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Patriotischer Gesang und Heimatbewusstsein im 19. Jahrhundert

Im Dokument CHANTAI RUMANTSCH! (Seite 109-121)

Obwohl der Helvetik nur eine kurze Lebenszeit beschieden war, legte sie den Grundstein für einen Nationalstaat und eine nationale, überregionale und über-sprachliche, eidgenössische Identität. Die in dieser Zeit entstandenen Bilder und Geschichten über die Schweiz als Alpenland mit einem tugendhaften, schollen-treuen und freien Bauern- und Hirtenvolk prägten bis weit ins 20. Jahrhundert hinein den Diskurs um den nationalen Charakter. In ihrer Funktion der öffent-lichen Propagierung von nationalem und kantonalem Bewusstsein bediente sich auch die entstehende Chorbewegung in Romanischbünden bekannter Mythen und Legenden über die «patria» (Heimat) und die «libertad» (Freiheit). Diese Freiheit gemeinsam zu besingen, «la libertad cantar», galt als «Dienst für die Freiheit und das Vaterland». Der Weg zu einem wirklichen chant rumantsch war jedoch lang und mühselig – ganz wie die mentale Integration der Bündner Bevölkerung in die Eidgenossenschaft. Eine tragende Rolle spielten dabei die «rätoromanische Renaissance» und die «Erweckung» einer Volkskultur durch die Erforschung und Sammlung der Volksliteratur.

1 Nossa patria: Heimatbewusstsein und Ursprungslegenden

1.1 Aus Alt Fry Rhätien wird Graubünden: Integrationsgeschichte(n) Für den Freistaat Gemeiner Drei Bünde – auch «Alt Fry Rhätien» genannt – gestaltete sich die Helvetik (1798–1803) mit den wechselseitigen Besetzungen durch die Grossmächte Frankreich und Österreich und den internen Streitigkeiten zwischen den Anhängern dieser oder jener Macht als «furchtbares Wirrwarr».1 Als «Kanton Rätien» verlor der Freistaat überdies seine Souveränität und damit auch alle Untertanengebiete. Zu Beginn der Mediationszeit (1803) setzte Napoleon dann mit der Mediationsakte die Eingliederung des Kantons «Graubündten» in die «Confoederatio Helvetica» durch. Nach beinahe 300 Jahren als republikani-scher «Freistaat» (1524–1803) und einigen Jahren als schwacher Kanton «Rätien»

(1799–1803) wurde Graubünden nun wieder zu einem teilweise souveränen Kan-ton der Schweizerischen Eidgenossenschaft.

Zu dieser Integration hatte die Bevölkerung, die das Elend der Koaliti-onskriege von 1799/1800 miterlebt hatte, allerdings eine zwiespältige Einstellung.2

1 Vgl. Collenberg, Istorgia Grischuna, 2003, S. 200.

2 Vgl. Berther, Diaus pertgiri, 2003, S. 3.

Die Führungselite aus «hochwohl- und wohledelgebohrnen Herren», die plötzlich

«Bürger» geworden waren, stritt heftig um den Verbleib im neuen Einheitsstaat.3 Nach dem Sturz Napoleons 1814 regte sich denn auch Widerstand von «Revoluti-onären», die sich den alten Freistaat und die alten Allianzen mit den Grossmächten zurückwünschten und vor einer Fremdbestimmung durch eidgenössische Insti-tutionen warnten. Neben dem Verlust der kommunalen Freiheit befürchtete sie auch die hohen Kosten einer Zentralisierung. Die aufklärerisch-liberalen Patrioten dagegen forderten die rasche Modernisierung der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen Graubündens sowie die Herstellung einer politischen Öffentlichkeit, um eine nationale Identität propagieren zu können.

