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Vorüberlegungen zur Analyse der Geschichte3.1

Im Dokument "Wir schützen unseren Park". (Seite 83-98)

the landscape is constituted as an endur-ing record of – and testimony to – the lives and works of past generations who have dwelt within it, and in so doing, have left there something of themselves (Ingold 1993: 152).

In den von mir beobachteten Aushandlungsprozessen und Interaktionen, die im Kapitel 5 eingehend beschrieben werden, nutzen die Akteure in ihren Argumenta-tionen häufig Topoi, durch die sie auf soziale Strukturen wie Räume, Identitäten und Normen konstruierend verweisen. Durch den von mir verwendeten Ausdruck der ‚konstruierenden Verweise‘ wird der „Dualität der Struktur“ (Giddens 2004: 25 ff.) Ausdruck verliehen. Die Verweise sind sowohl auf eine bestehende Struktur ge-richtet als auch gleichzeitig eine konstruierende Handlung, die diese Struktur (re-) konstruiert. Konkret bedeutet dies, dass die Akteure im Alltagshandeln auf Topoi und soziale Strukturen verweisen, die sie oft als (schon seit Ewigkeiten) bestehend darstellen, obwohl sie aus praxeologischer Perspektive gerade erst durch den Verweis konstruiert werden. Da also auf etwas verwiesen wird, das erst durch den Verweis (re-)konstruiert wird, spreche ich von konstruierenden Verweisen. Durch die kon-struierenden Verweise auf (konstruierte) Strukturen wie Räume, Identitäten und Institutionen versuchen die Akteure, ihre Interessen mehr oder weniger explizit zu begründen und durchzusetzen. Um diese Argumente und die durch sie (re-)produ-zierten sozialen Strukturen aus emischer Perspektive verstehen zu können, müssen die grundlegenden impliziten Vorstellungen hinter diesen Topoi verstanden wer-den. Weil viele der impliziten Akteursvorstellungen auf vergangenen Erfahrungen bzw. deren Erinnerungen aufbauen, müssen sie auch aus historischer Perspektive betrachtet werden, um sie erklärbar zu machen. Ziel des Kapitels zu den Geschich-ten in der Pendjari ist es, die konstruierenden Verweise, welche Akteure in aktuel-len Aushandlungsprozessen herstelaktuel-len, aus ihrem historischen und soziaaktuel-len Kontext heraus zu verstehen. Narrative zur Geschichte sind in diesem Zusammenhang be-sonders wichtig, weil die Argumente in aktuellen Aushandlungssituationen häufig grob dem folgenden Muster entsprechen: „Zur Zeit XY entsprach der Raum / die Gruppenidentität / die Norm der Form Z. Das war gut und so sollte es auch heute noch sein bzw. das war schlecht und sollte auf keinen Fall mehr so sein.“ Durch die Analyse der Narrative zur Geschichte und auch der Aushandlungsprozesse und All-tagsinteraktionen zeige ich die Bandbreite an bestehenden Akteurskonzepten von Räumen, Identitäten und Normen sowie Institutionen auf.

Um diese komplexen Zusammenhänge noch einmal überblicksartig und stark vereinfacht darzustellen, fasse ich sie in einem Diagramm (siehe Abbildung 2) zu-sammen. Hier ist ‚Räume‘ größer geschrieben, weil die Konstruktion von und der Umgang mit ‚Raum‘ im Zentrum der Verhandlungen zwischen Parkverwaltung und

Vorkoloniale ZeitKoloniale ZeitUnabhängigkeit Partizipative WendeAktuelle Aushandlungen Identitäten Institutionen

Räume Identitäten Institutionen

Räume Identitäten Institutionen

Räume Identitäten Institutionen

Räume Identitäten Institutionen Räume Abbildung 2: Konstruierende Verweise auf geschichtliche Konzepte.

