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National-kulturelle Selbst(er)findung

Im Dokument CHANTAI RUMANTSCH! (Seite 23-34)

«Man ist in der Kunst wirklicher daheim, als in jedem anderen Land», hielt der Schweizer Schriftsteller Jürg Amann einst in seinem Reisetagebuch fest, nachdem er in einem Hotelzimmer in Manchester Wolfgang Amadeus Mozarts «Haffner- Sinfonie» gehört und sich «sofort zu Hause» gefühlt hatte.49 Nirgends sonst als in der Kunst – und besonders in der Musik – schien Amann, der um die ganze Welt gereist war, also eine wirkliche «Heimat» gefunden zu haben. Die Suche nach Heimat und Geborgenheit wurde so gleichfalls zur Suche nach seiner (musik) kulturellen Identität.

2.1 Musik und kulturelle Identität

Kulturen, so schreibt die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, stellen «Iden-titätsofferten» dar und sie ermöglichen den Individuen, «sich als Zugehörige einer bestimmten Gruppe zu fühlen und dies auch nach aussen hin erkennbar werden zu lassen».50 Dieses Zugehörigkeitsgefühl eines Individuums oder einer Gruppe

49 J. Amann: Kein Weg nach Rom. Reisebuch, Düsseldorf 2001, S. 10. Mozart komponierte seine 35. Sinfonie in D-Dur KV 385 (1782) im Auftrag des Salzburger Bürgermeistersohns Sigmund Haffner.

50 Assmann, Kulturwissenschaft, 2011, S. 221. Die Soziologen B. Giesen und S. Eisenstadt defi-nierten vier Gruppen von Codes zur Bildung kultureller Gruppenidentitäten: naturbezogene, traditionsbezogene/mythische, religiöse/transzendentale, alltägliche (soziale/kulturelle), wäh-rend G. Delanty diese durch eine fünfte diskursive ergänzte, worin die Identitätskonstruktion reflektiert wird. (Vgl. S. N. Eisenstadt/B. Giesen: The Construction of Collective Identity, in:

Archives européennes e sociologie 36, 1995, S. 72–102 und G. Delanty: Inventing Europe. Idea, Identity, Reality, London 1995).

zu einem kulturellen Kollektiv sowie die Abgrenzung («Othering»)51 zu anderen Kollektiven stiftet also die kulturelle und kollektive Identität beziehungsweise die Gruppenidentität. Und mit einem «sachlichen Konsens in Wertvorstellungen und Verhaltensnormen, in gemeinsamen Handlungsintentionen und Zielen» erhält diese Gruppenidentität auch einen «Bezugsanker».52

Musik ist als wesentlicher Bestandteil und Ausdruck von Kultur seit jeher an den Prozessen der kulturellen Identitätsbildung beteiligt: Sie kann «serve as a lens through which the identity of an individual or group may be viewed».53 Eine Identität in Musik wird dabei durch das musikalische Material und das gemeinsame ästhetische Urteil wie ebenso durch kulturelle Aktivitäten und ei-nen musikalischen Kontext, das heisst durch den Umgang der Gesellschaft mit der Musik und die Funktionen der Musik für die Gesellschaft, hergestellt.54 Zur Herausbildung von Gruppenidentitäten kann Musik aber auch beitragen, indem sie eine sprachlich und performativ konstruierte Vergangenheit vergegenwärtigt.55 So bildet und fördert gerade das gemeinsame Singen von populären Liedern als soziale Handlung und Kommunikation ein Zusammengehörigkeitsgefühl und ein

«Wir-Bewusstsein» innerhalb eines Kollektivs. Die Musikethnologin Kay Kauf-man Shelemay bezeichnet ein solches Kollektiv, das durch soziale, symbolische und musikalische Prozesse und Interpretationen konstruiert und erhalten wird sowie gleichzeitig den Zuhörern und den Ausführenden ein Bewusstsein für die Gruppenidentität gibt, als «musical community».56

Die Stiftung von kultureller Gruppenidentität ist ebenso mit der Bildung und Pflege eines kollektiven Gedächtnisses, das aus der sozialen Kommunikation innerhalb von sozialen Kleingruppen und auch Grossgruppen wie Nationen, Ethnien und Staaten entsteht, eng verbunden.57 Mithilfe «symbolischer Medien», also Erzählungen (wie Ursprungsmythen), Symbolen und Ritualen, sowie

51 «Othering» bezeichnet die Abgrenzung, Distanzierung oder Differenzierung des Ichs/einer Gruppe von anderen Individuen/Gruppen. (Vgl. Julia Reuter: Ordnungen des Anderen. Zum Problem des Eigenen in der Soziologie des Fremden, Bielefeld 2002).

