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Männergesang für die Freiheit und das Vaterland 2.1 Schulgesang zur Volkserziehung

Im Dokument CHANTAI RUMANTSCH! (Seite 121-200)

Seit den Anfängen der Volks- und der privaten Schulen (Seminarien) in Graubün-den im 18. Jahrhundert galt das Singen als bevorzugtes Fach neben dem Religi-onsunterricht. Das Schulsingen und das kirchliche Singen standen in dieser Zeit aber noch in einem engen Verhältnis, denn das Schulsingen war als Vorbereitung der Jugend auf die Teilnahme am Gottesdienst und am Kirchengesang angelegt.87 Die Schulgesangsliteratur war deshalb vorwiegend religiösen Inhalts; bevorzugt wurden Psalmen und geistliche Lieder. Von dieser religiösen Dominanz löste sich die Musikpädagogik, ausgehend von den bürgerlich-aufklärerischen Bestrebungen zur sittlichen Erziehung des Volkes und des Kindes, dann im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert. Das Singen wurde nun als musikalische Selbstver-wirklichung des bürgerlichen Menschen, die dem demokratischen Gleichheitsideal am nächsten kam, verstanden.88

Die in Zeitschriften formulierten Klagen über den Schul- und Kirchengesang in Graubünden, insbesondere über unfähige Schulmeister, unverständliche Lehr-mittel, «nachplappernde» Kinder und das «wüste Geschrey und Gebrülle» der singenden Kirchgemeinde gaben schliesslich Anlass, die Methoden und Lehr-mittel zu überdenken. Basierend auf Hans Georg Nägelis und Johann Heinrich Pestalozzis musikpädagogischen und volkserzieherischen Ansätzen, ihrer Idee der «Menschheitsveredelung» durch den volkstümlichen (Chor-)Gesang, wurde der Schulgesang (auch auf dem Land) gleichfalls zum Verbindungsmoment von geistlich- kirchlichem und weltlich-patriotischem Volksgesang. In Romanischbün-den dauerte die Einrichtung einer flächendeckenRomanischbün-den, obligatorischen Volksbildung mit einem Schulgesang in der Muttersprache allerdings bis weit ins 19. Jahr-hundert hinein. Erst nach 1848 beziehungsweise 1853 wurden die Gemeinden gezwungen, für geeignete Schulhäuser, Lehrpersonen und Lehrmittel, also auch für Schulgesangbücher in bündnerromanischer Sprache zu sorgen. Durch das Schulobligatorium erhielt schliesslich jedes Kind ein Minimum an musikalischer Ausbildung – und doch blieb der Schulgesang in der Muttersprache noch sehr lange Zeit vom persönlichen Engagement einzelner aufgeklärter Geistlicher und Schulmeister, von Mattli Conrad, Andreas Rosius a Porta oder Martin a Planta, später auch von Florian Barblan und Gion Antoni Bühler, abhängig.

87 Cherbuliez, Quellen und Materialien, 1937, 1937, S. 89.

88 Dietschy, Schulkind und Musik, 1983, S. 23.

Volkserziehung mit «Schweizerliedern»

1761 gründeten der Theologe Martin a Planta (1727–1777) aus Susch und der deutsche Theologe Johann Peter Nesemann (1724–1802) in der Freiherrschaft Haldenstein ihr «Seminarium» für die Erziehung wohlhabender Zöglinge nach den Prinzipien der Helvetischen Gesellschaft und der deutschen Philanthropen:

«Die Hauptsache des Seminarii ist, junge Leute erstlich zum Christentum zu bilden, hernach zu dem politischen, ökonomischen, Militär- und Kaufmannsbe-rufe vorzubereiten»,89 lautete der Gründungszweck.90 Auch der Jurist, Diplomat, Aufklärer und Philanthrop Ulysses von Salis-Marschlins (1728–1800), der 1772 die Helvetische Gesellschaft präsidierte und zu den Schlüsselfiguren der Aufklärung in Graubünden91 gehörte, war davon überzeugt, dass die höhere Bildung und moralische Erziehung der Jugend Voraussetzung für eine fruchtbare Entwicklung des Freistaates der Drei Bünde war.92