Die breiten Schichten der Bevölkerung fühlten sich währenddessen immer noch mit «Alt Fry Rhätien», seiner politischen Gemeindeautonomie («libertad cumina») und seiner «face-to-face»-Gesellschaft verbunden – von einem «frei-staatlichen» oder «kantonalen» Staatsbewusstsein konnte nicht die Rede sei. Von einem «Föderalismusproblem» in der Kantonsbildung bis 1848 spricht deshalb Georg Jäger,4 der sich mit dem bündnerischen Regionalbewusstsein und der Integ-ration Graubündens in die Schweiz auseinandergesetzt hat: «Lokale und regionale Orientierungen im Rahmen der Gerichtsgemeinden und Nachbarschaften sowie die konfessionelle Zugehörigkeit bestimmten im wesentlichen den Mentalitätsho-rizont bis weit ins 19. Jahrhundert hinein.»5

Besonders der bündnerische Konservatismus verpflichtete sich, diese «li-bertad cumina» und die Dorfgemeinschaft vor einer neuen egalitären, «verderb-lichen»6 Freiheit des Individuums, vor wirtschaftlichen Modernisierungen und der rechtlichen Zentralisierung zu verteidigen. «Seine Gemeinde ist ihm Alles», kritisierte der Redaktor und liberale Politiker Peter Conradin Planta 1842 diesen begrenzten Horizont des konservativen Bündners «hinter den Bergen» und eine

«bürgerliche und menschliche Gesellschaft» in einem gemeinsamen Staat interes-siere ihn überhaupt nicht.7 Die «unfreiwilligen Schweizer»8 mit der Vorstellung eines einheitlichen «Schweizervolks» vertraut zu machen, gestaltete sich deshalb als mühsamer und langwieriger Prozess, denn «nationale Integration bedeutete die Bereitschaft, auch emotional die Rolle eines Kantonsangehörigen in einem schweizerischen Nationalstaat zu akzeptieren».9

3 Vgl. Jäger, Verschweizerung der Bündner, 1992, S. 42.

4 Jäger, 1991, 1992, 1999, 22005 (2000). (Vgl. zum Forschungsstand 2005, S. 329).

5 Jäger, Bündnerisches Regionalbewusstsein, 1991, S. 1.

6 P. A. de Latour in seine Rede an der Sekulärfeier des Grauen Bundes in Trun 1824. (Zit. nach ebd., S. 8).

7 Ebd., S. 7 f.

8 Die Bündner waren allerdings nicht die einzigen «unfreiwilligen Schweizer» in diesem nationa-len Integrationsprozess, auch der Kanton Wallis wurde nach dem Wiener Kongress 1815 unter internationalem Druck und gegen den Widerstand des Oberwallis der Eidgenossenschaft ein-verleibt – bis heute sprechen die Walliser von der Schweiz als «Üsserschwiz» (Vgl. «Das Wallis.

200 Jahre Beitritt zur Eidgenossenschaft», Zeitblende, SRF 4 News, 6. 6. 2015, [28. 8. 2017]).

9 Jäger, Graubündens Integration, 2005, S. 314.

Verbreitung von liberalem und nationalem Gedankengut

Angeregt wurde die innere Bereitschaft zur Integration in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch eine öffentliche Verbreitung von liberalem und na-tionalem Gedankengut in den Vereinen, den Männerchören und Schützenver-bänden, an den Säkularfeiern, Schützen- und Nationalfesten, mit Festschriften, Reden und patriotischen Liedern. Solche Feste waren also nicht nur ein Ort des geselligen Beisammenseins, sie hatten in erster Linie die Funktion, den Menschen kulturelle Normen nahezubringen, das Volk zu tugendhaften Staatsbürgern zu erziehen sowie eine politische Öffentlichkeit und ein nationales Bewusstsein her-zustellen.10 Die Alphirtenfeste zu Unspunnen 1805 und 1808, organisiert und inszeniert durch die Berner Aristokratie, gehören zu den ersten eidgenössischen Nationalfesten, die das Nationalbewusstsein der Bevölkerung und den Zusam-menhalt zwischen Stadt und Land durch Geselligkeit, Musik im Volkston und Kampfspiele sowie durch eine Wiederbelebung der «Sitten und Freuden» der Vorväter stärken sollten.11 In Graubünden fanden nach dem Vorbild der deutschen Nationalfeste12 des Vormärz, die in den französischen Revolutionsfesten und in den Verfassungsfeiern der Amerikanischen Revolution gründeten, bis 1848 drei bedeutende integrative Säkularfeiern statt: 1824 in Trun die 400-Jahr-Feier des Grauen Bundes, 1836 diejenige des Zehngerichtebundes in Davos und 1842 das Eidgenössische Freischiessen in Chur. Diese Feiern wurden (zusammen mit der Presse und der Schule) von den Liberalen sowohl zur Herstellung eines verstärkten Geschichtsbewusstseins als auch zur «Umdeutung der (Bündner) Geschichte»

