• Keine Ergebnisse gefunden

Was heißt Schreiben? Aspekte des Schriftverstehens

1. EINLEITUNG

6.2 Was heißt Schreiben? Aspekte des Schriftverstehens

anzusiedelndes Medium, wohingegen die gesprochene Sprache in der Nähe analoger Sym-bolsysteme angesiedelt werden muss und an die Lautartikulation gebunden bleibt. Dies spielt sowohl bei der Produktion als auch der Rezeption von Schriftgebrauchsformen eine wesentli-che Rolle. Typenbildungs- und Projektionskompetenz beziehen sich eher auf den produktiven Teil der Sprachspielkompetenz. Die transkriptive Kompetenz bezieht sich eher auf die Rezep-tion von Schriftgebrauchsformen. Mithilfe von transkriptiven Verfahren wird Bedeutung er-schlossen. Jedoch darf diese Unterscheidung nicht als Dichotomie aufgefasst werden. Denn Produktionsprozesse sind ohne Verstehensleistungen nicht denkbar, und umgekehrt ist auch das Verstehen von Schriftgebrauchsformen ein produktiver Vorgang (vgl. Schneider 2008:

242).

Ein solches Verständnis von Sprachkompetenz als Sprachspielkompetenz hat gravierende Konsequenzen für den linguistischen Kompetenzbegriff. Anders als das tradierte – auf das Chomskysche Paradigma zurückgehende – Verständnis von Sprachkompetenz, das diese auf grammatische Kompetenz reduziert, wird sie hier als vielschichtige Fähigkeit konzipiert, an so-zialen Sprachspielen bzw. kommunikativen Praktiken erfolgreich teilnehmen zu können. Ihre mediale Angemessenheit erhält die Sprachspielkompetenz durch die transkriptive Kompetenz.

Denn hier wird die Fähigkeit entwickelt, sich zwischen verschiedenen Medialitätsräumen zu bewegen und das passende Medium für die Erreichung des jeweiligen Ziels auszuwählen. Im folgenden Kapitel wird ausführlich beschrieben, welche Aspekte des Schriftverstehens ge- und misslingen können und wie Schrift bzw. Schreiben näher zu erläutern sind.

ge-worden, dass Schriftformen-Verstehen ein äußerst komplexer Vorgang ist, der unterschied-lichste Aspekte beinhaltet.

Es gibt viele verschiedene Arten des Unvertraut-Seins mit Schriftformen (vgl. Goodman 1997:

36). Man denke an einen nur Deutsch sprechenden und lesenden Handelnden, der konfron-tiert wird mit

a) einem Englisch gedruckten Abschnitt

b) einem Abschnitt, der in Russisch gedruckt ist c) einem Emoticon

d) <Bestuerzung an> DAS habe ich gar nicht gewusst <Bestuerzung aus>.

Im ersten Fall ist das Symbolschema (also die Buchstaben) vertraut, nicht aber das Symbol-system. Die referentielle Verwendung kann nicht stattfinden, da die Wörter dem Handelnden unbekannt sind und er daher nicht weiß, was er liest (auch wenn er es zur Not laut vorlesen könnte). Das Symbolschema ist zwar vertraut, aber da in Alphabetschrift Geschriebenes nicht direkt einen semantischen Wert darstellt, sondern über die sekundäre Darstellung eines be-stimmten Wortes einer einzigen Sprache funktioniert, ist die Bezugnahme auf dieses Wort verhindert. Dennoch kann der Leser, da er mit dem Symbolschema vertraut ist, exemplifizierte und ausgedrückte Bedeutungen interpretieren, die neben der Proposition mit der Äußerung dieser Schriftform erzeugt werden. Das bedeutet, dass der Handelnde durch die Kenntnis des Symbolschemas Symbolsysteme entwickeln kann, selbst wenn die referentielle Verwendung nicht möglich ist.

Bei (b) sind auch die Buchstaben (also das Symbolschema) nicht vertraut. Hier wird die refe-rentielle und die exemplifizierende Verwendung blockiert, da der Handelnde wie bei (a) nicht auf eine einzelne Sprache referieren kann und zusätzlich die Eigenschaften der Buchstaben, die exemplifiziert werden, nicht kennt und somit nicht mit ihnen umgehen kann. Die Entwick-lung von Symbolsystemen ist nicht möglich.

Bei (c) sind zwar die verwendeten Zeichen bekannt (denn sie stammen aus dem Symbolsche-ma Alphabet plus Interpunktionszeichen), doch ohne die zusätzliche Kenntnis der Verwen-dungsregeln zur Etablierung des Symbolsystems Emoticons wird der Leser die Schriftäuße-rung nicht interpretieren können und somit die Eigenschaften der verwendeten Schriftzeichen nicht mit den ihnen zugeschriebenen Funktionen korrelieren können. Obwohl das Symbol-schema bekannt ist, ist das Symbolsystem (und damit Exemplifikation und Ausdruck) unbe-kannt.