Als Mitglieder der Helvetischen Gesellschaft bemühten sich Martin Planta und Ulysses von Salis ebenso, mittels patriotischer (Volks-)Lieder ein schweizeri-sches Nationalbewusstsein in der Bevölkerung zu verankern.93 Planta präsentierte deshalb 1766 in Schinznach der Gesellschaft seine «Gedanken über die Verbes-serung der Denkungsart des gemeinen Volkes durch Lieder».94 Die führenden Vertreter der Helvetischen Gesellschaft, Johann Jakob Bodmer und Philippe-Sirice Bridel, unterstützten anschliessend Plantas Vorhaben, mit Liedern, welche die Heldentaten der Vorväter in einfachen Worten zu bekannten Melodien rühmten, im Volk eine «tugendhafte Gesinnung und edle Denkart»95 zu wecken. Bodmers Schüler, Johann Caspar Lavater (1741–1801), liess sich schliesslich von Plantas Arbeit inspirieren und stellte der Gesellschaft 1767 seine eigenen Loblieder auf

89 M. Planta, zit. nach Hartmann, Martin Planta, 1953, S. 310.

90 Schon 1751 befasste sich Planta mit der Errichtung einer «Gemeinnützunge Erziehungsanstalt»

in Graubünden nach dem Modell der pietistischen Schulanstalten von Halle und dem Vorbild der englischen Privatschulen, deren Schulreform er in London kennengelernt hatte. Aus einem alten Adelsgeschlecht stammend, hatte Planta am Collegium Carolinum in Zürich studiert und in Erlangen sowie in London als Privatlehrer gearbeitet. Nach der Bekanntmachung mit Nese-mann kehrte er 1753 nach Graubünden zurück und lernte die «Bedürfnisse» der Bevölkerung kennen, die er anschliessend in Studien und Vorträgen darstellte. (Vgl. Hartmann, Martin Plan-ta, 1953, S. 307).

91 Dazu gehörte ebenso der Staatsmann, Offizier und Lyriker Johann Gaudenz von Salis-Seewis (1762–1834).

92 Nach Plantas Tod übernahm U. von Salis-Marschlins die Leitung des nun philanthropischen Seminars in seinem Schloss in Marschlins (bei Landquart). Bis zu seiner Schliessung 1777 wurden hier insgesamt 320 Männer aus dem In- und Ausland ausgebildet, von denen später beinahe ein Zehntel in höheren Posten der Helvetischen Repulik amteten und mehrere auch als «Neuschöpfer» des Kantons Graubündens (1803) hervortraten. (Vgl. Hartmann, Martin Planta, 1953, S. 311. Vgl. zu den Lehrern des Seminariums Hartmann, Schulanstalten, 1955, S. 153–177).

93 Vgl. Valär, Rätoromanische Heimatbewegung, 2011, S. 32.

94 In: Verhandlungen der Helvetischen Gesellschaft in Schinznach, 1766, S. 83.

95 Ebd.

die Eidgenossenschaft und deren Vorväter und Einrichtungen, seine historisch- patriotischen «Schweizerlieder» vor.96

Die Helvetische Gesellschaft nahm diese «Schweizerlieder» mit Begeisterung auf und so taten es auch andere Gesellschaften, die durch eine Rezension von Albrecht von Haller in den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen davon erfahren hatten.97 Um die «glückseelige[n] Folgen heldenmüthiger Siege unserer grossmüthigen Vorväter»98 besser nachempfinden zu können, schrieb der Pfarrer Johannes Schmidlin (1722–1772) aus Wetzikon im Anschluss passende Melodien.99 1775 erschienen sie (posthum) mit den dreistimmigen Sätzen (und beziffertem Bass) seines Schülers Johann Heinrich Egli (1742–1810) und wurden mehrmals aufgelegt.100 Sie markieren den Beginn des weltlich-volkstümlichen Singens in der Schweiz.101

Einen Nachahmer fanden die «Schweizerlieder» in den «Bündnerliedern»102 von Baron Rudolf von Salis-Haldenstein (1750–1781), der hier die Geschichte Bündens und die Heldentaten der Bündner Freiherren (vorwiegend von Salis) in Verse fasste und durch den Reformpädagogen und Spinnereibesitzer Konrad Greu-ter (1741–1816), der in Chur eine Schule und eine Singschule betrieb, vertonen liess. Auch der Einsatz von mutigen «Weibern» im Engadin und im Lugnezertal im ständigen Kampf für die Freiheit findet hier Erwähnung. 1785 erschienen diese

«einfachen», die «reine Vaterlandsliebe» erweckenden, dreistimmigen «Bündner-lieder mit Melodien» (ebenfalls mit bezifferter Bassstimme) in Chur im Druck.