Anrainerbevölkerung stehen. Außerdem dient mir ‚Raum‘ als Zugang zu Prozessen der Konstruktion von Identitäten und Normen sowie schließlich von Institutionen, wie im theoretischen Kapitel entsprechend hergeleitet. Die Zeiten habe ich durch eine gestrichelte Linie voneinander getrennt, weil sie vor allem eine analytische Trennung darstellen und nicht unbedingt mit der Akteurswahrnehmung überein-stimmen. So ist der Übergang zwischen kolonialer Zeit und Unabhängigkeit für viele der Anrainer kaum spürbar gewesen und hat sich für diese nur geringfügig auf das Konzept des Raums Nationalpark ausgewirkt. Jedem Zeitabschnitt von der vorkolonialen Zeit bis zur partizipativen Wende und jeder Akteursgruppe können bestimmte vorherrschende Konzepte von Räumen, Identitäten und Institutionen, zumindest vereinfacht, zugeordnet werden (siehe Tabelle 4). Sie nutzen während der Aushandlungen (in Abbildung 2 durch den Kreis dargestellt) konstruierende Ver-weise (dargestellt durch die Pfeillinien), um ihre Interessen durchzusetzen oder sich verständlich zu machen. Dadurch erzeugen sie in dieser Interaktion (neue) Konzep-te von Raum, Identität und Institution und (re-)konstruieren dabei (neue) soziale Strukturen. Da die unterschiedlichen Akteure auch auf unterschiedliche Konzepte konstruierend verweisen, können parallele und konkurrierende Konzepte in den Aushandlungen entstehen. Beispielsweise impliziert der Verweis auf das im Park be-findliche Mare Bori zwei gänzlich unterschiedliche Ideen von Raum, abhängig da-von, ob es von einem Förster oder von einem Jäger erwähnt wird (siehe auch Tabelle 8). Besonders im Kapitel 5 werde ich zeigen, wie die unterschiedlichen Konzepte von Raum die Interaktionen dieser Akteure beeinflussen.

Zu Beginn meiner theoretischen Überlegungen umreiße ich nun zunächst den von Fernand Braudel geprägten Begriff der longue durée, weil er grundlegend für mein Geschichtsverständnis ist. Anschließend gehe ich auf die Verbindung von longue durée und Raum ein. Ferner zeige ich die Verbindungen zwischen den Nar-rativen zur Geschichte mit Normen bzw. Institutionen, Identitäten und insbeson-dere Räumen auf. Anders gesagt, ergänze ich das zweidimensionale Dreiecksmodell (siehe Abbildung 1 in Kapitel 1) aus den theoretischen Vorüberlegungen um die Dimension der longue durée, also um eine zeitliche Komponente. Ziel des Kapitels ist es, dadurch zu verdeutlichen, wie sich historisch gewachsene Strukturen auf das Handeln in konkreten, gegenwärtigen Verhandlungssituationen und im Alltag aus-wirken.

Die longue durée

Fernand Braudel, einer der zentralen Historiker der Annales-Schule42, unterschei-det zwischen drei Zeitebenen (1977: 50 ff.): Als erstes nennt er die Ereignisse (évé-nements), die er als die sichtbare Oberfläche der Geschichte beschreibt und in der

42 Die Annales-Schule geht zurück auf die französischen Historiker Marc Bloch und Lucien Febvre, die in den 1920er Jahren in enger Zusammenarbeit mit Sozialwissenschaftlern an der Universität Straßburg Ansätze beider Disziplinen zusammenführten. Febvres Schüler Braudel

