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1. EINLEITUNG

3.1 Schrift und Bild

Im vorherigen Kapitel wurden die syntaktischen und semantischen Merkmale von pikturalen und verbalen Symbolsystemen herausgearbeitet. Nun werden die damit verbundenen Implika-tionen sowohl für den Bild- als auch für den Schriftbegriff erläutert. Die hierfür wesentliche Fragestellung Goodmans lautet: Was unterscheidet ein Original von einer Kopie? Oder an-ders formuliert: Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit ein Gegenstand als Einzel-stück und somit als originär interpretiert wird und welche Gegenstände werden nicht als Uni-kate, sondern als Elemente von Klassen gleichen Ursprungs verstanden?

Das gemalte Porträt einer Person wird als Original interpretiert, denn es ist wesentlich, unter welchen Umständen, von wem, zu welchem Zeitpunkt etc. dieses Porträt gemalt wurde. Die-ses Gemälde kann nicht kopiert werden, ohne dass die Kopie als Fälschung gilt. Ein Schrift-stück jedoch kann kopiert werden, ohne dass die Kopie deswegen als Fälschung interpretiert wird. Die Kopie eines bestimmten Romans bleibt ein Original des Romans, selbst wenn sich die typographische Gestaltung zweier Ausgaben deutlich voneinander unterscheidet.

Doch wieso kann ein Schriftstück kopiert werden, wohingegen ein Bild nur gefälscht werden kann? Hier spielen syntaktische Dichte bzw. Diskretheit eine Rolle. Die Möglichkeit der Ko-pienbildung beruht auf der Selbigkeit des Buchstabierens. Goodmans Antwort auf die oben gestellte Frage mag auf den ersten Blick trivial erscheinen, doch führt sie in den Kern dessen, worin sich Bilder und Schriften strukturell unterscheiden. Durch diese Herangehensweise ist die Analyse der Symbolschemata auf der Ebene der Handlungen verortet. Denn durch diese Fragestellung wird deutlich, dass die Symbolschemata nicht außerhalb der Handlungen exis-tieren, sondern in den Handlungen konstruiert, etabliert, transformiert werden.

Wenn ein Schriftstück als duplizierfähig gilt, ein Gemälde hingegen nicht, so liegt das daran, dass der Maler beim Malen seine Regeln erfand, „daß er neue und unpräzise Zeichen-Funk-tionen erzeugte und damit einen Code instaurierte“ (Eco 1987:241). Die Erzeugungsregeln lassen sich hier, anders als bei der Duplizierung eines Schriftstückes nicht oder doch nur schwer in Worte fassen. Duplizieren ist ein Vorgang, bei dem es nötig ist, alle relevanten Merkmale des Originals und die Regeln der Herstellung zu kennen und bei der Arbeit beizu-behalten. Für die Verwendung von Schriftformen liegt in den meisten Gesellschaften ein kodi-fizierter und institutionalisierter Regelkanon bereit, der das Duplizieren ermöglicht. In der Ma-lerei hingegen ist ein solcher Regelkanon nicht entwickelt. Dies liegt daran, dass, während es in der Schriftverwendung erkennbare und diskrete Einheiten gibt (die Charaktere des Symbol-schemas), es diese diskreten Einheiten in der Malerei nicht gibt. Hier ist das verwendete Sym-bolschema dicht und kontinuierlich.

Die Antwort auf die Frage Goodmans lautet demnach: Der Unterschied liegt in der Herstel-lungsweise von Bildern bzw. Schriftformen. Bei einem Bild ist jede Marke, die aufgetragen wird, eine Inskription nur eines einzigen Charakters. Jede Veränderung der Inskription führt dazu, dass ein neuer Charakter konstituiert wird. In der Schriftverwendung sind die Bedingun-gen der Herstellung anders organisiert. Hier werden Marken zu Inskriptionen, indem sie einem Charakter zugeordnet werden. Dabei spielen Differenzen in der Fülle keine Rolle, solange die Möglichkeit der Zuordnung erhalten bleibt.

Genau diese Differenz in der Herstellung von Charakteren führt zur unterschiedlichen Bewer-tung von Bildern und Schriftformen. Das Malen von Bildern wird als Kunst empfunden, weil ein Rückgriff auf bereits etablierte Charaktere nicht möglich ist. Bei der Herstellung von Schriftfor-men kann der Schreiber sich auf bereits etablierte Charaktere, die er in der Verwendung ge-lernt hat und die in Regelwerken kodifiziert wurden, beziehen und Inskriptionen anhand ande-rer Inskriptionen herstellen.