Bei (d) sind sowohl Symbolschema als auch das Symbolsystem Alphabetschrift bekannt. Je-doch sind die zusätzlich entwickelten Symbolsysteme unbekannt. Der Leser wird die Äuße-rung der Chattenden in dem Sinne verstehen können, als er die konventionellen Bedeutungen der Äußerungen kennt. Doch die subtilen, neben der Proposition zusätzlich entwickelten Be-deutungen werden ihm entgehen. Die neben der denotativen Bezugnahme verwendeten

Sym-bolsysteme (zur Exemplifikation und zum Ausdruck) wird er nicht wahrnehmen und somit nicht interpretieren können. Ihm fehlt das graphische Wissen der Subkultur. Dadurch ist ein voll-ständiges Verständnis der Kommunikation unterbunden, denn gerade durch exemplifizierte und zum Ausdruck gebrachte Bedeutungsebenen wird die Proposition der Äußerung mitbe-stimmt. Dies zeigt, dass beim Verstehen von Schriftformen mediale Unterschiede der Schrift-verwendung und die Kontexte der Gebrauchsformen berücksichtigt werden müssen.

Verstehen darf nicht als mentale Disposition interpretiert werden, die den Akteur in die Lage versetzt, Gegenstände mit Bedeutungen zu verbinden. Es muss als Ansammlung von Fertig-keiten, die Erforschen, Erfinden, Auseinanderhalten, Ausfindig-Machen, Verbinden, Verdeutli-chen, Ordnen, Organisieren, Übernehmen, Überprüfen, Verwerfen umfassen, angesehen wer-den. Verstehen muss als Prozess interpretiert werden, in dem die beschriebenen Fertigkeiten zur Erzeugung und Wiedererzeugung von Welten gebraucht werden (vgl. Goodman 1993:69).

Schriftverstehen ist (auch) eine Weise des Welterzeugens. Was in seiner Funktion des Welt-erzeugens untersucht werden kann, sind die differierenden Handlungen mit Schrift. Schrift-Lernen bedeutet demnach letztlich die referentiellen, operativen, künstlerischen und theatra-len Handlungsweisen verstehen und anwenden zu lernen. Das Erlernen des Symbolschemas (in diesem Fall des Alphabets) ist zwar notwendige, nicht jedoch hinreichende Bedingung da-für, anschlussfähig und innovativ handeln (schreiben) zu können. Schrift zeigt sich in der Man-nigfaltigkeit verschiedenster Schriftspiele. Das Verständnis dieser Schriftspiele kann nur in einem Erlernen des Gebrauchs liegen, den die Akteure, die in sie und durch sie sozialisiert wurden, von ihnen machen. Durch die Verwendung des Begriffs Schriftspiel als Unterart des Sprachspiels, wird der Handlungscharakter betont. Dabei wird der Aspekt unterstrichen, dass der Umgang mit Schriftformen als soziale Praxis zu verstehen ist. Da Spiele immer auch re-gelgeleitet sind, verdeutlicht der Begriff des Schriftspiels, dass auch der Umgang mit Schrift-gebrauchsformen sowohl den Regeln der jeweiligen Grammatik und Orthographie als auch Konventionen unterliegt, die in den Schriftspielen entwickelt und etabliert werden. Durch diese Perspektivierung wird die enge Verwobenheit zwischen sprachlichen und nicht-sprachlichen Handlungen betont, die durch die Verwendung des Begriffs Spiel nahegelegt werden (vgl.

Schneider 2008:43). Mit dem Begriff Schrift wird ein Plural bezeichnet. Denn Akteure gebrau-chen die Buchstaben des Alphabets dazu, die Wörter, Sätze und Texte einer bestimmten Sprache zu schreiben. Aber sie verwenden sie genauso, um sich zu inszenieren, Beziehun-gen zu knüpfen oder zu beenden, Stiltypen zu entwickeln und vieles andere mehr, das nicht im referentiellen Gebrauch aufgeht. Das, was gelernt und gelehrt werden muss, ist nicht nur das Alphabet, sondern die Handlungen, die mit ihm möglich sind. In einer für die Linguistik grundlegenden Unterscheidung lautet die Beschreibung: Nicht eine wie auch immer geartete Kompetenz muss gelehrt und gelernt werden (sie ist vielmehr das Resultat des Lernprozes-ses), sondern die Performanz (also Handlungs- und Vorgehensweisen).

Die Resultate des Gebrauchs von Schriftformen sind – wie andere Zeichenvorkommnisse auch – konkrete Gegenstände, denen Eigenschaften zugeschrieben werden, anhand derer sie vielfältige Funktionen erfüllen können. Schriftgebrauchsformen werden zu vielen verschie-denen Zwecken und in diversen Tätigkeitszusammenhängen (Aufzählen, Einkaufszettel schreiben, Choreographien festhalten, etc.) gebraucht. Daher werden Schriftgebrauchsformen je nach der Herangehensweise unterschiedlich klassifiziert und somit auf spezifische Weise dem Prozess des Verstehens zugänglich gemacht. Wir klassifizieren Schriftgebrauchsformen zum Beispiel

a) nach der Proposition als Tagebucheintrag oder Referat

b) nach dem Stil als Lyrik des Vormärz oder als dadaistisches Gedicht c) nach der Gattung als Roman oder Kurzgeschichte

d) nach dem Material als handschriftlichen Brief oder gedrucktes Formular e) nach dem Autor als Kants oder Goethes Werke

f) nach dem historischen oder kulturellen Milieu als Werke der Renaissance oder der Chat-Kommunikation

g) usw.

