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Vorgehen und Übersicht

Im Dokument CHANTAI RUMANTSCH! (Seite 38-43)

In den folgenden Kapiteln geht es nun darum, diese Geschichte der Vokalmusik Romanischbündens, der musica rumantscha, darzustellen. Um dem umfangreichen Material beizukommen, wurden dafür signifikante, besonders sprechende und in-teressante Fallbeispiele ausgewählt und im Hinblick auf die Fragestellungen mittels Quellen- und Kontextanalyse untersucht. Das definierte Korpus ist also durchaus repräsentativ, aber gewiss weder umfassend noch vollständig. Nach dem Prinzip des «bottom-up» soll damit aber eine ordnende Übersicht geschaffen werden.

In vier Hauptkapiteln wird die Geschichte (grundsätzlich) chronologisch auf-gerollt – Vor- und Rückgriffe können und sollen aber nicht verhindert werden –, dabei thematisch wie inhaltlich gegliedert und differenziert. Jedes Hauptkapitel widmet sich im Wesentlichen einem bestimmten musikalischen Material und einem bestimmten Ausdruck national-kultureller Identität, welche die entsprechenden Zeitabschnitte besonders prägten. Neben der musikalischen Analyse einzel-ner Fallbeispiele steht also ganz besonders die Betrachtung identitätsstiftender Funktionen der jeweiligen Musikformen und -praxen im engeren Fokus. Aus

148 Vgl. dazu Oehme-Jüngling, Volksmusik, 2016.

149 Vgl. Collenberg, Canzuns popularas, 1990, S. 132 f.

diesem Grund werden die Kapitel auch mit zeitgenössischen Aussprüchen oder Leitgedanken zur dazugehörigen Gesangspraxis überschrieben. Diese Aufteilung spiegelt sich aber ebenso in der Gestaltung der Hauptkapitel: Als Einleitung und Rahmen dienen ein bis zwei ausführliche Kontextkapitel zum sprach-, kultur- und soziohistorischen Hintergrund, anschliessend folgen die Kapitel zum konkreten musikalischen Material. Diese «musikalischen» Kapitel werden schliesslich in-tern nach form- beziehungsweise gattungsspezifischen und musiksoziologischen Aspekten – so oft als nötig und möglich – unterschieden.

Diese Abhandlung kann also linear gelesen werden; es ist aber durchaus möglich und manchmal sogar wünschenswert, thematisch und inhaltlich zusam-menhängende Unterkapitel ohne Rücksicht auf die (chronologische) Reihenfolge der Hauptkapitel zu lesen.

Das Kapitel I befasst sich zunächst mit dem geistlichen Gesang und dem Be-wusstsein für konfessionelle, sprachliche und geopolitische Gemeinschaften im Freistaat der Drei Bünde in der Frühen Neuzeit. Konfessionelle Veränderungen wie die Reformation / evangelische Bewegung oder die Gegenreformation / katho-lische Reform geschehen in Bünden in der Frühen Neuzeit ausschliesslich durch Beschlüsse der souveränen Gemeinden, wodurch neben einer konfessionellen und territorialen Identität auch ein starkes Bewusstsein für die Gemeindefreiheit entsteht. Mit diesen konfessionellen Bewegungen eng verbunden sind auch rege Bemühungen für eine bündnerromanische Schrift- und Geschichtskultur und schliesslich auch für eine geistliche Gesangskultur («chiantar in romaunsch»). Im 16. Jahrhundert beginnen Geistliche im Engadin mit der Übersetzungsarbeit von Psalmen und geistlichen Liedern aus bekannten deutschsprachigen Kirchengesang-büchern. Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein erscheinen dann hier, zunächst nur mit Melodiehinweisen, später auch mit der Notation mehrstimmiger Sätze, eine grosse Zahl religiöser Gesangbücher für die Kirche und die häusliche Andacht. Im Hauptort Zuoz wird die religiöse Gesangspraxis sogar unter gemeindebehördli-che Aufsicht gestellt. In der Surselva entsteht derweil ein regelrechter geistligemeindebehördli-cher

«Volksgesang» in der Muttersprache, der sich neben dem offiziellen lateinischen Kirchengesang noch im 19. Jahrhundert behaupten kann und dessen Praxis sich schliesslich in einem kontinuierlich umfangreicher und bedeutender werdenden Kirchen- und Hausgesangbuch niederschlägt.

In den Kapiteln II und III stehen anschliessend das weltliche Chorlied für Män-nerstimmen und dasjenige für gemischte Stimmen vor dem Hintergrund eines verstärkten Heimat- und Sprachbewusstseins im 19. bis zur Mitte des 20. Jahr-hunderts im Zentrum. Im Zusammenhang mit der Einbindung des Freistaates

«Alt Fry Rhätien» in die Schweizerische Eidgenossenschaft (1803) und der damit einhergehenden wirtschaftlichen Modernisierung und «Germanisierung» entste-hen im 19. Jahrhundert kontinuierlich neue Abwehrkräfte, die sich der Rettung der bündnerromanischen Sprache und Kultur verpflichten. Unter dem Einfluss

der deutschen und schweizerischen Chorbewegung verschreibt sich nach 1830/40 auch die in Romanischbünden vereinsmässig organisierte, zunächst noch männlich dominierte Chorkultur «im Dienst von Vaterland und Freiheit» («la libertad can-tar») der öffentlichen Verbreitung eines nationalen und kantonalen Bewusstseins.

