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1. EINLEITUNG

5.3.1 Graphismus und Phonismus

Obwohl die Verbindung von Phoné und Graphé eine späte und in keiner Weise notwendige Entwicklung im Verlauf der Schriftentwicklung darstellt, haben sich in vielen Gesellschaften phonetische Schreibweisen entwickelt. Weshalb wurde gerade die Projektion eines analogen Lautkontinuums in ein digitales Repertoire differenzierter Elemente als gangbarer Weg emp-funden – obwohl diese Verbindung mit vielen Problemen belastet ist?

Eine Antwort ist schnell gefunden: Das Alphabet zur Darstellung von Lautstrukturen zu nutzen war eine naheliegende Nutzung sprachlicher Kompetenz, da die bereits bekannte und gelern-te Struktur der gesprochenen Sprache funktionalisiert werden konngelern-te. Das Alphabet wurde in Analogie zur Struktur und Funktion gesprochener Sprache entwickelt. Dass diese Korrelation keine ‚natürliche’ ist, zeigt sich bereits in der Tatsache, dass es keine phonetische Schrift gibt, die mündliche Rede lautgetreu wiedergeben kann. Jede Alphabetschrift präsentiert somit nicht die gesprochene Sprache, sondern immer die besondere und einzigartige Lösung des Pro-blems, graphische Strukturen mit dem Phonismus zu korrelieren. Denn der Graphismus

7 Diese ist ausführlich beschrieben (bspw. in Harald Haarmann (1990 und 2002)) und muss an dieser Stelle nicht ausführlich dargelegt werden.

„drückt in den drei Dimensionen aus, was die phonetische Sprache in der einzigen Dimension der Zeit zum Ausdruck bringt“ (Leroi-Gourhan 1980:246).

Die Darstellung der Rede geschieht nicht durch die Schrift, sondern in die Schrift. Sprachliche Phänomene müssen für die Darstellung im Medium ‚Schrift’ bearbeitet werden, da die media-len Umgebungen der Schriftverwendung sich wesentlich von denen gesprochener Sprache unterscheiden. Das Prinzip der Linearität, das der gesprochenen Sprache gleichsam ‚einge-schrieben’ scheint, muss für die Darstellung in Schrift eigens geregelt werden. Denn schriftli-che Zeischriftli-chen ersschriftli-cheinen auf einer zweidimensionalen Fläschriftli-che. Sie müssen also im Nebenein-ander angeordnet werden. Dieses NebeneinNebenein-ander wird in verschiedenen Schriftformen unter-schiedlich geregelt – von links nach rechts, von rechts nach links oder von oben nach unten (vgl. Stetter 1999:136).

Betrachtet man das Prinzip der Linearität retrospektiv, so wird deutlich, dass bereits diese Vorstellung von gesprochener Sprache graphisch geprägt ist. Denn in der Zeit – das ist die grundlegende mediale Umgebung gesprochener Sprache – gibt es keine Linien. Eine Linie ist ein genuin graphisches Phänomen, das einen Anfangs- und einen Endpunkt aufweist und auf einer Fläche aufgetragen ist. Doch auch die Flächen, auf die wir schreiben, sind keineswegs einfach vorhanden. Flächen sind immer etwas Ausgedehntes ohne Tiefendimension. In der Handhabung von Flächen behandeln die Akteure die Oberflächen von Gegenständen so, als ob sie keine Tiefe hätten. In der Umgebungswelt gibt es jedoch keine Gegenstände, die keine Tiefendimension haben. Egal wie flach ein Gegenstand ist, er hat immer eine Tiefendimen-sion. Diese wird bei der Etablierung der Fläche ausgeblendet. Oberflächen werden als Flä-chen interpretiert genau dann, wenn ihre Funktion darin gesehen wird, Inskriptionen oder Bil-der zur Erscheinung kommen zu lassen. Die Zweidimensionalität ist eine kulturelle Erfindung (vgl. Krämer 2012b:79).

Die Zweidimensionalität wird bei der Eintragung einer Linie in eine Fläche operational genutzt.

Eine Linie kann dann in verschiedenen ‚Richtungen’ abgeschritten werden – von einem Ende zum anderen, von der Mitte zum Anfangs- oder Endpunkt usw. In der Zeit jedoch, in der sich gesprochene Sprache erstreckt, gibt es diese Möglichkeiten nicht. Gesprochene Sprache be-wegt sich – von der Verwendung technischer Hilfsmittel abgesehen – immer in eine Richtung.

Auch die Vorstellung, Sprache sei ein aus Einzelelementen zusammengesetztes System ist eine von der Schrift her entstandene Beschreibung. Denn gesprochene Sprache entsteht nicht aus einer Aneinanderreihung von kleinsten bedeutungsunterscheidenden Einheiten, sondern durch die „Modulation des Tons, in der sogenannte suprasegmentale Einheiten wie Tonverlauf und Akzent die einheitsstiftenden Merkmale sind“ (Stetter 1999:54). Das geschrie-bene Wort hingegen entsteht als das persistente Resultat einer ephemeren Schreibgeste.

Und diese ist fundiert in den Dimensionen des Bildhaften. Hier kann es nicht um die Modula-tion oder gar Beschreibung einer ModulaModula-tion gehen, sondern darum, Gestalten zu entwerfen.

Diese müssen sich hinreichend von anderen Gestalten derselben Schrift unterscheiden, um identifizierbar zu sein. Dabei bekommen Eigenschaften wie Schriftgröße, Schrifttyp und Schriftart eine konstituierende Bedeutung.