analog zur schweizerischen Historiografie mit ihrer Befreiungstradition, ihren Gründungs- und Schlachtdaten, ihren Mythen und Heldenfiguren aus der alten Eidgenossenschaft instrumentalisiert.13

In Trun spielte 1824 der Ahorn als «Kronzeuge»14 der Gründung des Grauen Bundes eine bedeutende Rolle, während in Davos 1836 ein neuer «Freiheitsbaum»

errichtet wurde; hinzu kamen Ansprachen, Umzüge, Freischiessen und musikali-sche Vorträge. Historimusikali-sche Festschriften schilderten und deuteten die Entstehung der jeweiligen Bünde im liberalen Sinn als Wegmarken einer «Bündnergeschichte».

Das Schützenfest von Chur 1842 hingegen war eine «öffentliche Manifestation der Eidgenossenschaft», organisiert von Reformisten zur Verbrüderung der Bündner mit den Schweizern, formuliert und gefeiert in zahlreichen patriotischen Reden.15 In einem Land mit grosser Jägertradition war die politische Schützenbewegung im Gegensatz zur Turn- und Sängerbewegung mit ihren Bildungsidealen schon seit den 1820er-Jahren auch in den entlegenen Tälern verankert und wesentlich

10 Vgl. Wolgast, Feste, 1988, S. 41–71; Düding, Festkultur, 1988, S. 10–24; Langewiesche, Nation, 2000, S. 85.

11 Vgl. Oehme-Jüngling, Volksmusik, 2016, S. 108–110 (Zitat von Franz S. Wagner, S. 110).

12 Zum Leipziger-Schlachtgedenken (1814) und zum Wartburgfest (1817) vgl. Düding, Festkultur, 1988, S. 16, 64–88, Wolgast, Feste, 1988, S. 41–46.

13 Vgl. Jäger, Graubündens Integration, 2005, S. 315 und 319.

14 Vgl. C. Fry: Der Trunser Ahorn. Die Geschichte eines Kronzeugen, Chur 1928.

15 Vgl. für den Abschnitt Jäger, Graubündens Integration, 2005, S. 314 f.

an der Verbreitung eines nationalen Bewusstseins beteiligt.16 Die Schützenvereine waren gut organisiert und vernetzt und führten regelmässig Wettkämpfe und Feste zur Pflege der Wehrfähigkeit und der nationalen Gesinnung durch. Aber auch die (nicht politisch angelegte) Sängerbewegung mit den regelmässigen Gesangfesten und einem mehrheitlich patriotischen Liedrepertoire förderte und propagierte seit 1830 die kollektive Vaterlandsliebe.17

