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8 „Lernlandschaften entwerfen“

8.3 Voraussetzungen für Lernlandschaft

Ein Modell für eine andere Schule ist die von uns zu Beginn der 1990er Jahre geplante multikulturelle Evangelische Gesamtschule in Gelsenkirchen. Die-se verfügt über großzügige, lichtdurchflutete, teilweiDie-se auch zweigeschossige Räume und ist innen wie außen von viel Holz und Glas sowie Wasser und Pflanzen geprägt. Es gibt mehrere Personen, die, nachdem sie bereits das ganze Gebäude durchquert hatten, sich am rückwärtigen Ausgang nach dem Weg zur Evangelischen Gesamtschule erkundigt haben. Sie hatten die Schule aufgrund ihres andersartigen Erscheinungsbildes überhaupt nicht als solche wahrge-nommen, was eigentlich das größte Kompliment darstellt.

8.3.1 Flexibilisierung der Schulräume

Schulhäuser mit langen Fluren und aneinandergereihten Zimmern werden lei-der immer noch als Regelfall gebaut und zementieren damit einen konventio-nellen Schulbetrieb. Für einen zukunftsfähigen Unterricht braucht man jedoch zunächst einmal Raumstrukturen mit unterschiedlich großen und kleinen Räu-men, in denen drei bis vier Klassen zusammen eine Einheit, einen Cluster

bil-den. Diese Schulen sollen über vielfältig nutzbare Verbindungswege verfügen, die nicht gleichzeitig Fluchtwege sein dürfen – Rettungswege können statt-dessen außen, über die Fassade vorgesehen werden. Dann gibt es unzählige Möglichkeiten, die Klassenräume zu differenzieren: Gibt es etwa eine Galerie, einen Erker, eine Küchenzeile, einen Garten oder nicht? Wichtig ist auch die Loslösung von der Tafel hin zu wesentlich flexibleren Möbelsystemen. Flexib-le Klassenzimmer können beispielsweise mit Dreieckstische ausgestattet sein, die sich erst gar nicht reihen lassen, sondern zu freien Kombinationen anre-gen: Tische für einen, vier oder sechs Schüler. Hinzu kommen flexible Wände oder bewegliche Tafelsysteme, an denen Projektarbeiten und Ausstellungen präsentiert und diskutiert werden. Außerdem gibt es Ausstellungsbereiche und verschieden gestaltete Treffpunkte für unterschiedlich viele Schülerinnen und Schüler, gemeinsames Essen, gemeinsames Lernen, Einzel- und Gruppenar-beit.

8.3.2 Orientierung an Nutzerbedürfnissen

Für die Architekten heißt dies, dass sie ihre Energie und Kreativität darauf ausrichten sollten, Lernlandschaften zu entwerfen, in denen nicht immer die Zwänge des Tragwerks, des Brandschutzes, der Akustik, der Ästhetik, der Be-lichtung oder der Belüftung im Vordergrund stehen. Vielmehr gilt es, die Tren-nung von Verkehrs- und Nutzflächen aufzuheben und stattdessen völlig frei nutzbare Bereiche zu schaffen. Vor allem aus Brandschutzgründen kommt es bei uns in Deutschland aber nur selten zur Realisierung solcher Bereiche. Doch selbst, wenn diese nur mit kostenintensiven Sprinkleranlagen möglich wären, sollten sie mit Blick auf einen möglichen Gewinn und langfristigen Nutzen den Aufwand lohnen.

Vitale Lernorte solcher Art lassen sich grundsätzlich überall, also auch in Altbauten, einrichten. Bei der Modernisierung von Bestandsgebäuden sollte es aber freilich nicht bei der reinen Sanierung der Fassaden, Fenster und Türen bleiben. Viel wichtiger wären innovative Umbauten hin zu neuen Raumstruk-turen, die unterschiedliche Unterrichtsmodelle fördern. Die monotonen Reihen aus identischen Klassenzimmern sollten aufgebrochen werden. Ein praktisches Beispiel: Statt drei klassisch aneinandergereihten Unterrichtsräumen könnte der mittlere Raum durch Abbruch der Flurtrennwand aufgelöst und zusammen mit den Fluren als Differenzierungsbereich und Präsentationsfläche genutzt werden. Das funktioniert nur, wenn die Fluchtwege nach außen zu verlegt und die Flure frei nutzbar werden. Dadurch wird es gelingen, Schulen mit dunklen, langen Fluren in lebendige Lernumgebungen zu verwandeln.

8.3.3 Partizipation

Die Beteiligung der Nutzer spielt immer eine große Rolle. Wir haben sehr viele Projekte in Partizipation realisiert und stellen immer wieder fest, dass Bauen ein zutiefst sozialer Prozess ist. Also muss man als Architekt seinen Selbstverwirklichungsdrang beiseiteschieben und diejenigen ernst nehmen und auch zu Wort kommen lassen, die diese Räume beleben und sich nachher dort wohl fühlen sollen. Innerhalb ganz kurzer Zeit passiert dabei etwas sehr Faszinierendes: Es entwickelt sich eine Vertrauenssituation, die ein vollkom-men anderes Verhältnis zwischen Nutzer und Architekt entstehen lässt. Viel wert ist auch allein schon die Tatsache, dass die Betroffenen die Komplexität und Schwierigkeit der Bauaufgabe begreifen und so erkennen, dass es immer viele Lösungen gibt, aus denen man eine „gute“ herausfiltern muss. Auf diese Weise entstehen „kundige Bauherren“, die eine intensive Beziehung zu ihrem Gebäude aufbauen.

Die beteiligten Nutzer identifizieren sich so mit den Gebäuden, wertschät-zen sie und gehen pfleglich mit ihnen um. Das Überraschende ist, dass Gebäu-de diese Stimmung auch auf Menschen übertragen, die mit Gebäu-dem Bauprozess überhaupt nichts zu tun hatten. Von einer solchen „sprechenden“ Architektur fühlen sich die Menschen einfach angerührt – selbst wenn sie über dessen Ent-stehungsgeschichte nicht Bescheid wissen. Vandalismus oder Graffiti gibt es an solchen Schulen so gut wie nicht.

Erstaunlich ist, dass sich all die flexiblen und differenzierten Raumstruktu-ren, Marktplätze und Rückzugsbereiche, die letztlich zu Lernorten der Zukunft führen, auch für öffentliche Bauherren als finanzierbar erweisen und nicht ein exklusives Modell für private Institutionen sind. Die Budgets privater Einrich-tungen sind oft sogar noch kleiner als bei öffentlichen. Hinzu kommt, dass sich aufwändige Planungen meistens gar nicht in den tatsächlichen Baukosten niederschlagen, weil die Gewerke in der Regel nicht nach ihrer Form, son-dern nach den Maßen angeboten und abgerechnet werden. Dadurch kostet ein schiefwinkliger Bau nicht mehr als ein rechteckiger. Die alles entscheidende Frage ist, mit wie viel Kreativität die Architekten nach neuen Lösungen zu suchen bereit sind.