Mattli Conrads musikpädagogisches und sprachpolitisches Engagement Ein grosser Anhänger dieser «Schweizerlieder» von Lavater – sicher auch der

«Bündnerlieder» von Rudolf von Salis – sowie des aufklärerischen Patriotismus helvetischer Prägung und des Rousseauschen «Contrat social» war der Pfarrer Mattli (Matthias) Conrad jun. (1745–1832) aus Andeer im Schamsertal. Von die-sem anscheinend lebensklugen, musikalisch und pädagogisch erfahrenen Mann und seiner Übersetzung der «Schweizerlieder» ins surselvische Idiom berichtete der Helvetische Kalender 1790:

«O den solltet Ihr kennen, sagten die andern alle, und erhoben ein lautes Lob von diesem Manne, sie zeigten uns Lavaters Schweizerlieder von ihm in die romansche Sprache übersetzt und einige selbstverfertigte sehr empfindungsvolle Gedichte. Mattli Conrad ist der Name dieses Geistlichen. In einem stillen Thale der Alpen lehrt er

96 Lavater, Schweizerlieder, 1767.

97 Vgl. Valär, Rätoromanische Heimatbewegung, 2011, S. 32.

98 J. Schmidlin: Vorbericht des Komponisten, in: J. H. Egli/J. C. Lavater/Ders.: Schweizerlieder, Zürich 41796–98.

99 J. Schmidlin/J. C. Lavater: Schweizerlieder mit Melodieen, Bern 1769.

100 J. H. Egli/J. C. Lavater/J. Schmidlin: Schweizerlieder mit Melodieen, neue, vermehrte Auflage, Zürich 1775, 31786, 41796–98.

101 Vgl. Im Hof, Helvetische Gesellschaft, 1983, S. 203.

102 1781 erschien in Chur sein «Versuch bündnerischer Lieder» in drei Bänden. Die Ausgabe von 1785 sollte dazu, gemäss Vorbericht, eine Ergänzung sein. (Vgl. R. von Salis/K. Greuter (Hg.):

Bündnerlieder mit Melodien, Chur 1785, S. 2).

seine Pfarrkinder ächte Lebensweisheit, Gesang und unschuldige Freude, und ist dafür als Vater geliebt.»103

Mattli Conrad hatte ebenfalls am Carolinum in Zürich studiert und 1767 die Pfarrstelle in Andeer erhalten, wo er sich – als «Amatur d’ilg Clavier» – gleich um eine Kirchenorgel bemühte, deren Aufbau er jedoch nicht mehr erlebte. In Andeer richtete er überdies eine Privatschule ein und war ebenso in Chur als Hauslehrer tätig; möglicherweise schloss er hier mit Ulysses von Salis Bekanntschaft.104 Eine Reise nach Halle inspirierte ihn dann zur Abfassung einer bündnerromanischen Grammatik, ein Projekt, das ihn über Jahre beschäftigte. Aufgrund seiner öf-fentlichen Sympathie für die Ideen der Französischen Revolution wurde er 1799 als Geisel nach Innsbruck und Graz deportiert. Hier traf er auf den Gelehrten Placi(dus) a Spescha (1752–1833) aus Disentis, der sich mit der Herkunft der bündnerromanischen Sprache beschäftigte und mit dessen Hilfe Conrad seine bündnerromanische Grammatik verfasste.105 Auch Wilhelm Humboldt zeigte 1803 grosses Interesse an Conrads linguistischen Arbeiten.