Die Annahme der schweizerischen Verfassung von 1848 durch eine Mehrheit der Gemeinden Graubündens zeigte dann, dass die Identifikationsangebote der Nationalbewegung und die Modernisierung auch im ländlich geprägten Kanton zunehmend akzeptiert wurden. «Mit einer Mischung aus Skepsis, Minderwer-tigkeitsgefühlen und Hoffnung wandte man sich nach und nach dem neuen Staat zu»,18 schreibt Jäger. Die neuen gemeinnützigen und die Geselligkeit fördernden Vereine mit den dazugehörigen Festen erhielten Zulauf von grossen Teilen der Bevölkerung. Zu den Vereinszwecken gehörten neben praktischen Inhalten auch der «Dienst am Gemeinwohl» und die Verbreitung von Wissen und Wertvorstel-lungen zum modernen Verfassungsstaat und zur wirtschaftlichen Modernisierung.19 Auch die neue, freie Presse veränderte seit 1830 die «politische Vorstellungs-welt»20 der Bündner und Bündnerromanen massgeblich. Der liberalen wie der konservativen Presse Romanischbündens gemein war dabei ihre öffentliche Bil-dungsfunktion und ihr starker Einsatz für den Spracherhalt und die Sprachpflege.21 Das Fögl d’Engiadina widerspiegelte die weitestgehend liberale Gesinnung des protestantischen Engadins, hielt sich aber aus den «afers politics» (den politischen Angelegenheiten) heraus. Die katholische Gasetta Romontscha hingegen sah sich als politisch, wirtschaftlich und pädagogisch belehrendes Blatt mit (inter)nati-onalem Anspruch.22 Sie propagierte katholisch-konservative Wertvorstellungen und Ideale, kritisierte «die Zentralisten mit ihrer gottlosen Schule, den Baronen aus Bern und ihrer Bürokratie» und schrie beständig «Referendum!».23

Der wirtschaftliche Aufschwung bedroht das Bündnerromanische

In wirtschaftlicher Hinsicht bedeutete die Bundesverfassung von 1848 in-des (noch) keinen Aufschwung, denn es fehlten die Mittel und Institutionen für eine Bundeshilfe. In der Bündner Presse hiess es deshalb bald, Graubünden werde hintangestellt und vernachlässigt, unter anderem durch die Bevorzugung der Gotthardbahn vor der Ostalpenbahn. Die Schweizer Presse kritisierte wäh-renddessen den mangelnden Willen der Bündner zur nationalen Integration und

16 Vgl. Jäger, Bündnerisches Regionalbewusstsein, 1991, S. 10 f.

17 Vgl. Jäger, Verschweizerung der Bündner, 1992, S. 47. Siehe dazu Kapitel II 2.3.

18 Jäger, Graubündens Integration, 2005, S. 326.

19 Vgl. Jäger, Verschweizerung der Bündner, 1992, S. 48.

20 Jäger, Bündnerisches Regionalbewusstsein, 1991, S. 18.

21 Vgl. dazu Deplazes, Funtaunas 3, 1990, S. 16–35.

22 Vgl. Saluz, Identität der Bündnerromanen, 2000, S. 39.

23 GaRo Nr. 47/1, 3. 1. 1902, zit. nach Saluz, Identität der Bündnerromanen, 2000, S. 40.

Partizipation.24 Politische Minderwertigkeitsgefühle schien es in Graubünden dennoch nicht zu geben, zumindest konnte dies die Gasetta Romontscha für die konservative Surselva bezeugen: Hier hielt man trotz der Aufhebung der traditionellen Gerichtsgemeinden 1851 und der Kantonsverfassung von 1854 an den föderalistischen Strukturen und Vorrechten fest und widersetzte sich den Reformen.25

Eine wichtige Funktion bei der Integration Graubündens in die Schweiz – besonders vor und während Kriegszeiten – hatte auch die Armee inne. Die Or-ganisation des eidgenössischen Militärwesens (nach 1874) mit einer allgemeinen Wehrpflicht und der Disziplinierung des Heeres durch eine Professionalisierung des Offizierskorps – Bündner Offiziere wurden bei der Neugestaltung des Mi-litärs miteinbezogen26 – verstärkte die Einbindung der Kantone wesentlich. In Chur wurde 1880–1887 eine kantonale Kaserne errichtet und die Bündner Sol-daten hatten nun die Möglichkeit, in der Rekrutenschule den eigenen Kanton und die ganze Schweiz besser kennenzulernen. Während der Kriegsbedrohung vor dem Ersten Weltkrieg rückten die Bündner so näher an den Bundesstaat, der ihnen Sicherheit und Wohlstand garantierte, der aber den Kanton Graubünden als Grenzkanton auch zu verstärkter Wehrbereitschaft verpflichtete.

