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Identität – Konstruktion von Selbst- und Fremdbildern

1. EINLEITUNG

5.5 Theatrale Verwendung

5.5.5 Identität – Konstruktion von Selbst- und Fremdbildern

konsultie-rend-selektive Lesen (in Lexika), das Cross-Reading (in der Zeitung) und konstruktives Lesen (in einem Roman). Ein typographisches Dispositiv sagt nicht notwendigerweise auch etwas über Schriftwahl, Druckfarbe, Papierqualität oder Proportionen des Satzspiegels aus. Diese Variationsmöglichkeiten liegen auf einer anderen Ebene graphischer Variation. Denn im ers-ten Fall geht es um die Anordnung der Formen zu einer Ganzheit auf der Fläche, im zweiers-ten Fall geht es um die Beschaffenheit der einzelnen Zeichen.

Schrift als Kommunikationsmedium bietet verschiedene Weisen der Funktionalisierung an.

Erstens exemplifizieren Schriften Zeichentypen. Zweitens kommt Schriften die Funktion zu, designerische Ansprüche und semiotische Ressourcen neben den denotativen Bezugnahmen auszudrücken. Dies kann auf zwei Weisen geschehen: erstens aufgrund spezifischer Form-merkmale, die auf der Digitalität bzw. Analogizität des Symbolschemas beruhen oder zwei-tens aufgrund materieller Eigenschaften, d.h. den Grad der Fülle. Eine Trennung zwischen sprachlicher und visueller Kommunikation ist unnötig, da hier die als visuell bezeichneten As-pekte der Schriftverwendung durch exemplifizierende Bezugnahmen abgedeckt sind: auf der Ebene des Symbolschemas weisen Schriftverwendungen eine relativ feste Struktur auf – die-se Strukturen werden in Büchern kodifiziert. Dennoch kann auch auf der Ebene der Orthogra-phie und Grammatik Variation auftreten (dies zeigte sich an den Varianten bei der Groß- und Kleinschreibung, der Getrennt- und Zusammenschreibung und der Interpunktion). Auf der Ebene der Symbolsysteme beruht die semiotische Wirkung auf kulturell codierten Zuschrei-bungen, die in starkem Maß vom kulturellen Wissen der Kommunikationsakteure abhängen.

Dieses kulturelle Wissen der Akteure umfasst graphisches Wissen. In den folgenden Kapiteln wird anhand von Beispielen verdeutlicht, wie Variationen an Schriftgebrauchsformen vorge-nommen werden können und welche Symbolsysteme durch diese Variation etabliert werden.

eine konstruierte Identität von anderen abgelehnt – oder schlimmer noch: nicht wahrgenom-men wird – existiert sie nicht. Jeder einzelne Akteur muss alles daran setzen, wahrgenomwahrgenom-men zu werden. In Kommunikationssituationen kann der Einzelne sein Selbst ausprobieren, kann ausloten, welche Reaktionen ihn erwarten und wie andere seine Handlungen einschätzen und eventuell positiv oder negativ sanktionieren. Variationen der Schriftgebrauchsformen können dazu verwendet werden, Identitätskonstruktionen herzustellen und sie in Kommunikations-handlungen anderen Akteuren anzubieten. Denn

„die Ausdrucksbedürfnisse eines Sprechers hören nicht damit auf, dass er seine Äu-ßerung möglichst treffend und gut verständlich formulieren möchte (Expressivität).“

(Albert 2013:45)

Vielmehr möchten Sprecher in ihren Äußerungen ihre soziale Identität verwirklichen und zu verstehen geben, wer sie sind oder sein möchten. Dazu zeigen sie an, was ihnen gefällt und wovon sie sich distanzieren. Durch die Distanzierung von Fremdgruppen bzw. die Annähe-rung an positiv gewertete Gruppen und Kollektive durch Verwendung typischer und typisierter Schriftformen entsteht für die Handelnden ein Bild der Gesellschaft, das sie teilen. Skripturale Varianten und Stilisierungen sind Prozesse, mittels deren sich Akteure in der Gesellschaft po-sitionieren und sich als Akteure mit bestimmten Haltungen und Wertungen darstellen.

Diese Positionierung erfolgt mithilfe verschiedener Methoden: durch die Annäherung an typi-sche Schriftverwendungen einer als positiv bewerteten Gruppe versucht das Individuum, in diese Gruppe aufgenommen zu werden. Durch die Aufnahme in eine Gruppe entwickelt sich im Individuum ein positives Selbstbild. Die Verwendung bestimmter Schreibweisen wirkt grup-penbildend. Ebenso wie mithilfe von Accessoires wie Kleidung, Haarfarbe und Frisur aber auch Schmuck und bestimmter Arten zu sprechen und sich zu bewegen Identitäten etabliert werden, kann auch mithilfe der Verwendung designter Schriftformen dasselbe Ziel erreicht werden. Hierbei spielen Schriftfarbe, -größe, -art, Hintergrundfarbe, Groß- und Kleinschrei-bung etc. eine wesentliche Rolle. Die visuelle Gestaltung von Schriftformen liefert – ähnlich wie die Prosodie in der gesprochenen Sprache und das Aussehen der Sprechenden Hinweise auf die Person liefern – Hinweise darauf, wie eine schriftliche Äußerung gelesen werden soll.