Um die Jahrhundertwende weicht diese im Zuge der Sammlung und Erforschung der Volksliteratur dann der Förderung einer patriotischen und volkstümlichen

«originalen» Männerchorkultur mit einem Liedrepertoire in der Muttersprache.

Als es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts darum geht, die ehemals als

«lingua moribunda» bezeichnete bündnerromanische Sprache als «quarta lingua naziunala» in der eidgenössischen Verfassung zu verankern, bekommt der (nun ge-mischte) Chorgesang eine vermehrt traditions- und spracherhaltende, um 1937/38 auch eine konkret propagandistische Funktion («cantei romontsch!»), was sich auch in den zahlreich entstehenden sprach- und heimatidealisierenden chanzuns rumantschas zeigt. Neuen Auftrieb erhält die volkstümliche Chorkultur ebenfalls von den verstärkten Bemühungen um die «Gesangsfreudigkeit» der Schuljugend mit Volksliedern und neuen volkstümlichen Schulliedern. Wichtige Impulse für diese Schulmusikbewegung kommen dabei von der intensiv betriebenen ethno-logischen Erforschung und Fixierung der Volksliedmelodien (auch auf Band) in ganz Romanischbünden.

Wie in Kapitel IV sichtbar wird, ist dann in der zweiten Hälfte des 20. Jahr-hunderts die kunstmässige wie die unterhaltende Vokalmusik äusserst populär, vielgestaltig und von einem neuen Kultur- und Sprachbewusstsein erfüllt. Als Sprachgemeinschaft mit einer Kleinsprache, die zunehmend an Terrain und Spre-cher verliert, vermarkten die Bündnerromanen allerdings auch bis weit in die 1980/90er-Jahre hinein ihre Sprache, Kultur und ihr «car bi vitg nativ» (liebes, schönes Heimatdorf) für die zahlreichen Touristen, was von engagierten Kreisen als «Ausverkauf der (sprachlichen) Heimat» kritisiert wird. Diese Folklore wird besonders im schlagher (popular) rumantsch zelebriert. Der breiten Sensibilisie-rung für die bündnerromanische Sache widmet sich in den 1980er-Jahren dann die Lia Rumantscha mit ihrem «systematischen Spracherhaltungsprogramm».

Diese neue institutionelle Dynamik löst auch in der jungen Musikergeneration ein verstärktes Engagement für die Muttersprache aus und bringt einen «Wind des Aufbruchs» in die Kulturszene Romanischbündens. Medien und Festivals präsentieren nun die Vielfalt der musica rumantscha in all ihren Formen einer breiten Öffentlichkeit. Auch die im 20. Jahrhundert geborenen Komponisten versuchen, «die Moderne» in die chorische und kammermusikalische Kunst-musik zu bringen, müssen aber weiterhin den «romanischen Geschmack» und die kulturellen Traditionen (u. a. die Chorkultur, «noss chors») berücksichtigen.

Voraussetzung für eine positive Beurteilung anspruchsvoller, kunstmusikalischer Vokalmusik für die kollektive Identitätsstiftung bleibt dabei die Integration und Neuinterpretation von traditionellem Lied- und Erzählgut, was besonders die

«erste bündnerromanische Oper» beweist.

Kapitel V schliesslich betrachtet die aktuelle Vokalmusik unter den Vorzeichen von Medienpräsenz und sprachlich-kultureller Identitätsfindung. Heute stellt sich vor dem Hintergrund der alles durchdringenden Globalisierung verstärkt die Frage nach einer kulturellen Identität der bündnerromanischen Sprachmin-derheit und nach einem Bewusstsein von Esser RumantschA, von einem «Roma-nisch-Sein». Als Förderer eines überregionalen Wir-Bewusstseins der Rumantschia und der einzelnen Musikschaffenden begreift sich insbesondere Radiotelevisiun Svizra rumantscha (RTR) mit den verschiedenen Sendeformaten und Musikpro-duktionen, innerhalb deren auch die Konkurrenz eine grosse Rolle spielt. Für die jungen Musikschaffenden von grosser Bedeutung ist die Suche nach einem

«authentischen» Ausdruck der künstlerischen Identität, nach einer individuellen Musiksprache im Angesicht starker Einflüsse der internationalen Musikwelt und nach der idealen Textsprache, weshalb sowohl die Überzeugung «Eu stögl chantar per rumantsch!» (Ich muss auf Bündnerromanisch singen!) als auch die Frage

«O per inglais?» (Oder auf Englisch?) zu hören sind. Als Gegenreaktion auf die Globalisierung wird nicht zuletzt der Diskurs über die «gesunde» und «freie»

Alpenwelt reanimiert, dank dessen besonders das (traditionelle) Chorlied, die chanzun rumantscha, und das «gefährdete» Volkslied, die chanzun tradiziunala, wieder eine Daseinsberechtigung erhalten.

Im Dokument CHANTAI RUMANTSCH! (Seite 38-43)