Der aufkommende Fremdenverkehr und die Begeisterung für die «heile»

Alpenwelt, die neuen Arbeitsplätze in der Industrie und die politische Einbin-dung der Konservativen im ausgehenden 19. Jahrhundert sowie der Anschluss Graubündens an das schweizerische Eisenbahnnetz zu Beginn des 20. Jahrhun-derts stärkten aber bald ein überregionales patriotisches Selbstbewusstsein. Die neue Mobilität durch den Bau der Rhätischen Bahn (RhB) brachte derweil auch die Bewohner der abgeschiedensten Täler Romanischbündens näher zusammen.27 Die «Calvenfeier»28 von 1899 und das zentrale «Calvenspiel», das bis dahin be-deutendste Festspiel Graubündens, sollte schliesslich ein Sinnbild des bahn- und elektrotechnischen Fortschritts und der erfolgreichen Vermittlung eines kantona-len und eidgenössischen Geschichtsbewusstseins werden: In einem spektakulären Festaufzug wurde der Bündner Freiheitsheld Benedikt Fontana mit den eidge-nössischen Helden Tell und Winkelried gleichgesetzt und die Allegorien Rätia und Helvetia verbanden sich symbolisch vor den Augen Zehntausender Besucher.

Die «Calvenfeier» stärkte neben einer nationalen «Bruderliebe»29 aber auch ei-nen «Bündnerromaei-nenstolz», denn Fontana war ursprünglich Oberhalbsteiner

24 Vgl. Jäger, Graubündens Integration, 2005, S. 318.

25 Vgl. Collenberg, Istorgia Grischuna, 2003, S. 214 f.

26 Bedeutend waren der Generalstabschef und Gestalter der Militärorganisation Theophil von Sprecher (1907) und Friedrich Brügger, ein Adjutant des Generals Ulrich Wille (1914). Vgl.

Jäger, Graubündens Integration, 2005, S. 322.

27 Vgl. ebd., S. 326–328.

28 Vgl. Jecklin, Calvenfeier, 1900 und Schmid, Calvenbuch, Chur 1931.

29 GaRo, Nr. 23, 1899.

und sprach Bündnerromanisch30 – als «unser Nationaldrama»31 bezeichnete der katholisch-konservative Politiker Caspar Decurtins deshalb die «Calvenfeier».

Die Eingliederung in die mehrheitlich deutschsprachige Eidgenossenschaft, die Industrialisierung und der technische Fortschritt, der rasante wirtschaftliche Wandel und die Landflucht hatten allerdings die bündnerromanische Sprache arg in Bedrängnis gebracht.32 Wie das Italienische wurde sie als regionale und

«archaische» Sprache mit geringem Prestige33 im nationalen Integrationsprozess untergeordnet behandelt, ja sogar als Hindernis für den Fortschritt34 betrachtet.

Zunehmend sah sie sich von der offiziellen kantonalen Amts- und Gerichts-sprache Deutsch verdrängt, die gleichzeitig auch «BrotGerichts-sprache» war, also All-tags-, Verkehrs- und Schulsprache.35 In den 1840er-Jahren diskutierte die libe-rale Deutschbündner Presse über die Gründe des Rückgangs der «churwälschen Sprache», die auch als «lingua moribunda»36 bezeichnet wurde. Ihr «Abgang» sei den fortschrittlichen Meinungsmachern als naturgesetzlicher Vorgang erschie-nen, schreibt Jäger, und vereinzelte Reformer forderten sogar öffentlich37 ihre Ausrottung.38 Die deutsche Sprache betrachteten sie dagegen als «Tor zu einer grösseren, moderneren kulturellen und ökonomischen Welt».39