52 Vgl. Mauerhofer, Sing- und Musiziergruppen, 1988, S. 19 f.

53 Kartomi, New Directions, 2012, S. 77.

54 Vgl. A. von Massow/W. Auhagen: Kultur und Identität. Einführung, in: Altenburg/Bayreuther, Musik und kulturelle Identität, 2012, S. 46 und Frith, Musik und Identität, 1999, S. 154.

55 Vgl. Celestini, Musik und kollektive Identitäten, 2013, S. 334.

56 Kaufman Shelemay, Musical Communities, S. 357–359. Kaufman verweist auf die für die Mu-sikethnologie grundlegenden Quellen zur Erforschung musikalischer Kollektive, namentlich auf Benedict Andersons Theorie der «imagined communities» (1983), Anthony P. Cohens Verständnis von «community» als «mental construct» und «mode of experience» sowie Hobsbawms/Rangers Definition von «invented traditions» als «set of practices, normally governed by overtly or tacitly accepted rules and of a ritual or symbolic nature, which seek to inculcate certain values and norms of behaviour by repetition, which automatically implies continuity with the past».

57 Vgl. Celestini, Musik und kollektive Identitäten, 2013, S. 324 und Assmann, Kulturwissen-schaft, 2011, S. 189. Der Pionier der sozialen Gedächtnisforschung, Maurice Halbwachs, führte den Begriff 1925 ein. Er erforschte Formen des sozialen Gruppengedächtnisses, das in kommu-nikativen Prozessen (Erzählen, Aufnehmen und Aneignen von Erinnerungen) gebildet, durch kommunikativen Austausch gefestigt wird und den kommunikativen und emotionalen Kitt

bindlicher Bezugspunkte aus der kulturellen Überlieferung – besonders «inveni-ted traditions»58 –, konstruieren sich diese Gruppen ein kollektives Gedächtnis und eine gemeinsame Wir-Identität.59 Symbole und Mythen als Ausdruck dieser Identität funktionieren dabei nach aussen wie nach innen, sie kommunizieren den

«tatsächlichen oder imaginierten Geltungsbereich eines Kollektivs»60 nach aussen und beeinflussen das Verhalten des Kollektivs nach innen. In dieser (diskursiven) Identitätskonstruktion spielt die Sprache eine wesentliche Rolle, denn sie stellt den Link zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Individuum und Gemeinschaft her, schafft das kulturelle Bewusstsein eines Kollektivs über sprachlich tradierte Kulturgüter und ist als ererbtes und erlerntes Gut (besonders als Erstsprache) mit positiven Gefühlen besetzt.61 Sprache ist also das Fundament des kulturel-len Gedächtnisses.62 Zur Festigung einer kollektiven Identität kann die Sprache allerdings auch konstruiert und politisch instrumentalisiert werden, also in der Sprach- beziehungsweise Identitätspolitik eines Staates, einer Gesellschaft oder intellektuellen Elite dienstbar gemacht werden.63

Obwohl eine kollektive Identität viel schwerer zu fassen und einzugrenzen ist als eine individuelle oder personale, scheint die Frage «Wer sind wir?» heute also viel wichtiger zu sein als die Frage «Wer bin ich?».64 Diese letztere gehört in den Bereich der Individualpsychologie,65 in der die personale oder individuelle Identität die innere Einheit und Nämlichkeit, das Selbst einer Person bezeichnet.

Und diese Identität wird durch Selbsterforschung, Selbsterkenntnis und Selbst-inszenierung von innen wahrgenommen und hervorgebracht, durch Inklusion von sozialen Werten und Verhaltensnormen sowie durch Exklusion von «vorfor-mulierten sozialen Rollen», das heisst durch die Bekräftigung der individuellen Einzigartigkeit, hergestellt.66 Eine Künstleridentität kann also sowohl aus der

einer Gruppe bildet. Jan Assmann unterscheidet dabei zwischen kommunikativem und kultu-rellem Gedächtnis oder Alltags- und Festgedächtnis, zu dem auch Mythen gehören.