Bezeichnend für Mattli Conrads umfassenden sozialen, sprachlichen und pädagogischen Einsatz sind seine «Novas Canzuns Spiritualas» von 1784,106 ein Kirchengesangbuch «für das öffentliche Wohl des Vaterlandes und die Erbauung des bündnerromanischen Volkes».107 Hier manifestieren sich sowohl theologische, (musik)pädagogische, volksaufklärerische wie erste sprachpolitische Ansätze und Zielsetzungen – eine Mischung, die das Gesangbuch zu einem Unikum unter den Kirchengesang-, Lehr- und privaten Erbauungsbüchern der Zeit macht. Dem Leser seiner «Novas Canzuns Spiritualas» setzte Conrad als Allererstes eine Liste mit den vier Pflichten des «wahren Patrioten»108 vor, die er in einem Vers zusammenfasste: «Ein wahrer guter Patriot, der liebt sein Vaterland. / Er zieht es seinem privaten Wohlergehen vor. / Es zu beglückwünschen setzt er sein ganzes Können ein. / Und preist es vor Gott mit ganzem Herzen.»109 Anschliessend spricht Conrad vom Antrieb für die Herstellung dieses Kirchengesangbuches, von seiner persönlichen «Freude am Gesang und an der Poesie» und vom Mangel an «bündnerromanischen Musikbüchern» für den Gottesdienst. Curdin

103 Helvetischer Kalender, 1790, S. 40, zit. nach Conrad, Ser Mattli Conrad, 1931, S. 271 f. (Anm. 1).

104 Vgl. ebd., S. 264–268.

105 Vgl. Valär, Rätoromanische Heimatbewegung, 2011, S. 52 f. 1820 erschien seine «Praktische Deutsch-Romanische Grammatik», 1823 und 1828 das zweibändige «Taschenwörterbuch der Romanisch-Deutschen Sprache».

106 Die zweite Auflage erschien 1825 als «Canzuns spiritualas cun melodias» in St. Gallen bei Zol-likofer et Züblin.

107 Conrad, Novas Canzuns Spiritualas, 1784, Vorwort

108 «Wahre Mitbürger müssen immer eine herzliche Liebe für ihr Vaterland haben […] Wahre Pat-rioten dürfen nie nur auf ihr eigenes Interesse schauen, sondern das allgemeine Wohl des Vater-landes ihren persönlichen Vorteilen vorziehen […] Jedes Kind des VaterVater-landes, sei es Herrscher, Lehrer, Herr, Bauer, reich oder arm muss, so gut es geht, das Seine zum allgemeinen Wohl beitragen […] Die Pflicht eines wahren Patrioten ist auch: die brennendsten und andächtigsten Gebete für das Glück des Vaterlandes zu tun.» (Conrad, Novas Canzuns Spiritualas, 1784, Vorwort).

109 Ebd.

din) Riolas «Musica Spirituala da l’Olma» und seine «Canzuns da Dumengias»110 hätten wohl guten Dienst getan, aber die Schwierigkeiten mit den Melodiehin-weisen nicht gelöst:

«Es ist schon wahr, dass einige Lieder von Herrn Pfarrer Curdin Riola, die schön und nützlich sind, noch gesungen werden; aber wie kann das richtig geschehen ohne Noten? Und wenn sie jemand nach den dort zitierten Melodien singen will, muss er ja diese Bücher besitzen und hat folglich doppelte Kosten zu tragen.»111

Nach den Genfer Psalmen von Johann Grass (1683)112 waren Conrads «Novas Canzuns Spiritualas» also (erst) das zweite Gesangbuch für die Sur- und Sut-selva, das auch die Noten zu den Liedern enthielt. Hier finden sich insgesamt 123 mehrstimmige und einstimmige Lieder sowie «Soli» (mit beziffertem Bass) von Johann Heinrich Egli, Johann Caspar Bachofen und Johannes Schmidlin zu Gedichten von Johann Caspar Lavater (aus den «Schweizerliedern»), Christian Fürchtegott Gellert und weiteren Autoren. Conrad hatte die Liedtexte übersetzt oder durch eigene Gedichte ersetzt.113 Als Korrektor der Lieder, die Conrad mit einer einzigen Eigenkomposition ergänzte, beauftragte er den Organisten Ludwig Christ114 in Chur.

