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Ausgangslage und Forschungsstand

Im Dokument CHANTAI RUMANTSCH! (Seite 34-38)

Bis heute fehlt eine umfassende musikwissenschaftliche Untersuchung zur (Vokal-) Musik Romanischbündens, und ebenso fehlt eine Betrachtung des für Romanisch-bünden grundlegenden Zusammenspiels von Musik und kultureller Identität.

Einen ersten Blick auf dieses sehr aktuelle und relevante Thema «Musik und Identität» warf die Sprachwissenschaftlerin Bettina Vital 2012 in ihrer

135 S. Hall: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, hg. und übers. von Ulrich Mehlem, Göttingen 22000 (1994), S. 207.

136 Assmann, Kulturwissenschaft, 2011, S. 223.

137 Vgl. Coray, Sprachmythen, 2008, S. 5.

138 Ebd., S. 14.

139 Ina-Maria Greverus: Auf der Suche nach Heimat, München 1979, S. 64. (Vgl. zum aktuellen Diskurs und den neuesten Forschungsbeiträgen über «Heimat», «space» und «place» («spatial turn») Friederike Eigler: Critical Approaches to Heimat and the «Spatial Turn», in: New Ger-man Critique 39, 1/115, 2012, S. 29–39).

140 Hermann Bausinger: Auf dem Weg zu einem neuen, aktiven Heimatverständnis. Begriffsge-schichte als ProblemgeBegriffsge-schichte, in: Hans-Georg Wehling (Hg.): Heimat heute, Stuttgart et al.

1984, S. 15.

141 Bausinger/Köstlin, Heimat und Identität, 1980, S. 19 f.

142 Vgl. F. Eigler: Critical Approaches to Heimat and the «Spatial Turn», in: New German Critique 39, 1/115, 2012, S. 27–48.

atsarbeit über «La chanzun sco portadra d’identità» (Das Lied als Träger von Identität). In den Liedtexten ausgewählter «traditioneller» und zeitgenössischer chanzuns rumantschas untersuchte sie aus linguistisch-vergleichender Perspektive

«Indikatoren von Identität» und konnte dabei feststellen, dass die inhaltlichen Indikatoren des traditionellen Liedes, die stereotypen Motive, auch im zeitgenös-sischen Lied weiterlebten, wenn auch in aktualisierter und personalisierter Form.143 Fragen und Perspektiven von Identität finden in Graubünden allerdings auch in anderen Disziplinen noch (zu) wenig Beachtung. Randolph C. Head (2014), Rico Valär (2011), Renata Coray (2008), Barbla Etter (2005), Daniel Saluz (2000), Georg Jäger (1991) und Gion Deplazes (1991) haben in ihren Un-tersuchungen zu Fragen von Identitätskonstruktion im Zusammenhang mit der Sprache, Literatur, Geschichte, Kultur und Religion Romanischbündens aber bereits grundlegende (Vor-)Arbeiten geleistet und damit auch dieser Abhandlung wichtige Inputs geliefert.

Die erste und bisher einzige grössere musikwissenschaftliche Forschungs-arbeit leistete der deutsche Musikwissenschaftler Antoine-Elisée Cherbuliez (1888–1964) während seiner Tätigkeit als Musikdirektor in Chur und Arosa in den 1920er- bis 1940er-Jahren. In zahlreichen Beiträgen untersuchte Cherbuliez das Bündner Musikleben und brachte die Musik Romanischbündens auch mithilfe von Schweizer Tageszeitungen ins Gespräch (so in der NZZ vom 13. 2. 1938).

1931 verfasste Cherbuliez für das Schweizerische Jahrbuch für Musikwissenschaft auch eine Geschichte des Musiklebens in Graubünden, die als Ergänzung und Weiterführung der Angaben im «Historisch-Biographischen Musikerlexikon der Schweiz» (Refardt, 1928) konzipiert war und durch Aufarbeitung gedruckter wie auch unveröffentlichter und ungedruckter Quellen ein skizzenhaftes Gesamtbild der Grundströmungen und -bedingungen der Musikgeschichte schaffen sollte. Für die Historisch-Antiquarische Gesellschaft von Graubünden befasste sich Cher-buliez dann 1937 mit einem ersten bibliografischen Versuch zu den Quellen und Materialien der Musikgeschichte. Als Weiterführung der «Beiträge zur Geschichte der Musikpflege in Graubünden» (1931) gedacht, bildet dieser einen Grundstock der bibliografischen Erfassung von gedruckten Materialien mit Hinweisen auf handschriftliche Quellen und kann dadurch bis heute als Ausgangspunkt für die Erforschung der Musik in Graubünden dienen. Im selben Jahr veröffentlichte Cherbuliez auch eine erste historisch-musikwissenschaftliche Abhandlung über das Volkslied und die Volksliedforschung in Graubünden («Das Volkslied in Grau-bünden»). Den ersten musikwissenschaftlichen Beitrag über Otto Barblan (mit bibliografischen Verweisen) publizierte Cherbuliez 1945 im Bündner Jahrbuch.