Dieser Wertminderung des Bündnerromanischen entgegenzutreten, ihr Pres-tige im Sinne romantischer und sprachnationalistischer Ideologien aufzuwerten und sie dadurch zu erhalten, setzte sich die Bildungselite Romanischbündens deshalb in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Ziel. Und aus der Gefahr einer Germanisierung wurde ein Antrieb für den Spracherhalt.40

30 Genauer: das Idiom Surmiran. Sein Ausspruch in der Calvenschlacht «Hei fraischgiamaingk meiss Matts» ist hingegen dank Durich Chiampel im Idiom Vallader erhalten. (Siehe dazu Ka-pitel I 1.3).

31 Zit. nach Schmid, Calvenbuch, 1931, S. 103.

32 Vgl. Coray, Sprachmythen, 2008, S. 95–99; Derungs-Brücker, Bewegungen, 1988, S. 6; Mathieu, Organisation der Vielfalt, 1988, S. 157–160.

33 Vgl. Coray, Sprachmythen, 2008, S. 81.

34 In den neuen Sektoren der Industrie, der Marktwirtschaft und des Fremdenverkehrs waren Deutschkenntnisse Voraussetzung. In den Schulen erhielt das Deutsche deshalb besonders in Regionen mit bündnerromanischer Minderheit Vorrang. (Vgl. Coray, Sprachmythen, 2008, S. 97; Collenberg, Istorgia Grischuna, 2003, S. 327 f.).

35 In den Kantonsverfassungen von 1803, 1814, 1834, 1854, 1880 wurde die Mehrsprachigkeit des Kantons zwar gewährleistet, aber offizielle Amtssprache blieb das Deutsche. (Vgl. Coray, Sprachmythen, 2008, S. 80 f., S. 91–93 und Derungs-Brücker, Bewegungen, 1988, S. 6).

36 Vgl. Derungs-Brücker, Bewegungen, 1988, S. 8.

37 U. a. in der BZ 79/80, 1843.

38 Jäger, Verschweizerung der Bündner, 1992, S. 51.

39 Coray, Sprachmythen, 2008, S. 96.

40 Vgl. Valär, Anerkennung des Rätoromanischen, www.peiderlansel.ch [2. 10. 2015].

1.2 Stai si, defenda! Die «rätoromanische Renaissance»

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als man vor dem Hintergrund des Fortschritts das Ende aller Kleinsprachen voraussah, war die Erforschung, Pflege und Vermitt-lung des Bündnerromanischen Sache von Privaten.41 Angeregt von europäischen Vertretern der Romantik und Sprachwissenschaftlern, die grosses Interesse an dieser Kleinsprache zeigten, begannen einzelne Intellektuelle, Pfarrer, Lehrer und Zeitungsredaktoren, sich verstärkt mit ihrer Muttersprache auseinanderzu-setzen: Joseph von Planta, Mattli Conrad, Placi a Spescha, Otto Carisch, Baseli Carigiet und Zaccaria Palliopi verfassten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts grundlegende Wörterbücher und Grammatiken zur bündnerromanischen Sprache und sammelten Manuskripte und gedruckte Schriften.42 Diese wissenschaftliche Erforschung und Auseinandersetzung von ausländischen und einheimischen Ge-lehrten schuf ein neues Sprachbewusstsein innerhalb breiter intellektueller Kreise.