58 «‹Invented tradition› is taken to mean a set of practices, normally governed by overtly or ta-citly accepted rules and of a ritual or symbolic nature, which seek to inculcate certain values and norms of behaviour by repetition, which automatically implies continuity with the past.»

(Hobsbawm/Ranger, Invention of Tradition, 2012, S. 1).

59 Vgl. Assmann, Kulturwissenschaft, 2011, S. 189 und Boisits, Musik und Revolution, 2013, S. 13–21.

60 Boisits, Musik und Revolution, 2013, S. 14.

61 Vgl. Vital, La chanzun, 2012, S. 20 und Iwersen, Musik und kulturelle Identität, 2012, S. 5 f.

62 Vgl. Celestini, Musik und kollektive Identitäten, 2013, S. 329.

63 Vgl. Coray, Sprachmythen, 2008, S. 7–10. (Vgl. zu den erwähnten Dimensionen der Sprache Joshua A. Fishman: Language and Ethnicity, in: Howard Giles (Hg.): Language, Ethnicity and Intergroup Relations, London 1977, S. 15–57 (European Monographs in Social Psychology 13).

64 Vgl. Assmann, Kulturwissenschaft, 2011, S. 221–224.

65 Der Psychoanalytiker E. H. Erikson bestimmt in seiner «Ich-Identitäs-Theorie» acht psycho- soziale Krisen mit spezifischen Aufgaben, die der Mensch bewältigen muss. Die Bildung der Ich-Identität gründet dabei auf dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, der Begriff

«Identität» drückt diese Beziehung zwischen «Sich-Selbst-Gleichsein» und der Teilhabe an gruppenspezifischen Merkmalen aus. (Vgl. Peter Dürrmann: Heimat und Identität, Tübingen/

Zürich/Paris 1994, S. 60–67).

66 Vgl. Coray, Sprachmythen, 2008, S. 4 und Assmann, Kulturwissenschaft, 2011, S. 207–221.

Einhaltung als auch aus der individuellen Weiterentwicklung (herkömmlicher) musikalischer Normen entstehen und ebenso können Vorbilder (Lehrer) für die individuelle musikalische Identitätskonstruktion zentral sein.67

Kulturelle Identität im (musik)wissenschaftlichen Diskurs

Der Begriff der Identität bleibt trotz zahlreicher Definitionsversuche, dabei gefördert durch eine «alltagssprachliche Konjunktur»68 des Wortes sowie einen fehlenden Konsens über die Sache selbst, in der wissenschaftlichen Diskussion bis heute unpräzise69 und allgemein – von einem «Plastikwort» sprach schon 1988 der Sprachwissenschaftler Uwe Pörksen.70 Der Historiker Philip Gleason bemerkte ebenso, dass «there has been no clamor for clarification of the term.

But if pinned down, most of us would find it difficult to explain just what we do mean by identity.»71 Trotz anhaltender methodischer und definitorischer Probleme mit der Kategorie und dem Konzept «Identität» erweist sich die Frage nach den

«konstituierenden Elementen und Funktionsweisen kollektiver Identität» für viele Disziplinen aber als «ausserordentlich fruchtbar».72

Identität wird seit den 1960er-Jahren, mit der zunehmenden Individualisie-rung der Gesellschaft und besonders im Zusammenhang mit dem Linguistic Turn,73 nicht (mehr) als eine in der «sozialen Realität» empirisch vorfindbare Grösse verstanden, sondern vielmehr als diskursive Konstruktion, die sich in sozialen Prozessen von Ein- und Ausschluss (Inklusion und Exklusion) ausbildet und verschiedene Funktionen einnehmen kann.74 «Identität ist keine Sache, sondern ein Prozess»,75 bei dem das Selbst oder Eigene durch die Differenz zum (realen oder vorgestellten) Anderen diskursiv konstruiert wird. Aus sozialkonstruktivistischer Perspektive werden dabei jegliche Äusserungen verschiedenster Art, sprachliche wie nichtsprachliche, also «alle Bedeutung tragenden Praxen»,76 als diskursiv

67 Vgl. Kartomi, New Directions, 2012, S. 78.

68 Coray, Sprachmythen, 2008, S. 5.

69 Vgl. Mauerhofer, Sing- und Musiziergruppen, 1988, S. 20: «Begriffen wie Identifikation und Identität haftet der Makel des Unpräzisen an, weder über Extension noch über Intension ihrer Bedeutung besteht Klarheit.»