Im Zusammenhang mit kultur-, religions- und sprachhistorischen Forschun-gen zu Romanischbünden stehen aber seit jeher auch einzelne Formen und Gat-tungen (besonders der Volks- und Chormusik) im Fokus der Wissenschaft. So befass(t)en sich in Darstellungen der Journalist Gian Bundi (1907/08) und die

143 Vgl. Vital, La chanzun, 2012, S. 96.

Theologen Markus Jenny (1962/64) und Hans-Peter Schreich-Stuppan (seit 1987) mit dem protestantischen Kirchengesang, der Benediktiner Pater Iso Müller fer-ner mit der geistlichen Musik der Surselva (1951–1962). Mit dem Volkslied und dem populären Liedgut setzten sich ausserdem der Sprachwissenschaftler Alexi Decurtins (1980/83), der Musiker Iso Albin (seit 2008) sowie die Ethnologen Cristian Collenberg (seit 1986) und Alfons Maissen (v. a. 1945) auseinander. Äus-serst zahlreich und beinahe unübersichtlich sind überdies die einzelnen Beiträge von Wissenschaftlern, Musik- und Medienschaffenden (u. a. Christian Albrecht, Gieri Venzin, Giusep Giuanin Decurtins) zu allen möglichen Musikformen und Inhalten, zu einzelnen Komponisten und Dirigenten, Chören und Sängern, in Periodika und Chroniken sowie in Radio- und Fernsehbeiträgen. Diese Beiträge bilden oft eine Schnittstelle zwischen Quelle und Darstellung und werden hier deshalb als zeitgenössische Schriften behandelt, die in einen bestimmten Kontext eingebettet sind. Von grosser Bedeutung ist auch die Erfahrung und das Wissen einzelner Exponenten der Musikkultur und der Medien, die aber mittels Gesprä-chen (Oral History) und schriftlichem Austausch erschlossen werden müssen.144 Nicht zuletzt erweist sich deshalb Radiotelevisiun Svizra Rumantscha (RTR) dank einer regen Förderung des aktuellen Musiklebens (mit Musikproduktionen), der Aufarbeitung und Ausstrahlung einzelner Bereiche und Genres der Musik (insbesondere Pop-, Chor- und Volksmusik) und eines umfangreichen Archivs als unerlässlich für die Erforschung der Musik Romanischbündens.

Ein gewichtiger Teil der musikalischen Quellen liegt in handschriftlicher und gedruckter Form im Staatsarchiv, in der Kantonsbibliothek Graubünden, auf der Online-Plattform www.e-rara.ch und in der Musikabteilung der Zent-ralbibliothek Zürich vor. Allerdings sind diese Quellen gar nicht oder nur un-zulänglich (musik)wissenschaftlich aufgearbeitet. Wie viele Quellen noch in den Chorarchiven und in den persönlichen Archiven der Musikschaffenden liegen, kann dabei nur erahnt werden. Ebenso werden schriftliche Quellen wie Vor-worte in Kirchengesangbüchern und Chorliedsammlungen, Gesangfestberichte und Kampfgerichtsentscheide, biografische Porträtierungen oder Erinnerungen von Musikschaffenden vorwiegend von musikalisch Interessierten aufgearbeitet, aber nur selten unter musikwissenschaftlichen Gesichtspunkten erforscht. Die Zusammenstellung und Herausgabe der einzelnen Werke und Nachlässe von Kom-ponisten ist überdies bis heute Aufgabe von Schülern, direkten Nachkommen und einzelnen (befreundeten) Musikschaffenden. Als Einzel- und Glücksfall für die musikwissenschaftliche Erforschung des Chorwesens muss aber die publizistische Tätigkeit des Komponisten und Dirigenten Hans Erni (1867–1961) betrachtet werden. Ernis Beiträge in verschiedenen Periodika und seine Erinnerungen sind bedeutende Zeugnisse zur Chorbewegung in Romanischbünden sowie zu seinem eigenen kompositorischen Schaffen.

144 Sofern nicht anders angegeben, wurden Zitate aus Quellen und Darstellungen in bündnerroma-nischer Sprache von der Verfasserin übersetzt.

In neuerer Zeit widmen sich nun aber auch Bündner Musikwissenschaftler wie Stephan Thomas, Thomas Gartmann oder Robert Grossmann in kleineren Beiträgen und Artikeln den bekannten Exponenten der Musik Romanischbündens, darunter besonders den (Chor-)Komponisten Armon und Robert Cantieni, Otto Barblan oder Gion Antoni und Gion Giusep Derungs. Thomas Gartmann und Stephan Thomas verfassten ebenso den Eintrag zu Gion Antoni Derungs für die Reihe «Komponisten der Gegenwart» (KdG, 1992) und für die MGG (22001).

