deutlich reduziert ist. Wenn die Anzahl der Tics sinkt, dass Vorgefühl aber bleibt, wird dies wahrscheinlich als unvermindert unangenehm wahrgenommen. Dies könnte dazu führen, dass die Patienten im klinischen Gespräch das verbleibende unangenehme Vorgefühl betonen. Weiterhin könnte die Diskrepanz zwischen den messbaren Ergebnissen und den klinischen Erfahrungen damit zusammenhängen, dass in der Untersuchungssituation die Aufmerksamkeit der Patienten generell stark auf ihre Tics und auch das Vorgefühl gerichtet ist. Dies gilt insbesondere für die von uns geschaffene Untersuchungssituation, in der die Probanden explizit aufgefordert werden, das Vorgefühl ständig zu bewerten; wohingegen sie im klinischen Gespräch aus der Erinnerung heraus von dem Vorgefühl berichten.

5.1.4. Tic-Schwere (nach YGTSS)

Hypothese: Die Tic-Schwere korreliert negativ mit der Fähigkeit, die Tics zu unterdrücken.

Die Tic-Schwere nach YGTSS korrelierte stark mit den objektiv registrierten Tic-Indikatoren nach MRVS, was für die Validität des Tests spricht. In Situationen, in denen eine objektive Registrierung der Tics nicht möglich ist, kann die YGTSS als Indikator für den Tic-Gesamtscore herangezogen werden. Zwischen der Tic-Schwere nach YGTSS und der Fähigkeit zur Tic-Unterdrückung (IP (58)) fanden sich hingegen keine Korrelationen. Dies weist darauf hin, dass die willkürliche Beeinflussung der Tics unabhängig von dem Ausmaß der Tic-Schwere ist und deckt sich mit den Ergebnissen von Ganos et al. (58).

5.1.5. ADHS

Hypothese: Probanden mit einer komorbiden ADHS können ihre Tics signifikant schlechter unterdrücken.

In unserer Studie zeigte sich kein signifikanter Unterschied in der Tic-Rate (nach MRVS) der Probanden mit ADHS im Vergleich zu denen ohne eine komorbide ADHS. Die Mittelwerte der beiden Gruppen deuten zwar in die vermutete Richtung, die Unterschiede sind jedoch

von n=9 (Probanden mit ADHS) und n=13 (Probanden ohne ADHS) ist die statistische Power zur Aufdeckung von Mittelwertunterschieden in unserer Studie zu gering, um weitreichende Schlussfolgerungen zuzulassen. Der beobachtete Trend ist im Einklang mit den bisherigen Annahmen, dass Patienten mit einer komorbiden ADHS aufgrund der verminderten Aufmerksamkeitsleistung ihre Tics schlechter unterdrücken können (62).