70 Vgl. Uwe Pörksen: Plastikwörter. Die Sprache einer internationalen Diktatur, Stuttgart 1988.

71 Philip Gleason: Identifying Identity. A Semantic History, in: The Journal of American History, 69/4, 1983, S. 910.

72 Altenburg/Bayreuther, 2012, S. XI.

73 Der Philosoph R. Rorty bezeichnete 1967 mit diesem Begriff die verstärkte Diskussion um die sprachliche Verfasstheit der Welt. 1966 waren drei Schriften der wichtigsten Poststrukturalisten M. Foucault, J. Lacan und J. Derrida erschienen, die sich mit der Frage um Sprache, Diskurs und «diskursunabhängige Seinswahrheiten» auseinandersetzten. (Vgl. Coray, Sprachmythen, 2008, S. 19 f).

74 Vgl. dazu Assmann, Kulturwissenschaft, 2011, S. 207–224, Heinz Abels: Identität, Wiesbaden 2006, S. 241–254, Marchart, Cultural Studies, 2008, S. 179, Coray, Sprachmythen, 2008, S. 4–18 (vgl. bei Coray, 2008, S. 5, FN 4 auch die neuere Literatur zu diesem Thema). Die These der (individuellen) Identitätsbildung durch soziale Prozesse geht auf den Sozialphilosophen G. H.

Mead und den Psychoanalytiker E. H. Erikson zurück.

75 Frith, Musik und Identität, 1999, S. 153.

76 Marchart, Cultural Studies, 2008, S. 179.

verstanden, denn sie erschaffen, bestätigen und festigen gemeinsam das Selbst- und das Weltbild des Individuums und der Gesellschaft. Kollektive Identitäten (Gruppenidentitäten) sind in diesem Sinne also auch «Diskursformationen»,77 die durch Symbolsysteme und Wertorientierungen hergestellt werden. Neuere Identitätskonzepte gehen folglich davon aus, dass Identität ein «dynamisches, prozessuales, wandelbares, beeinflussbares und situationsabhängiges Konstrukt»78 darstellt. Auch eine musikalische Identität wird also je nach Situation «immer wieder neu in der Produktion und Rezeption von Musik und in Diskursen über Musik konstituiert.»79

In der seit den 1980er-Jahren intensiv betriebenen und durch den Cultural Turn80 in den 1990er-Jahren noch verstärkten wissenschaftlichen Diskussion um kulturelle und kollektive Identität (in den Geschichts-, Sozial- und Kulturwis-senschaften, in der Ethnologie und Anthropologie) spielte die Musik allerdings lange Zeit nur eine marginale Rolle – sie geriet, gemäss Detlef Altenburg, nicht

«in den Fokus der Betrachtung».81 Während die Historische Musikwissenschaft dieses Interesse der Nachbardisziplinen nun ebenso wenig beachtete, nahmen sich die Musikethnologie82 und Musiksoziologie sowie die New Musicologies bald der – im Angesicht fortschreitender Globalisierung immer drängenderen – Frage nach der Bedeutung der Musik für die individuelle und kulturelle Identität und ihrer Rolle in «creating, constructing, articulating, negotiating, and reflecting social identities»83 an. Heute zählt die «Lokalisierung und Globalisierung» oder die «Einheimische Kultur und Diaspora» zu den wesentlichen Fragen und The-men der postmodernen kulturellen Identität in musikethnologischer Perspekti-ve.84 «It is therefore necessary to think beyond questions of individual, group

77 Assmann, Kulturwissenschaften, 2011, S. 221.

78 Vgl. Coray, Sprachmythen, 2008, S. 6.

79 Vogels/Jäger, Musikalische Identität, 2012, S. 135.

80 «Cultural Turn» steht für die Bemühung der Sozial- und Geisteswissenschaften, den älteren Begriff der (Hoch-)Kultur durch einen anthropologischen Kulturbegriff zu ersetzen, der die gesamten menschlichen Arbeits- und Lebensformen umfasst. Vgl. David Chaney: The Cul-tural Turn. Scene-setting Essays on Contemporary CulCul-tural History, London/NY 1994. Vgl.

zur Kritik am Cultural Turn als Paradigmenwechsel Marchart, Cultural Studies, 2008, S. 17–26 sowie Bassam Tibi: Weltmusik und Weltpolitik im Zeitalter des Cultural Turn, in: Altenburg/

Bayreuther, Musik und kulturelle Identität, 2012, S. 15–31.