das aktuelle Handeln der Akteure beobachtbar ist. Diese Zeitebene hat für die Historiker der Annales-Schule kaum Potential, um historische Ereignisse zu erklä-ren. Allerdings können Ereignisse durch die Betrachtung der Geschichte (teilweise) erklärt werden. Zweitens geht es um die Konjunkturen (conjonctures oder auch mo-yenne durée), mit denen Braudel mehrere Jahre oder sogar Jahrzehnte andauernde Zeiträume wie die Weltwirtschaftskrise, den Ost-West-Konflikt und Ähnliches be-zeichnet. Die Konjunkturen sind wahrnehmbare Veränderungen, die auch zyklisch wiederkehren können. Drittens fasst Braudel mit der longue durée gesellschaftliche, wirtschaftliche oder auch geographische Strukturen, die über viele Jahrzehnte bis hin zu mehreren Jahrhunderten bestehen und sich kaum verändern. Beispiele sol-cher Strukturen sind die kapitalistische Wirtschaftsordnung im Westen, Klimati-sche Bedingungen, die Lage von Hamburg an der Elbmündung, die Kolonisierung des afrikanischen Kontinents oder auch der Almauftrieb, als ein seit Jahrhunderten gepflegter Brauch, der durch die geographischen Gegebenheiten der Alpenregion bedingt ist. Die longue durée bezeichnet langfristige Strukturen und liefert aus der Perspektive der Anhänger der Annales-Schule die wichtigsten Erklärungselemente für (historische) Ereignisse. Im Rahmen meiner historischen Darstellungen sind vor allem die Ebenen der longue durée und der conjonctures relevant, weil sie Erklä-rungsansätze für alltägliches Handeln und insbesondere für Aushandlungsprozes-se, also für Ereignisse (événements) liefern.

Die longue durée und die conjonctures haben nicht nur Auswirkungen auf his-torische Großereignisse, sondern auch auf das Alltagshandeln der Menschen. Für den ethnologischen Ansatz verbinde ich die aktuellen Ereignisse mit den histori-schen Strukturen, weil die Handlungen von Akteuren und die Bedeutungen, die sie erhalten können, immer auch mit der Geschichte und mit den in ihr produ-zierten Strukturen verknüpft sind. Eben diese robusten, also länger beständigen, in der Geschichte angelegten und über Generationen hinweg weitgehend stabilen Strukturen, die in aktuellen Interaktionen aufgerufen werden, fasse ich mit Braudels Begriffen der longue durée und der conjonctures. Solche Strukturen sind häufig ein grundlegendes Element für die Konstruktion von Identitäten, Normen und auch Räumen. In meinem Forschungskontext sind dies beispielsweise: Siedlungsstruktu-ren, die naturräumlichen Gegebenheiten wie Berge, Flüsse, Wälder etc. oder auch die Machtbeziehungen zwischen nördlichen und südlichen Regionen in Benin. Im Gebiet meiner Feldforschung sind einige Normen, auf die ich später detaillierter eingehen werde, tief in der Gesellschaft verankert, weil sie über lange Zeiträume hinweg permanent in Alltagshandlungen reproduziert werden und dadurch oft als unumstößliche Wahrheiten angesehen werden. Als solche lassen sich aufzählen:

das große Ansehen, das Älteren entgegengebracht wird; die Dichotomie zwischen

‚wildem Busch‘ und ‚zivilisiertem Dorf‘; Speisetabus in bestimmten Klans oder

war stark von diesen Ansätzen beeinflusst und entwickelte unter anderem seine hier teilweise dargestellte Geschichtstheorie. Diese machte ihn zu einer der bestimmenden Figuren in der Annales-Schule.

die Nutzungsrechte von Land, die in einer Familie von Generation zu Generation weitergegeben werden. Diese sozialen und physisch geografischen Strukturen mit longue durée werden, wie ich in späteren Kapiteln zeigen werde, in alltäglichen Le-gitimationsdiskursen häufig von den lokalen Akteuren als schon ewig bestehende und unveränderbare, gar statische, Zustände dargestellt oder unter dem diffusen Sammelbegriff der „Tradition“ gefasst und strategisch eingesetzt (vgl. Hobsbawm

& Ranger Terence 1983; Neumann 1998: 175). Durch die diskursiven Verweise auf eine (konstruierte) Vergangenheit und die in ihr verwurzelten (konstruierten)

„Traditionen“ erhält die Ebene der (konstruierten) longue durée Einfluss auf die All-tagshandlungen besonders im Rahmen von umstrittenen Aushandlungsprozessen (vgl. hierzu auch Giddens 2004: 200). Der historische Kontext hat, wie ich zeigen werde, einen erheblichen Einfluss auf die Stabilität sozialer Institutionen.

Die longue durée und der Raum

Innumerable anthropological studies have shown how human groups likewise

main-tain strong and enduring attachments to particular places, along with the features of the landscape that lend them their distinctive character (Ingold 2013: 10).