Conrad wies in seinem Vorwort auch auf die Schrift «Ueber die Verbesse-rung der Schulen in Bündten»115 des aufgeklärten Oberengadiner Pfarrers Hein-rich (Andri) Bansi (1754–1835) hin, die er 1772/73 im Organ Der Sammler der Ökonomischen Gesellschaft von Graubünden gelesen und die ihn schliesslich zu seiner Arbeit inspiriert hatte.116 Solche Kritik und Verbesserungsvorschläge waren gegen Ende des 18. Jahrhunderts vermehrt im Sammler oder im Bündne-rischen Monatsblatt zu lesen.117 Angeregt durch die Seminarien in Haldenstein/

110 Siehe dazu Kapitel I 2.1.1 und 2.1.2.

111 Conrad, Novas Canzuns Spiritualas, 1784, Vorwort.

112 Siehe dazu Kapitel I 2.1.1.

113 Vgl. Schreich-Stuppan, Istorgia dal chant, 2003, S. 116–118. Conrads Eigenkomposition befin-det sich auf S. 264–266. In der zweiten Auflage werden die 14 Soli durch sechs mehrstimmige Lieder von Julius Risch und Florin Cadonau ersetzt.

114 Ludwig Christ besorgte Gesangbücher (aus Zürich) für die Singgesellschaften und Schulen von Chur. (Vgl. Cherbuliez, Musikpflege, 1931, S. 101).

115 Bansi, Verbesserung der Schulen, 1782/1783.

116 Vgl. Cherbuliez, Musikpflege, 1931, S. 81–84. H. Bansi aus Chamues-ch berichtete von 1779–

1811 für den Sammler über die sozioökonomischen und -kulturellen Zustände in Graubünden.

Daneben sind auch kulturgeschichtliche Fragmente mit Bemerkungen über die «Nationalnei-gung (der Engadiner)» für den Tanz und die Musik überliefert.

117 U. a. wurde Kritik an der Dauer des Unterrichts, an der Qualität der Lehrperson und des Schulzimmers, am Unterrichtsmittel, an der fehlenden Aufsicht und der schlechten Besoldung der Lehrperson geübt. Die Vertreter der ökonomisch-patriotischen Bewegung, die sich der Verbesserung der Landwirtschaft widmeten, forderten die allgemeine Ausbildung der Land-bevölkerung, die mehrheitlich Bündnerromanisch sprach, aber ausschliesslich in deutscher Sprache. An der Standesversammlung der Bünde beschlossen die Patrioten 1794 die allgemeine Volksbildung und legten einen ersten Schulreformentwurf vor. Das Bündnerromanische wur-de hier als Hinwur-dernis für wur-den ökonomischen Fortschritt erklärt. (Vgl. Marti-Müller, Bündner Volksschule, 2007, S. 14). Im Hinblick auf die Situation im Engadin äusserte sich auch H. Bansi im Helvetischen Volksfreund dazu: «Am meisten steht der sittlich ökonomischen Verbesserung

Marschlins, Reichenau und Ftan118 sowie durch die nationale Schule in Jenins119 begannen diese Gesellschaften schliesslich, sich für die Einrichtung allgemeiner, obligatorischer Landschulen120 einzusetzen. Als Mitglied der Asketischen Ge-sellschaft von Zürich kämpfte auch Conrad öffentlich für bessere ökonomische Verhältnisse der Prädikanten und Schulmeister.121

Nun sprach Heinrich Bansi in seinem Bericht sowohl über die allgemeine (desaströse) Situation der Schule als auch darüber, dass «Lieder und Gesänge den wirksamsten Einfluss auf die Denkensart des Volks» besässen, dass aber gleich-zeitig ein Mangel an geeigneten Kirchen- und Schulliedern herrsche, weshalb die Kinder nur «nachplapperten»:

«Unsere Schul- und Kinderlieder sind eben so fehlerhaft als unsere Schul- und Lehr-bücher. […] Wir haben manche Liedersammlung, worinnen viel Nützliches und Gutes enthalten ist: aber auch ists nicht zu leugnen, dass in vielen bei unsern Schu-len eingeführten Liedern viel unverständliches Zeug gelesen, gelernet und gesungen werden. […] Daher das Gefühllose bei unserm Kirchengesang, das kaltsinnige, das unverständliche Plappern unserer Kinder, und nicht Kinder mehr; bei jedem Gebet.»122 Aus dem reformierten Oberengadin berichtete Bansi über die differierende Un-terrichtspraxis der «Singmeister» in den Schulen:

«Einige gehen ihre Gesänge nach der Reihe durch, und lassen es dabei gelten. Andere sind genauer, der Singmeister lässt die Noten erklären, verhört einzeln nach dem Takte, die Fehler werden angemerkt, und einige übernehmen bei Hause sich in ihrer Lektion zu üben».123