81 Vgl. Altenburg: Vorwort, in: Altenburg/Bayreuther, Musik und kulturelle Identität, 2012, S. XI.

82 Vgl. Iwersen, Musik und kulturelle Identität, 2012, S. 1–9.

83 Timothy Rice: Reflections on Music and Identity in Ethnomusicology, in: Musicology 7, 2007, S. 17–38 (hier 35). Vgl. auch Stokes, Ethnicity, Identity and Music, 1994. In seinen «Reflections on Music and Identity» kritisiert der Musikethnologe Timothy Rice die fehlende Auseinander-setzung mit dem Identitätsbegriff sowie das mangelnde Interesse seines Faches an der Bildung eines Korpus, «that connects with the larger literature on identity and works out the potentially fascinating cross-cultural theoretical implications […]». (S. 37).

84 Vgl. Philip V. Bohlman: Verdrängung, Vertreibung, Verstummen, in: Altenburg/Bayreuther, Musik und kulturelle Identität, 2012, S. 52.

and national identity and to conceive of complexes of music-cultural identity»,85 schreibt Margaret Kartomi.

Die wissenschaftliche Untersuchung der Frage nach den Auswirkungen der Globalisierung auf die Musikkultur und die musikkulturelle Identität gehört aber genauso zu den «dringenden Desideraten» der (Historischen) Musikwissenschaft.

Auch die Popularmusik der Gegenwart, die von Detlef Altenburg mit dem Ar-beitsgegenstand eines Pathologen – den dieser ja nicht lieben muss – verglichen wird, sollte dabei ins Zentrum des «transdisziplinären Dialogs» rücken, da sie die «Kultur von und für Millionen» darstellt und die Frage nach der Bedeutung der neuen (sozialen) Massenmedien für die Musikproduktion und Musikrezep-tion ins Zentrum rückt.86 Bei diesen Fragen nach musikkultureller Identität gelte es, so Raimund Vogels und Ralf Martin Jäger, die lokale Musikkultur in einem translokalen und transnationalen Kontext zu betrachten, denn «als Konsequenz der auch auf musikalischer Ebene zunehmenden Globalisierung […] finden auch die Prozesse musikalischer Identitätsbildung verstärkt in einem sich immer weiter öffnenden Spannungsfeld zwischen Lokalität und Globalität, Gegenwart und Ver-gangenheit statt».87 So verändert die Migration sowohl die neue wie die heimatliche Musikkultur, während die internationale Tonträgerindustrie gleichzeitig neue lokale Märkte generiert, gerade «weil Hörer und internationaler Musikstar schier unüberbrückbar voneinander getrennt» stehen.88 Die kulturelle Globalisierung schafft also geradezu einen Gegendruck und «führt zur betonten Rückbesinnung auf lokale, regionale und nationale Traditionen».89 Helmut Rösing versteht den heute verstärkt geführten Identitätsdiskurs deshalb als Reaktion auf die Bedro-hung kultureller Traditionen, als «Sorge um den Verlust der nahen Lebenswelt»

durch internationale kulturelle Standards.