Im Gegensatz zu Derridas Ansatz, der die Universalisierung der Differentialität und Strukturali-tät als alleiniges Merkmal von Schrift hervorhebt, zeigt sich bei Goodman in der Konzeption der Fülle deutlich, dass Strukturalität und Differentialität nicht allein die typischen Merkmale von Schriftformen sein können. Vielmehr kommen über die Beschreibung der Fülle künstleri-sche Aspekte in den Schriftbegriff, die bislang unbeachtet geblieben sind. Die Beschreibung der Fülle macht deutlich, dass Strukturalität und Differentialität nur in einer irgendwie geform-ten Materialität realisierbar sind. Jede Äußerung, ob sie nun auf einem syntaktisch differen-zierten oder dichten Symbolschema aufgebaut ist, muss ein Mindestmaß an Fülle anbieten, damit sie interpretiert werden kann. Zwar ist es bei schriftlichen Äußerungen für die denotative Bezugnahme nicht wichtig, wie genau die Darstellung gewählt wird (welche Schriftart, -größe, -farbe, etc.), aber sie ist notwendige wie hinreichende Bedingung dafür, dass eine Äußerung wahrgenommen und interpretiert werden kann. Äußerungen können nur in einem Medium ge-tätigt werden. Die Materialität (also die Fülle) einer Erscheinung ist grundlegende Bedingung dafür, dass Syntax und Semantik im engeren Sinne überhaupt möglich sind. Fülle ist damit die jegliche Erscheinung konstituierende Qualität der Darstellung (vgl. Stetter 2005: 36).

Problematisch scheint die Unterscheidung zwischen pikturalen und schriftlichen Darstellungen dann, wenn Bilder auf der Grundlage eines syntaktisch differenzierten Schemas aufgebaut werden. Dies ist z.B. der Fall bei Bildern der ASCII-Art.

Beispiel für die analoge Verwendung eines digitalen Schemas (www.ascii-art.de/ascii/index2.html)

Zwar werden solche Bilder mithilfe von Inskriptionen disjunkter Charaktere aufgebaut (hier die Zeichen des ASCII-Codes), dennoch werden diese Darstellungen als Bild interpretiert. Wird bei einer solchen Darstellung die Aufmerksamkeit auf die einzelnen Charaktere gerichtet, wird die Kontextualisierung (bzw. Bezugnahme) auf „Joda“ unmöglich. Denn in einer solchen Be-trachtungsweise werden die Marken als Inskriptionen eines syntaktisch disjunkten und endlich differenzierten Symbolschemas aufgefasst – der Interpretierende unternimmt einen Lesever-such und nimmt die Gestalt als syntaktischen Text wahr. So wird die Gestalt gerade nicht als Bild interpretiert. Achtet der Interpretierende jedoch nicht nur auf die Zugehörigkeit der Mar-ken zu gewissen Buchstaben, sondern auch auf Merkmale wie Größe, Farbe, Dichte, Ausrich-tung, Formatierung der Marken und die Gestalt der gesamten Konfiguration, dann wird diese Gestalt als Bild interpretierbar. Nur durch die ganzheitliche Wahrnehmung dieser Figur ist eine Bezugnahme auf „Joda“ möglich.

Wird die Formatierung der Datei verändert, zeigt sich, dass die Fülle des Schemas, die hier in der spezifischen Anordnung und Größe der einzelnen Marken besteht, wesentlich ist. Durch die Veränderung der verwendeten Zeichen wird die Gestalt in ihrer Gesamtheit so verändert, dass die Bezugnahme auf „Joda“ unterbunden wird. Es muss „daran erinnert werden, dass eine Konfiguration in sich überhaupt noch kein Zeichen irgendeiner Art ist; ob sie als Symbol fungiert und in welchem Symbolsystem, liegt nicht in dem Zeichenträger selbst“ (Scholz 2009:121).

Hier wird deutlich, dass die Formatierung und Anordnung der Zeichen für das Verständnis einer Schriftform wesentlich ist.

Es kommt darauf an, in welcher Weise diese Konfiguration behandelt wird. Diese unterschied-lichen Herangehensweisen lassen sich bei schriftmagischen Interpretationen erkennen. Hier wird der Textur eine Fülle zugeschrieben, die der Autor (vermutlich) nicht intendiert hatte.

Doch ist die Interpretation dieser Fülle für die Interpretierenden genauso tatsächlich und wirk-lich, wie die Interpretation der Proposition. Auch wenn heute diese Fülle in den Texturen nicht mehr als interpretationswürdig erscheint, ist sie doch – auf der Grundlage einer bestimmten Herangehensweise – immer noch erkennbar. Bei schriftmagischen Praktiken geht es immer darum, nicht die Proposition des jeweiligen heiligen Textes zu entdecken, sondern darum, sich auf die Schriftgestalt und deren einzelne Elemente zu konzentrieren. Buchstaben, Buch-stabenreihen, Silben, Wörter und Sätze erlangen als res significantes einen besonderen Stel-lenwert bei der Lektüre der Texte. Bei einer solchen Interpretation der Heiligen Schrift wird den Einzelbuchstaben besondere Bedeutung zugeschrieben. Dies sind vor allem die Buchsta-ben des Alphabetanfangs und des –endes, A und O, die zum Kürzel für Jesus und Gott wer-den. Das allein stehende A wird zum Kürzel für die Dreifaltigkeit. Ebenso wird den Buchsta-ben T und Y heilige Bedeutung zugesprochen. Das T gilt als Symbol des Kreuzes und Y als Zeichen für die Wegscheide von Tugend und Laster (vgl. Stein 2010:122). Desweiteren gibt es auch Buchstabenkombinationen, denen heilige Bedeutung zukommt. Das bekannteste Bei-spiel ist die Buchstabenkombination CMB, die auch heute noch von den Sternsingern auf die Hauswände geschrieben wird. Doch nicht nur einzelne Buchstaben oder Buchstabenkombina-tionen werden hier als heilige Symbole beschrieben, sondern auch ganze Texte, in denen ein