Gesprochene Sprache ist primär zeitlich geordnet, die geschriebene hingegen primär räum-lich. Dies zeigt Roy Harris (2005) mit dem Verweis auf die Braille-Schrift, die haptisch ausge-richtet ist und somit nicht notwendigerweise visuell, sondern räumlich organisiert sein muss.

Es zeigt sich aufgrund dieser und anderer medialer Bedingungen von Geschriebenem und Gesprochenem, dass eine graphische Bearbeitung von gesprochener Sprache zur Darstel-lung in Schriftformen unabdingbar ist.

Die begriffliche Unterscheidung zwischen Worten und Wörtern zeigt darüber hinaus eine weitere Eigenschaft schriftlicher nicht jedoch gesprochensprachlicher Äußerungen: die opera-tionalen Umgangsweisen mit Schriftgestalten. Worte benutzen wir in oraler Kommunikation im Alltagsleben. Sie sind in der Kommunikation ver- und missverstehbar, nicht jedoch in ihrer grammatischen Wohlgeformtheit analysierbar. Aus Worten werden Wörter erst dann, wenn sie in Schreibpraxen gehandhabt werden. Wörter können aus Texten herausgelöst, in Listen an-geordnet werden, mit ihnen können Konjugations- und Deklinationstabellen erstellt werden usw. All dies sind Umgangsweisen mit sprachlichen Äußerungen, für die es in mündlicher Kommunikation keine Analoga gibt. Orale Kommunikation in Alltagssituationen bezieht sich auf Diskursgegenstände. Die Lautgestalt des Wortes wird solange nicht wahrgenommen, bis die Aufmerksamkeit der Gesprächsteilnehmer durch Nicht-Verstehen von den behandelten Diskursgegenständen auf die Wortgestalt gerichtet wird. In mündlicher Kommunikation findet man – metaphorisch gesprochen – heute noch das wieder, was Walter Ong in kulturhistori-scher Perspektive ‚primäre Oralität’ nennt: die Abwesenheit jeder Kenntnis von Schreiben und Drucken in einer Gesellschaft. Denn innerhalb einer gelungenen Unterhaltung geraten Gram-matik, Standardformen und dergleichen nicht in den Fokus der Kommunikationspartner. Ziel der Kommunikation ist nicht Wohlgeformtheit sprachlicher Äußerungen, sondern Verständi-gung über bestimmte Bezugnahmegebiete. Die BedinVerständi-gungen gelungener VerständiVerständi-gung lie-gen gerade nicht in syntaktischer Wohlgeformtheit und Grammatikalität, sondern werden von diesen sogar unterlaufen. In gesprochener Kommunikation werden Anakoluthe, Ellipsen, die Wiederaufnahme von Satzteilen, Wortwiederholungen, Versprecher usw. meist nicht einmal wahrgenommen. Teilweise unterstützen diese Phänomene das Verständnis. Ein grammatika-lisch korrektes Vollenden eines Satzes ist in gesprochener Kommunikation nicht nur nicht not-wendig, sondern kann zu Fehlinterpretationen und Missverständnissen führen.

In alltagssprachlichem Sprechen können Worte Zeichencharakter in dem Sinne annehmen, dass gesprochene Worte immer auch Zeichen dafür sind, wie der Sprecher in der speziellen Situation gesehen wird. Sie sind Anzeichen für soziale Stellung, persönliche Haltung, Einstel-lung und Befinden des Sprechers zum Zeitpunkt der Kommunikation. Wenn der Sprecher

die-se Anzeichen unwillkürlich produziert, spricht man von Indikatoren. Wenn er diese Anzeichen bewusst produziert und einsetzt, spricht man von Markern. Der kompetente Sprecher ist in der Lage, seine Äußerungen innerhalb eines semantischen Raumes zu verorten, weil er die Funk-tion spezifischer Marker kennt und nutzt. Henn-Memmesheimer weist nach, „dass es noch im-mer Tendenzen räumlicher Gliederung oder sozialer Verteilung sprachlicher Varianten gibt, aber sie kommen nicht mehr dadurch zustande, dass die Sprecher nur diese Varianten zur Verfügung haben, sondern dadurch, dass die Sprecher diese Varianten aus ihrem breiten Re-pertoire an Möglichkeiten herausgreifen, um spezifische Zeichen zu setzen“ (Henn-Memmes-heimer 2008:174). Dies ändert sich laut Stetter mit der Einführung von Schrift. Wenn Schrei-ben als die Entwicklung wissenschaftlicher Texte und Monographien verstanden wird, trifft diese Annahme zu. Das Schreiben schematisiert die persönlichen Merkmale des Schreibers weitestgehend. Im Schreiben solcher hochgradig regulierten Texte werden Einstellungen und Merkmale der geographischen und sozialen Herkunft nicht mittransportiert. Nach Stetters An-sicht sind in geschriebenen Texten die individuellen Persönlichkeitsmerkmale nur auf semanti-scher Ebene erkennbar. Es ist erkennbar, ob ein Schreiber klar oder verworren schreibt, ob er Begriffe aus bestimmten Wissenschaften häufiger benutzt als andere Schreiber, ob er para-taktischen oder hypopara-taktischen Satzbau bevorzugt und so weiter. In gedruckten Versionen dieser Texte werden die Persönlichkeitsmerkmale gänzlich ausgeblendet. Durch die Vorgabe von Formatierung und typischer Gestaltung solcher Texte werden exemplifizierende Bezug-nahmen unterbunden um Wissenschaftlichkeit zu gewährleisten.