Auch in der zeitgenössischen Schweizer Musikszene ist ein wieder erwachtes Interesse am «kulturell Eigenen» festzumachen, wenn sie sich angesichts von Globalisierung verstärkt mit Fragen national-und musikkultureller Identität, mit einem «Schweizer Klang», «tönender Swissness» oder «Schweizer Tönen»

auseinandersetzt.90 Dabei geht es insbesondere um den «Klangraum der Alpen», der von zeitgenössischen Musikern «zurückerobert» werden möchte.91 Die Neue Volksmusik(szene) widmet sich ihrerseits in zahlreichen Projekten und Festivals (wieder) dem «Klang des ‹Volks›», den traditionellen volksmusikalischen Reper-toires, Instrumenten und Spieltechniken sowie der «Idee einer ‹Volksmusik›».92

85 Kartomi, New Directions, 2012, S. 78.

86 Vgl. Altenburg: Vorwort, in: Altenburg/Bayreuther, Musik und kulturelle Identität, 2012, S. XIII. Vgl. auch Stefan Weinacht/Helmut Scherer (Hgg): Wissenschaftliche Perspektiven auf Musik und Medien, Wiesbaden 2008.

87 Vogels/Jäger, Musikalische Identität, 2012, S. 135.

88 Vgl. Vogels/Jäger, Musikalische Identität, 2012, S. 137.

89 Rösing, Populäre Musik, 2002, S. 21.

90 Oehme-Jüngling, Klang und (trans)nationale Identität, 2014, S. 19 f.

91 Frauchiger, Wie tönt Identität, 2000, S. 24.

92 Oehme-Jüngling, Klang und (trans)nationale Identität, 2014, S. 7.

Eine musikalische Identität der Schweiz – und dazu gehört auch Romanischbün-den – könnte heute also in einer Haltung, die sich dem freien Umgang mit dem Eigenen – also ebenso mit den Volkstraditionen – in einem globalen Kontext zuwendet, festgemacht werden.93

2.2 Die «Konstruktion des Nationalen» im wissenschaftlichen Diskurs Die kulturelle Gegenbewegung zur Globalisierung setzt sich heute verstärkt mit dem «kulturell Eigenen», mit regionalen und nationalen Eigenheiten im aktuel-len «Kontext der Erlebnis- und Konsumgesellschaft» auseinander.94 Wie Helmut Loos und Stefan Keym 2004 feststellen konnten, ist die «Rolle des nationalen Denkens» auch in der Musikwissenschaft ein zwar erst entdecktes, aber sehr aktuelles Thema.95 Die seit 1989 «aufgebrochenen Nationalgefühle» (Helga de la Motte-Haber, 1991) in Ost- und Zentraleuropa haben auch hier eine grund-sätzliche Verständigung über Fragen national-kultureller Identität, also auch zur Bedeutung und Funktion nationaler Musik, notwendig werden lassen.96 Einen Grund für diese «Intensivierung der Diskussion über das Nationale» in der Musik (und ausserhalb) kann also in der «umwälzenden politischen Realität» in Europa seit dem Mauerfall gefunden werden.97 Der musikwissenschaftliche Blick richtet sich seither verstärkt nach Mittel- und Osteuropa; der ethnomusikalische dabei vorwiegend zu den dortigen sprachlich-ethnischen Minderheiten.98

Die in vielen Darstellungen thematisierte «(musikalische) Konstruktion des Nationalen» ist Teil des kulturwissenschaftlichen Diskurses der aktuellen Musikwissenschaft, der das Verhältnis von Musik (als kultureller Praktik) und Identität im Sinne der postmodernen Kulturtheorie in den Fokus rückt.99 Das Interesse gilt dabei dem – methodisch und inhaltlich schwer fassbaren – «natio-nalism in music», dem Nationalen in der Musik als Substanz- und besonders als Funktionsbegriff.100 In dieser funktionalen Perspektive ist die Musik als «Trägerin von nationalem Material, Symbolen und Stereotypen»101 ein essenzielles Mittel zur Konstruktion und Repräsentation nationaler Identität.102 «Music reflects the

93 Frauchiger, Wie tönt Identität, 2000, S. 25 f.

94 Oehme-Jüngling, Klang und (trans)nationale Identität, 2014, S. 20.

95 Loos/Keym, Nationale Musik, 2004, S. 1–6 (hier S. 2).

96 Vgl. für einen kurzen Überblick White/Murphy, Musical Constructions, 2001, S. 7–10.

97 Sedak, Nationale Musik, 2004, S. 10.

98 Vgl. Hemetek, Echo der Vielfalt, 1996.

99 Eine Übersicht bis 2004 bietet Bohlman, Music of European Nationalism, 2004. Vgl. ferner Küsgens, Horizonte nationaler Musik, 2012; Noa, Volkstümlichkeit und Nationbuilding, 2013.