Auch Mattli Conrad beklagte sich über das Amt dieses «Singmeisters», der üb-licherweise gleichzeitig als Schulmeister, Organist und Vorsänger in der Kirche amten musste. In seinem Schülerlied «Canzun per un scular suenter la scola» (Lied für einen Schüler nach der Schule) heisst es: «Oh dass doch jede Gemeinde qua-lifizierte Schulmeister auswählte. – Aber wo findet man diese? Gebt ihnen einen

dieser Gegenden die Sprache des Volkes, das Ladin, entgegen … Es wäre ein Meisterwerk der Regierung, wenn sie die deutsche Sprache im Engadin allgemein machen würde … Und das zweckmässigste Mittel zu dieser Einführung ist unstreitig kein anderes als die Organisation deutscher Schulen im Engadin.» (Zit. nach Cavigelli, Mattli Conrad, 1970, S. 326).

118 1793 öffnete der Pfarrer Andreas Rosius a Porta (1754–1836), ein ehemaliger Zögling in Mar-schlins, seine Bildungsanstalt für wohlhabende Kinder nach dem Vorbild des Philanthropins.

Bis 1801 unterrichtete er trotz des Franzoseneinmarsches. (Vgl. Marti-Müller, Bündner Volks-schule, 2007, S. 43, und Werner Ott: Schülerrepublik im Schloss Reichenau, Chur 2018.).

119 1786 gründete der ehemalige Schüler von Planta und Nesemann, Johann Baptista von Tschar-ner, eine Privatakademie in seinem Haus in Jenins. Hier wurden die wohlhabenden Männer in vaterländischem Geist erzogen und in Geschichte, Geografie, Verfassung und Gesetzgebung unterrichtet. Aus dieser Schule entstand 1793 das Seminarium in Reichenau, wo auch Heinrich Zschokke unterrichtete. (Vgl. Marti-Müller, Bündner Volksschule, 2007, S. 42 f.).

120 1783 wurden in Ilanz und Thusis (neben Chur und Valendas) ganzjährige Volks- beziehungs-weise Landschulen eingerichtet. (Vgl. A. Collenberg, in: LQ 16. 11. 2016).

121 M. Conrad: Beantwortung der Einführung in die Pfrundverbesserung, in einem Gespräche dar-gestellt, 1790.

122 H. Bansi, in: Der Sammler, 1783, S. 60–68.

123 H. Bansi, ebd., S. 378–384.

ausreichenden und angemessenen Lohn, dann bekommt ihr sie schnell!»124 Damit rügte Conrad sowohl die Eltern, denen die Bildung ihrer Kinder anscheinend nichts wert war, als auch die Gemeinden, die ihre Mittel nicht für die Schulbil-dung einsetzten.125

Für eine solche Schulbildung und Volkserziehung in der Muttersprache en-gagierte sich Mattli Conrad schliesslich mit aller Kraft.126 Er tat dies entgegen der (öffentlichen) Meinung, dass das Bündnerromanische ein Hindernis für den ökonomischen Fortschritt darstelle127 und obwohl die sprachliche, konfessionelle und regionale Vielfalt im Kanton sowie die Gemeindeautonomie und die Armut vieler Berggemeinden die Einrichtung einer allgemeinen Volksschule naturge-mäss beträchtlich erschwerten. Als Mitglied der Ökonomischen Gesellschaft von Graubünden präsentierte Conrad 1808 im Neuen Sammler seine Vorschläge zur Verbesserung der sozialen Frage und nahm Stellung zur Frage, ob das Bünd-nerromanische verdrängt und durch die deutsche Sprache ersetzt werden sollte, wofür er insbesondere ökonomische und gesellschaftliche Argumente ins Feld führte. Dagegen sprächen allerdings, so Conrad, der Widerstand der Gemeinden Romanischbündens und der Vorteil der Mehrsprachigkeit. Deshalb plädiere er für den Erhalt und die Pflege der Sprache: «Nach meiner Ansicht wäre es besser, die Romansche Sprache beyzubehalten, aber auch sie zu cultivieren, wozu es aber Unterstützung erfordert […]»128