Das heißt also, dass die Zeichenhaftigkeit exemplifizierender Bezugnahme mithilfe von Schriftformen zur Vergemeinschaftung genutzt werden kann. Denn soziale Akteure müssen sich durch kommunikative Praktiken wahrnehmbar machen. Diese Praktiken sind eingebun-den in Wirklichkeitsmodelle, die handlungsleitende Vorbilder enthalten. In ihnen wereingebun-den zu-sammengehörige Zeichenklassen definiert, in ihnen sind Informationen über soziale Milieus, Zuordnungen von Zeichenklassen und Existenzformen sowie Annahmen über den eigenen Platz in der sozialen Welt enthalten. Die Wirklichkeitsmodelle beeinflussen auf individueller Ebene den Aufbau von Identitäten und auf der Ebene der sozialen Interaktion definieren sie das Passende, das Normale, aber auch das Unübliche und Differierende. Sie steuern den

Aufbau sozialer Netzwerke, weil in ihnen gespeichert ist, wer mit wem und was mit wem zu-sammengehört. Durch diese Modelle werden die Akteure dazu angeleitet, bestimmte Alterna-tiven zu wählen und andere zu vermeiden. Erst hier entstehen die in einer Gesellschaft, Kul-tur, SubkulKul-tur, einem Milieu oder einer Gemeinschaft wirkenden Vorstellungen über die jewei-lige Welt. Durch die Verwendung besonderer Stilisierungen werden Gruppenzugehörigkeiten exemplifiziert und somit muss Stil verstanden werden als Selbst- bzw. Fremdschematisierung von Akteuren und deren Welten. Die Wahl bestimmter Alternativen ist im Habitus der Spre-cher und Schreiber verankert. In diesem sind nicht nur Dispositionen vereinigt, die Nahrungs-gewohnheiten, Lebensgewohnheiten und anderes steuern, sondern auch kommunikative Praktiken und die Fähigkeit zur graphischen Variation. Neben diesen unbewusst gesteuerten Wahlen aus Alternativen besitzen Akteure jedoch auch ein geteiltes bzw. geteilt geglaubtes Wissen über Sprache und Schriftverwendungen. Das Wissen bezüglich Sprache beinhaltet mindestens folgendes:

Die Akteure wissen um die Geordnetheit einer standardisierten Version des Deutschen. Diese wurde ihnen in der Schule vermittelt und wird als korrektes bzw. gutes Deutsch verstanden.

Desweiteren wissen die Akteure, dass Äußerungen kognitiv differenziert und elaboriert oder einfach, schlicht und unkompliziert getätigt werden können. Diese Differenzierung haben sie ebenfalls in der Schule gelernt. Dort wird zwischen elaboriertem Schriftgebrauch und Münd-lichkeit unterschieden und vom Schüler erwartet, dass er einen elaborierten Umgang mit Schrift erlernt (vgl. Henn-Memmesheimer 2013:38). Desweiteren verfügen die Akteure über kommunikatives und graphisches Wissen in dem Sinne, dass sie Erwartungshaltungen ge-genüber bestimmten Situationen aufbauen und typischen Schriftformen bestimmte Interpreta-tionen und Zuschreibungen zuordnen. Wiederholungstendenzen in der Gestaltung von Sprachäußerungen setzen voraus, dass die einer Gemeinschaft angehörenden Akteure die-ses gemeinsame Wissen bzw. gemeinsam geteilt geglaubte Wissen besitzen. Hierzu gehört auch, dass sie wissen, wie und zu welchen Zwecken welche Varianten einzusetzen sind bzw.

was der Einsatz bestimmter Varianten über den Äußernden und seine Ziele aussagt. Akteure, die verschiedenen sozialen Systemen angehören, sprechen und schreiben in unterschiedli-chen Teildiskursen. „Je nach Lebensstil orientieren sich Mensunterschiedli-chen so zum Beispiel für die fa-miliäre Kommunikation an ihrem Heimatdialekt oder befolgen strikt Schreibkonventionen einer spezifischen Szene, der sie sich zugehörig fühlen“ (Albert 2013:137). Die im jeweilig vorlie-genden Teildiskurs typischen und typisierten Schriftgebrauchsformen können dann in anderen Kontexten verwendet werden. Durch diese Zuordnung bestimmter Varianten zu gesellschaftli-chen Gruppierungen werden Stile und Stilisierungen als Zeigesellschaftli-chen für lebensstilistische Präfe-renzen deutbar. Die Akteure wissen um die Signifikanz ihrer Auswahlen und darum, wie die anderen Handelnden diese vermutlich interpretieren werden.

Zusammenfassend ist deutlich geworden, dass graphische Varianten Teil von Wiederholungs-tendenzen sind, die sich in Kommunikationsgemeinschaften herausgebildet haben. Graphisch ähnlich gestaltete Äußerungen werden als Zeichen dafür verstanden, dass die Handelnden vergleichbare Zielsetzungen verfolgen und ähnlichen Gruppen angehören. In der entgegenge-setzten Richtung werden die Ziele der Kommunikationsakteure dann am besten erreicht, wenn der Handelnde sich der bereits bekannten und positiv bewerteten Schriftformen bedient.

Selbstverständlich kann durch graphische Variation aber auch angedeutet werden, dass man sich einer sozialen Gruppe gerade nicht zugehörig fühlt. Graphische Variation dient also zur sozialen Positionierung und so zur Identitätskonstruktion.