Buchstabe nicht (Lipogramm) oder besonders häufig (Pangramm) vorkommt. Diese werden als mit verborgener Bedeutung versetzt verstanden. Beliebt für schriftmagische Praktiken sind auch Wörter, die durch Buchstabentauschung oder rückwärts gelesen mit sich selbst identisch sind oder einen anderen Sinn ergeben (Anagramme, Palindrome). Ebenso verhält es sich in Versen, bei denen Anfangs-, Mittel- oder Endbuchstaben oder -silben neue Wörter oder Sätze bilden (Akrostichon, Mesostichon, Telestichon). Eine Steigerung dieser Verwendung findet sich im bekannten Sator-Arepo-Quadrat:

Buchstabenmagische Verwendung (aus: Stein, Peter 2010)

Ein solches Umgehen mit Buchstaben ist nur denkbar innerhalb eines Symbolschemas, das digital konstruiert ist. Obwohl die Schriftformen auch heute noch dieselben Eigenschaften be-sitzen, exemplifizieren sie sie für einen heutigen Leser nicht mehr.

Denkt man noch einmal an das Beispiel der ASCII-Art, so fällt auf, dass die Inskriptionen hier zwar mithilfe eines digitalen Schemas hergestellt wurden, doch zwingt dies keineswegs dazu, sie als Element eines digitalen Systems zu interpretieren.

Jede Darstellung hat eine zwischen den Grenzen des Diagrammatischen auf der einen Seite (bspw. bei einem Inflationsdiagramm) und der vollen Fülle (bspw. ein Gemälde, das mit dick-flüssigen Farben auf einen rauen Untergrund aufgetragen wurde) auf der anderen Seite ange-siedelte Gestalt. Innerhalb dieses Spektrums liegen unendliche Möglichkeiten der Darstellung.

Die Fülle der Darstellung ist ein Aspekt, der durch die von der „Performanz abstrahierende[n]

Perspektive der Linguistik“ (Stetter 2005:37) nicht als ästhetisch verfasst erkannt werden kann. Wie das Beispiel oben verdeutlicht hat, legt die Wahl einer dieser Möglichkeiten nicht fest, wie das Symbol interpretiert wird. Durch die Wahl werden vielmehr Möglichkeitsräume der Variation eröffnet, die erklärbar werden, wenn die Akte der Verwendung betrachtet wer-den.

Ebenfalls problematisch für Goodmans Unterscheidung von analogen und digitalen Schemata zur Beschreibung von pikturalen und verbalen Darstellungen sind Computerbilder (also Bilder, die aus Feldern, Pixeln, Farbtönen und Helligkeiten bestehen). Das in der Malerei

üblicher-weise analog strukturierte Symbolschema wird bei Computerbildern durch Tilgung in ein digi-tales Schema transformiert. Dabei werden wichtige Merkmale des Symbolsystems (semanti-sche und syntakti(semanti-sche Dichte, Fülle) durch andere Eigenschaften (syntakti(semanti-sche Differenzie-rung) ersetzt. Dies ist der Grund dafür, dass ein nach Zahlen gemaltes Bild im Gegensatz zu einem analogen Bild nicht als Kunstwerk gilt bzw. nicht gelten kann. Ähnlich ist die Verarbei-tung bei einer Fotografie mithilfe einer Digitalkamera. Auch hier werden Tilgungen vorgenom-men, um ein in Pixel aufgelöstes Schema verwenden zu können. Der umgekehrte Weg – also ein digitales Symbolschema in ein analoges transformieren – ist ungleich schwieriger zu be-wältigen. Denn es ist nicht absehbar, wie die Zwischenräume aufgefüllt werden sollen, damit ein analoges Symbolschema vorliegt.

Die Beschreibung der Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen pikturalen und verbalen Symbolsystemen führt zur Erkenntnis, dass die beiden auf unterschiedlichen Symbolschema-ta operieren, jedoch gerade was die bildlichen Aspekte angeht, viele Gemeinsamkeiten auf-weisen. Gerade die Fülle zeigt, dass auch Schriftformen analog verwendet werden können und so eine Nähe zum Bild aufweisen. Sybille Krämer plädiert folgerichtig dafür, die Bildlich-keit der Schrift in den Blick zu nehmen. Hierzu entwickelt sie den Begriff der SchriftbildlichBildlich-keit.