Die Haltung der liberalen Patrioten und Gesellschaften zur «archaischen»

bündnerromanischen (Bauern-)Sprache und Kultur mit geringem Prestige129 för-derte derweil auch in der bündnerromanischen Bevölkerung ein Minderwertig-keitsgefühl, das sich bald in Gleichgültigkeit und Ablehnung der Muttersprache verwandelte und den Boden für die Germanisierung legte.130 Überdies weckte es den Widerstand der Bevölkerung gegen jegliche Neuerungen – eine Haltung, die

124 M. Conrad, zit. nach Conrad, Ser Mattli Conrad, 1931, S. 270.

125 Seit Ende des 17. Jahrhunderts besass jede grössere (und manche kleinere) Gemeinde eine ka-tholische beziehungsweise evangelische Dorfschule, die allerdings den Namen «Volksschule»

nicht verdiente, da sie weder obligatorisch noch allen zugänglich war – für den Bauern- oder Soldatenberuf war die Schulbildung ohnehin keine Voraussetzung. Üblich war also der reli-giöse (und auch musikalische) Unterricht durch den Gemeindepfarrer oder durch die Eltern, während die Wohlhabenden sich Privatlehrer hielten oder ihre Söhne in Schweizer Institute und (später) in die philanthropischen Seminarien Graubündens sowie in die 1804 eingerichteten Kantonsschulen schickten. (Vgl. Marti-Müller, Bündner Volksschule, 2007, S. 14 f. und Collen-berg, Istorgia grischuna, 2003, S. 245 f.).

126 Später ebenso der Pädagoge Otto Carisch aus Sarn (1789–1858) und der Disentiser Pater Baseli Carigiet (1811–1883). Angeregt durch die «Anleitung zur Verbesserung der Landschulen im Kanton Graubünden» von 1813 gründete Carisch einen evangelischen Schulverein zu diesem Zweck. Zusammen mit dem 1832 eingerichteten katholischen Schulverein, der ebenso durch den Staat unterstützt wurde, trieb dieser Verein die Bewegung für eine allgemeine obligatori-sche und laizistiobligatori-sche Schulbildung voran. (Vgl. Collenberg, Istorgia grischuna, 2003, S. 248 f.).

127 Siehe dazu Kapitel II 1.1.

128 Conrad, Beschreibung des Schamsertales, 1808, zit. nach Loringett, Digl Rumàntsch, 1993, S. 334. Vgl. auch Conrad, Ser Mattli Conrad, 1931, S. 297 f.

129 Vgl. Coray, Sprachmythen, 2008, S. 81.

130 Siehe dazu Kapitel II 1.1 und 1.2.

sich so schnell nicht mehr ändern sollte.131 Im Vorwort zu seinem Wörterbuch von 1823 ereiferte sich Mattli Conrad deshalb: «Nein, nicht auslöschen, sondern kultivieren, verbessern, perfektionieren müssen wir unsere Muttersprache!»,132 und dies müsse durch bessere Schulverhältnisse, mit guten Schulbüchern und Wörterbüchern geschehen.133 Gleichzeitig zur zweiten Ausgabe seiner «Canzuns spiritualas» publizierte Conrad deshalb 1825 für die Bündner Schulen seine eigenen

«Schweizerlieder», eine Sammlung von «einfachen, ungekünstelten» Gedichten für Kinder und Jugendliche. Sie handelten von der «Sklaverei der Rhätier», von «Grau-samkeiten», «Fehden» und «Prozessen» verschiedenster Freiherren und Vögte des Schamsertales, aber auch von den tapferen Männern des «grauen Bunds».134 Conrad hatte diese Gedichte nach Studien der Geschichte seines Heimattales Schams verfasst und anschliessend einem gewissen Lehrer Zellweger in Chur zur Komposition vorgelegt. Sie erschienen unter dem Titel «Neue aus dem Altertum hergetragene

«Schweizerlieder», eine Sammlung von «einfachen, ungekünstelten» Gedichten für Kinder und Jugendliche. Sie handelten von der «Sklaverei der Rhätier», von «Grau-samkeiten», «Fehden» und «Prozessen» verschiedenster Freiherren und Vögte des Schamsertales, aber auch von den tapferen Männern des «grauen Bunds».134 Conrad hatte diese Gedichte nach Studien der Geschichte seines Heimattales Schams verfasst und anschliessend einem gewissen Lehrer Zellweger in Chur zur Komposition vorgelegt. Sie erschienen unter dem Titel «Neue aus dem Altertum hergetragene

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