Dem gegenüber standen die «universalistischen, fortschritts- und wirtschafts-freundlichen Ideale»43 des neuen schweizerischen Bundesstaates und die Bemü-hungen der liberalen Bündner Führungselite, die kantonale Mehrsprachigkeit zugunsten der deutschen Sprache zu eliminieren. Bei den Verhandlungen über den Sprachenartikel in der Schweizerischen Bundesverfassung 1848 erfolgte deshalb kein Antrag auf Aufnahme der bündnerromanischen Sprache als Nationalsprache.44 Die grössere gesellschaftliche Mobilität und die Migration Deutschsprachiger beeinflusste darüber hinaus das Sprachverhalten der breiten Bevölkerung und so wurde sogar zwischen den Bündnerromanen unterschiedlicher Täler Deutsch gesprochen. 1860 wies der Kanton erstmals eine deutschsprachige Mehrheit auf.

In diesem «Spannungsfeld»45 von ausländischem Interesse und (grösstenteils) einheimischer Ablehnung des Bündnerromanischen versuchten schliesslich ein-zelne Vorkämpfer der Heimatbewegung, mittels der bündnerromanischen Presse46 und der Volksschule in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein neues Sprach-bewusstsein, eine aktive Verwendung und eine Wertschätzung der Muttersprache auch in der breiten Bevölkerung zu verankern. «Viele der ersten Vertreter der romanischen Heimatbewegung waren Redaktoren und Lehrer, daher überrascht

41 Vgl. Valär, Rätoromanische Heimatbewegung, 2011, S. 54.

42 Vgl. dazu Valär, Rätoromanische Heimatbewegung, 2011, S. 53–55. Vgl. auch Michele Badilatti:

«Geadelt durch Alter und Ansehen». Die Veredelung des Bündnerromanischen in Joseph Plan-tas «An Account of the Romansh Language» (1776), Masterarbeit Universität Zürich, 2014.

43 Valär, Rätoromanische Heimatbewegung, 2011, S. 56.

44 Der Sprachenartikel zeigt allerdings ein erwachendes Bewusstsein der schweizerischen Füh-rungselite für die sprachliche Vielfalt der Schweiz und die Sprachenfrage wurde in den Folge-jahren unter dem Einfluss der sich bildenden Sprach- und Kulturnationen ringsherum zu einer immer dringlicheren Frage der nationalen Einheit und Identität. (Vgl. Valär, Rätoromanische Heimatbewegung, 2011, S. 36).

45 Valär, Rätoromanische Heimatbewegung, 2011, S. 57.

46 Il Grischun romontsch, 1836; Amitg della Religiun e della Patria, 1838; Nova Gasetta Romont-scha, 1840; L’aurora d’Engiadina, 1843; Fögl d’Engiadina, Gasetta RomontRomont-scha, 1856/57. (Vgl.

dazu Billigmeier, Rätoromanen, 1983, S. 169).

es nicht, dass sie die Presse und die Schule als entscheidende Institutionen im Kampf um die Erhaltung der sprachlichen und kulturellen Eigenständigkeit be-trachteten»,47 erläutert Rico Valär. Ihrem unermüdlichen Einsatz sei es schliesslich zu verdanken gewesen, dass die Bewegung für den Spracherhalt sich konsolidiert und nach 1885 in einer Phase grosser (institutioneller) Aktivität gemündet habe, die 1919 rückblickend als «rätoromanische Renaissance» bezeichnet wurde.48

Die Societad Retorumantscha fördert das Sprachbewusstsein

1863 gründete der Kantonsschullehrer und Redaktor Gion Antoni Büh-ler (1825–1897) aus Domat/Ems in Chur zunächst die überregionale Societad Rhaetoromana. Aus mangelhafter Kommunikation und fehlendem öffentlichen Interesse49 in den Regionen brauchte die Gesellschaft jedoch zwei weitere Anläufe, bis sie schliesslich 1885 als Societad Retorumantscha (SRR) ihren Zweck und ihre Aufgaben in den Statuen festhalten konnte: 1. die Sammlung und Erhaltung der