Der Raum, insbesondere wenn er als absolutistischer Raum (siehe Kapitel 1 und Glossar) betrachtet wird, kann als eine überaus robuste Struktur verstanden werden, die über lange Zeit hinweg besteht und die Handlungen in ihm regelrecht determi-niert. Braudel (1992) betont in seiner Raummetaphorik vor allem den strukturel-len, determinierenden Aspekt des Raums. Dies wird deutlich wenn er die großen Entfernungen im Mittelmeerraum des 16. Jahrhunderts als „Widerstand“, „Zwang“

und „Hindernis“ beschreibt (dazu auch Piltz 2008). Piltz (ebd.) zeigt durch seine Analyse Braudels´ Werk, dass auch dieser den Raum allerdings nicht nur als deter-minierenden Faktor betrachtet, sondern seine relationalen Bezüge zum Handeln der Menschen erkennt und seine Konstruiertheit unterstreicht. Somit lassen sich auch Braudels Ausführungen zwischen den Polen eines absoluten und konstruk-tivistischen Raumkonzeptes einordnen. Daraus ergibt sich die Perspektive, dass Raum in erster Linie als ein soziales Konstrukt fungiert, welches wiederum auf bestehenden physisch geografischen Gegebenheiten basiert. Dies entspricht meinen theoretischen Ausführungen, bei denen ich auf vor allem auf Löw (2001), Lefebvre (2000) und de Certeau (2006) aufbaue (siehe Kapitel 1).

Raum, Zeit und soziale Strukturen stehen in einem eng zusammenhängenden Verhältnis zueinander. Insbesondere die Verquickung von räumlichen Gegebenhei-ten mit sozialen Strukturen sowie die Erinnerung dieser Verbindungen und ihre performative Darstellung verleihen sozialen Institutionen eine gewisse Stabilität.

Diese müssen bei der Frage nach der Stabilität sozialer Strukturen im Raum des

Pendjari-Nationalparks mitbetrachtet werden. Jan und Aleida Assmann sowie an-dere Wissenschaftler, die sich mit Kultur, Erinnerung und kollektivem Gedächtnis befassen, betonen, dass Erinnerungen, die mit Objekten, Orten, Gebäuden, Texten oder Ritualen in Verbindung gebracht werden, über längere Zeiträume hinweg be-stehen. Dieses Amalgam aus Erinnerung und konkretem Objekt, Ort etc. bildet eine solide Grundlage für soziale Strukturen (Assmann 1995, 2008; Assmann 2006;

Assmann & Hölscher 1988). Nora (1997: 37) erklärt in diesem Zusammenhang, dass „Erinnerungsräume“43 das Gefühl von Kontinuität hervorrufen, weil sie von den sozialen Akteuren als eine Konstante dargestellt und wahrgenommen werden.

An anderer Stelle betont Nora (1990) unter Rückbezug auf Halbwachs (1991), dass sich besonders kollektive Erinnerungen stark auf die soziale Konstruktion von Räu-men auswirken. Nora fügt damit der Verbindung von Raum und longue durée den Aspekt der Erinnerung hinzu. Für ihn residiert das Empfinden von Kontinuität an Orten (im weitesten Sinne), die dadurch zur aktuellen Manifestation der erinnerten Vergangenheit werden. Diese Orte stellen also eine Art der Verbindung mit der (er-innerten) Vergangenheit dar und sind dabei ein Element, das Konstanz in den von Veränderungen geprägten Prozess der Erinnerung bringt (Nora 1997: 23). Dadurch können Orte, wie beispielsweise Dörfer, die aufgrund der Nationalpark-Gründung verlassen werden mussten (siehe Karte 4), zu zentralen Elementen der longue durée werden.

Auch Schama argumentiert in seinen Überlegungen zur Wildnis, dass Mythen und Erinnerungen als Träger von Identität und anderen sozialen Strukturen eine besonders große Dauerhaftigkeit erhalten, wenn sie mit landschaftlichen Elementen verbunden sind.