100 Vgl. Sedak, Nationale Musik, 2004, S. 13 f. Diese Perspektive gründet im Wesentlichen auf C.

Dahlhaus’ Feststellung, dass das «Nationale» in der Musik nicht werkimmanent nachgewie-sen oder gar als «ethnische Substanz» verstanden, sondern in seiner geschichtlichen Funktion begriffen werden muss. (Vgl. C. Dahlhaus: Nationalismus und Universalität, in: HbMuWi 6, 1980, S. 32).

101 Sedak, Nationale Musik, 2004, S. 18.

102 Vgl. Nils Grosch: Das «Vaterländische Lied» als Konstrukteur nationaler Identität im frühen

image of the nation so that those living in the nation recognize themselves in basic but crucial ways»,103 schreibt der Musikethnologe Philip Bohlman. Fragen nach der Rezeption, der (öffentlichen) Wahrnehmung und Beurteilung der Musik als

«national»,104 nicht ihre Konzeption als solche, stehen also aktuell im Zentrum.105

«Nationality, since it is not a thing, an essence, or a condition, cannot be found in music […]. Rather, since nationality is an idea, it can truly only be found in the ideas about music.»106 Folglich ist sich die Musikwissenschaft heute einig, dass werkimmanente Analysen keine «Nachweise» einer nationalen Musik erbringen können und dass ebenso nationale Stile «mehr Wertungen denn Beschreibungen»

der musikalischen Substanz darstellen.107

«Nation» und «nationale Identität» im wissenschaftlichen Diskurs

Dass die Nationalität (und ebenso die Nation) kein «Ding an sich», keine Essenz oder Kondition, sondern vielmehr eine Idee ist, verweist dabei auf die konstruktivistischen Nationalismustheorien, die besonders (im englischsprachi-gen Raum) von Benedict Anderson, Eric Hobsbawm und Ernest Gellner in den 1980er-Jahren postuliert wurden. Dekonstruiert wurde dabei die Vorstellung der seit dem 19. Jahrhundert bedeutendsten politischen Legitimationsinstanz «Na-tion» als natürliche Ordnung sowie die essenzialistische Vorstellung nationaler Gemeinschaft. «Eine Nation […] ist eine Gruppe von Menschen, die durch ei-nen gemeinsamen Irrtum hinsichtlich ihrer Abstammung und eine gemeinsame Abneigung gegen ihre Nachbarn geeint ist»,108 lautet eine bekannte (dekonstruk-tivistische) Definition des Politikwissenschaftlers und Nationalismusexperten Karl W. Deutsch.

Nationen sind aus dieser Perspektive vielmehr «vorgestellte politische Ge-meinschaften»,109 also «kulturell definierte Vorstellungen, die eine Vielzahl von Menschen aufgrund angeblich gemeinsamer Eigenschaften als eine Einheit be-stimmen».110 Ebenso gilt die Idee der modernen Nation nicht nur als politisches,

19. Jahrhundert, in: Föllmi/Grosch/Schneider, Music and the Construction of National Identi-ties, 2010, S. 37–48.

103 Bohlman, Music of European Nationalism, 2004, S. 82.

104 Der Unterschied zwischen «nationaler Musik» und «Nationalmusik» in der deutschen Spra-che liegt gemäss Rüdiger Ritter in der Verwendung nationaler Stilmittel (z. B. Volksliedern) im Gegensatz zur Schaffung einer eigenständigen, als national wahrgenommenen Musiktradition zuhanden von Nationsbildung. (Vgl. R. Ritter: Neuer Wein in alten Schläuchen. Gedanken zu den Konzepten «Nationalmusik» und «nationale Musik» am Beispiel des Komponisten

104 Der Unterschied zwischen «nationaler Musik» und «Nationalmusik» in der deutschen Spra-che liegt gemäss Rüdiger Ritter in der Verwendung nationaler Stilmittel (z. B. Volksliedern) im Gegensatz zur Schaffung einer eigenständigen, als national wahrgenommenen Musiktradition zuhanden von Nationsbildung. (Vgl. R. Ritter: Neuer Wein in alten Schläuchen. Gedanken zu den Konzepten «Nationalmusik» und «nationale Musik» am Beispiel des Komponisten

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