Deren Chorwerke (bis 1984) sind auch in der «Bibliografia da la musica vocala retorumantscha (1661–1984)», der bisher einzigen bibliografischen Übersicht zur mehrstimmigen Vokalmusik Romanischbündens, erfasst. Die Edition Bündner Komponisten, ein Projekt der Pädagogischen Hochschule Graubünden (PHGR) und des Instituts für Kulturforschung Graubünden (ikg), möchte ausserdem auf der Online-Plattform www.buendnerkomponisten.ch auch unveröffentlichte Chorwerke von Bündner Komponisten, die nach wissenschaftlichen Kriterien (mit kritischem Text) erfasst werden, einer breiteren Öffentlichkeit mithilfe eines gebührenfreien Noten-Downloads bekannt machen.

Wird die musica rumantscha als vokale Musik verstanden, müssen hier auch noch einige Begriffe geklärt werden. In Romanischbünden wird (noch immer) kein musikwissenschaftlicher Diskurs gepflegt, und musikalische Fachwörter werden deshalb nicht überall und konsequent gleich verstanden beziehungsweise verwendet. So bezeichnet beispielsweise der Begriff «chanzun rumantscha» im Allgemeinen eine Vielzahl vokaler Gattungen und Formen aus verschiedenen Gen-res, die vom Volkslied über das volkstümliche Chorlied bis zum zeitgenössischen Autorenlied reichen. Eine terminologische Diskussion dazu blieb allerdings bis heute aus, weshalb hier nun ein erster Definitionsversuch gewagt werden muss.

Besonders schwierig wird dies bei der «chanzun populara», die umgangssprachlich und durchaus auch in wissenschaftlichen Kontexten145 ganz allgemein ein «Volks-lied» bezeichnet. Für gewöhnlich und je nach Zeit und Kontext wird darunter auch das «volkstümliche Lied (für Chor)», das «Lied im Volkston» oder ganz allgemein das «populäre Lied» verstanden. Zahlreiche Liederbücher und Tonträger mit «chanzuns popularas» enthalten deshalb sowohl Volkslieder, volkstümliche Lieder (für Chor) als auch populär gewordene Lieder unterschiedlicher Genres.

In dieser Abhandlung soll nun aber ausschliesslich ein in der Gesellschaft verbreitetes und beliebtes «populäres»146 Lied aus den verschiedenen Genres der Volks-, der Pop- und der Kunstmusik als «chanzun populara» verstanden werden.

Eine «chanzun populara moderna» ist in diesem Sinne ein «populäres Lied» aus dem Bereich der modernen Popmusik.147 Das mündlich tradierte, einstimmige Volkslied wird hingegen als «chanzun tradiziunala» (parallel zum «traditional

145 Vgl. Vital, La chanzun, 2012.

146 Vgl. zur Diskussion Wicke, Populäre Musik, 1992, S. 6–42.

147 Der Begriff Popmusik ersetzt dabei den in der deutschsprachigen Musikwissenschaft gebräuch-lichen, aber etwas veralteten Begriff der «Popularmusik» als Übersetzung von «popular music».

(Vgl. auch Kramarz, Pop-Musik, 2013, S. 46–51).

(folk) song» aus dem englischsprachigen Raum) bezeichnet. Damit können zwar weder Definitionsschwierigkeiten aufgehoben noch das Volkslied (wie in der neuesten Forschung) als «Mythos»148 dekonstruiert werden, dafür aber durchaus die kulturelle und identitäre Funktion und Rezeption eines Liedes deutlicher gemacht werden.

Schwierigkeiten mit komplexen Begriffen und Gegenständen wie «Volk»

und «Volkslied», im Zusammenhang mit den Attributen «alt», «authentisch» oder

«original», sind aber durchaus nicht hausgemacht, sondern überall anzutreffen, wo das Volk und das Volkstümliche eine national-kulturelle Bedeutung erhielt.

In einem für Romanischbünden einzigartigen Beitrag zur Problematik «Volks-lied» wies Cristian Collenberg 1990 darauf hin, dass die (Rezeptions-)Theorie der «gesunkenen Kulturgüter» in Romanischbünden nie diskutiert worden sei und dass «wir Liebhaber des Gesangs» noch immer die Herdersche Theorie der

«kollektiven Schöpfung» bevorzugten: «Wir tun so, wie wenn die Lieder, die wir singen, keinen bekannten Autor hätten. […] Und manchmal finden wir auch, dass gewisse Lieder mehr die Unsrigen seien als andere».149 Damit spielt Collenberg auf die kontinuierliche Einflussnahme und starke Wirkung der Heimatbewe-gung auf die gesamte Musikkultur Romanischbündens an. Und er benennt eine der zentralen Fragestellungen der vorliegenden Abhandlung, nämlich diejenige nach der effektiven Auswirkung solcher national-kultureller Bewegungen auf die musica rumantscha.

Im Dokument CHANTAI RUMANTSCH! (Seite 34-38)