«Sprachmonumente», die Kultivierung und, soweit möglich, die Vereinheitli-chung der Dialekte sowie 2. die Gründung und Herausgabe eines Periodikums, das exklusiv den unter Punkt 1 genannten Gründen dienen sollte.50 In der ersten Ausgabe dieses Periodikums mit dem Namen Annalas da la Societad Retoru-mantscha (ASR) verwies Bühler dann 1886 auf die (schon 1863 formulierten) Voraussetzungen für eine erfolgreiche Sprachbewegung, zu welchen neben der systematischen Erforschung und Fixierung sowie der organisierten Förderung der Sprache auch die Verankerung der ASR in der «Masse der bündnerromanischen Bevölkerung» gehörte. Nicht nur «Studierte» sollten in der SRR und in der ASR ihren Beitrag leisten können, sondern auch der «einfache Bauer».51 Die SRR setzte sich in ihrem Sprachaktivismus also von Beginn weg zum Ziel, bei allen Sprechern der «churwälschen Sprache»52 neue, positive Gefühle für die Muttersprache zu wecken und einen aktiven Sprachgebrauch zu fördern.

Dafür schien den Aktivisten der SRR 1863 und 1870 eine neue überregionale und überkonfessionelle, kultivierte Literatur- und Schulsprache, eine Hochsprache für alle Gebiete wesentliche Voraussetzung zu sein. Im Angesicht der mächtigen deutschen Sprache wurde das Überleben des Bündnerromanischen auch von einer Angleichung und Verbindung der Idiome und Dialekte abhängig gemacht.53 1867 kreierte Bühler seine Einheitssprache «romontsch fusionau» und forderte in seiner Zeitung «Il Novellist» zur literarischen Produktion in dieser Sprache auf; er selbst schrieb und publizierte hier Erzählungen für das «Volk». Für seine Liedersamm-lung «Collecziun de Canzuns per Chor Viril» (1885) verfasste er auch Liedtexte

47 Valär, Rätoromanische Heimatbewegung, 2011, S. 54.

48 Vgl. ebd. S. 15.

49 Vgl. Billigmeiner, Rätoromanen, 1983, S. 190.

50 Vgl. Bühler, Societad Rhaeto-romana, 1886, S. 13. (Vgl. auch Coray, Sprachmythen, 2008, S. 110).

51 Ebd.

52 BZ 79/80, 1843. Vgl. dazu Kapitel II 1.1.

53 Vgl. Deplazes, Die Rätoromanen, 1991, S. 93.

in diesem «Dialekt, den alle Bündnerromanen leicht verstehen und gebrauchen»

konnten.54 Nach dem Eingehen seiner Zeitung benutzte er schliesslich die ASR als Plattform für seine Einheitssprache – er sollte jedoch der Einzige bleiben.55

Dieses ehrgeizige Ziel einer Einheitssprache wurde 1885 aus den Statuten der SSR entfernt, denn die Sprache hatte besonders in der Surselva und im Ober-engadin Widerstand erregt.56 Bühlers Gegenspieler Caspar Decurtins hatte wohl die sprachnationalen Vorstellungen geteilt, die Einheitssprache hingegen vehe-ment abgelehnt und zufrieden festgestellt, dass ihr kein Erfolg beschieden war.57 Auch Bühlers Lieder stiessen nicht auf Wohlwollen, wie der Komponist und Herausgeber Hans Erni 1933 rückblickend bemerkte: «Die Textsprache und der

Dieses ehrgeizige Ziel einer Einheitssprache wurde 1885 aus den Statuten der SSR entfernt, denn die Sprache hatte besonders in der Surselva und im Ober-engadin Widerstand erregt.56 Bühlers Gegenspieler Caspar Decurtins hatte wohl die sprachnationalen Vorstellungen geteilt, die Einheitssprache hingegen vehe-ment abgelehnt und zufrieden festgestellt, dass ihr kein Erfolg beschieden war.57 Auch Bühlers Lieder stiessen nicht auf Wohlwollen, wie der Komponist und Herausgeber Hans Erni 1933 rückblickend bemerkte: «Die Textsprache und der

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