Welche Aspekte des Schriftverstehens sind nötig, um eine Schriftäußerung in ausreichender Weise verstanden zu haben? Zur Verdeutlichung, welche Aspekte des Verständnisses von Schriftformen wesentlich sind, um eine Schriftäußerung ‚verstanden’ (also sozial anschlussfä-hig produziert und rezipiert) zu haben, soll folgende Tabelle (S. 162) Hilfestellung leisten. Die-se ist entnommen aus Scholz (2009) und wurde von mir um die Beschreibung des Schrift-Ver-stehens erweitert. Scholz entwickelt auf der Grundlage von Wittgensteins Sprachspielkonzep-tion eine pragmatische Bildtheorie. Ein Bild gebrauchen bedeutet, es in sozialen und kommu-nikativen Handlungen zu verwenden. Deshalb kann von piktorialen Sprechakten gesprochen werden. Die Bedeutung eines Bildes zeigt sich demnach – ebenso wie die Bedeutung von Sprachformen (gesprochen wie geschrieben) – nur in der Verwendung. Scholz bezieht sich in seiner Theorie nicht auf Schriftgebrauchsformen, obwohl das seine Argumentation stützen würde und durch seinen Ansatz auch nahegelegt wird. Die Wittgensteinsche Sprachspielkon-zeption wird sowohl bei Scholz als auch in der vorliegenden Arbeit mit den Sprechhandlungs-theorien verbunden, um so die pragmatischen Aspekte von Symbolisierungen beschreiben zu können. Die Verbindung mit der Symboltheorie Goodmans führt zu einem tieferen Verständnis sowohl pikturaler als auch gesprochen- und geschriebensprachlicher Symbolisierungen. So wird bei Scholz eine pragmatisch orientierte Theorie des Bildverstehens und in der vorliegen-den Arbeit eine pragmatisch orientierte Theorie des Schriftverstehens entwickelt.

Bild Schrift

Perzeptuelles Verstehen

Um ein Bild verstehen zu können, muss man es zu-nächst wahrnehmen

Geeignete Bedingungen: Lichtverhältnisse, Winkel, etc.

Subjektbezogen: hinreichende Sehschärfe, farbenbezo-gene Diskriminationsfähigkeit, etc.

Perzeptuelles Verstehen

sind diese Bedingungen nicht erfüllt, spricht man von Unleserlichkeit

Plastisches Verstehen

Nicht nur Farbflecken, sondern Körper sehen

Verstehen eines Artefaktes als graphische Hervorbringung

nicht nur Strichfolgen, sondern die für Geschriebenes typische Rhythmisierung erkennen und somit zu der Annahme gelangen, dass ein syntaktisch differenzier-tes Symbolschema zugrunde liegt

Etwas als Zeichen verstehen

das Gesehene einem Symbolschema zuordnen und den Gegenstand so als etwas gehaltvolles erkennen

Etwas als schriftliches Zeichen verstehen erkennen, dass die Buchstaben einem Schriftsystem angehören

Etwas als bildliches Zeichen verstehen

es kann deutlich sein, dass das Gesehene ein Zeichen ist, aber unklar bleiben, zu welchem Zeichensystem es gehört

Etwas als alphabetschriftliches Zeichen ver-stehen

es kann deutlich sein, dass das Zeichen ein Schriftzei-chen ist, aber unklar bleiben, zu welchem Schriftsystem es gehört

Verstehen des Bildinhalts Erfassen des Sujets

Verstehen des Genres Verstehen der Dispositive

Verstehen des denotativen Sachbezugs Bezugnahme auf einen außerbildlichen Gegenstand

Verstehen des denotativen Sachbezugs das Gesehene auf außersprachliche Bezugnahmege-biete projizieren

Verstehen der Proposition Verstehen von Exemplifikation und Ausdruck

Verstehen des Gesehenen als eines Musters für eines seiner Eigenschaften (Farbmuster)

Verstehen nicht-denotativer Bezüge: Aus-druck

Schriftzüge können soziale Positionierungen anzeigen, etc.

Darstellung-als, Schreiben-als Modales Verstehen: Erfassen der

kommunika-tiven Rolle des Bildes

Ein Bild als Warnung (etc.) verstehen

Modales Verstehen: Erfassen der kommunika-tiven Rolle der Schriftäußerung

Illokution Verstehen des indirekt Mitgeteilten

Den Witz einer Verwendung verstehen (vgl.: Scholz, Oliver 2009)

Verstehen der Perlokution