Aber auch wenn man diese Variationen [in der langen Geschichte von Landschaftsmetaphern; SK] berücksichtigt, ist es doch klar, daß den ererbten Mythen und Erinnerungen, die die Landschaft zum Gegenstand haben, zweierlei gemeinsam ist: ihre überraschende Dauerhaftigkeit über die Jahrhunderte hinweg und ihre Kraft, Institutionen zu formen, in denen wir noch heute leben. Um nur das naheliegendste Beispiel zu nehmen:

Nationale Identität würde ohne die Mystik einer bestimmten Landschaftst-radition – ihre Topographie, kartographiert, ausgearbeitet und überhöht als Heimat – viel von ihrem gefährlichen Enthusiasmus verlieren (Schama 1996: 291).

Auch praxistheoretische Überlegungen zeigen, inwiefern Objekte im Raum und der Raum selbst als historisch robustes Fundament für soziale Institutionen dienen:

Indem die Praxistheorie sowohl die Materialität der Körper und ihr in-korporiertes Wissen als auch die Materialität der Artefakte als notwendige

43 Mehr zu Noras Konzept der Erinnerungsräume im folgenden Abschnitt.

Bedingung und Bestandteile der Entstehung und Repetitivität einzelner sozialer Praktiken hervorhebt, ‚materialisiert‘ sie auch die Frage nach der Verankerung des Sozialen: Wenn das Soziale soziale Praktiken sind, dann gewinnen diese ihre relative (wenngleich keineswegs vollständige) Repro-duktivität in der Zeit und im Raum durch ihre materiale Verankerung in den mit inkorporierten Wissen ausgestatteten Körpern, die – in der Dauer ihrer physischen Existenz – praxis-kompetent sind, und in den Artefakten, in denen sich – deren Haltbarkeit oder Erneuerbarkeit vorausgesetzt – Prak-tiken über Zeit und Raum hinweg verankern lassen (Reckwitz 2003).

Da räumliche Artefakte, wie Dörfer oder Opferstellen, die durch Syntheseleistun-gen eventuell zu einem zusammenhänSyntheseleistun-genden, bedeutungsvollen Raum zusammen-gefasst werden, in der Regel eine verhältnismäßig lange Existenz vorweisen, wirken sie als praxis-kompetente Elemente über lange Zeiträume hinweg. Sie haben also einen stabilisierenden Einfluss auf soziale Strukturen und Handlungen, der durch eine Analyse der Geschichte und der Geschichten einer Region erklärbar wird, wie da nachfolgenden Abschnitte zeigen werden. Die Landschaft als ein sich verhält-nismäßig langsam veränderndes ‚Objekt‘ kann dabei die Rolle eines beständigen Fundaments spielen, auf dem längerwährende (soziale) Strukturen basieren. Der soziale Umgang mit der Landschaft kann also die Beständigkeit und den Wandel von Strukturen mit longue durée erheblich beeinflussen. Da eben diese Strukturen im Grunde als Institutionen fungieren, wird unter Hinzunahme der bisherigen Ar-gumente (auch aus Kapitel 1) deutlich, dass die Akteure, Objekte und Orte, die zu Räumen zusammengefasst werden, wichtige Elemente im Konstruktionsprozess von Institutionen sind. Darauf aufbauend lässt sich Folgendes behaupten: Durch den Verweis auf Erinnerungsorte und die ihnen wesentliche Kontinuität kann so-zialen Strukturen wie Räumen, Identitäten und Normen sowie Institutionen mehr Robustheit gegeben werden. Neben der größeren Robustheit erhalten die Argu-mentationen der Akteure durch diese Verweise unter Umständen auch mehr Über-zeugungskraft. Der soziale Einfluss und die Robustheit einiger Institutionen lassen sich also zum Teil aus historischer Perspektive heraus deutlicher erklären.

Dabei sollte Raum gleichzeitig sowohl als solides Fundament als auch als Kris-tallisationspunkt und Katalysator von Wandel und Veränderung begriffen werden.

Löw (2001: 34 f.) unterstreicht mit Verweis auf den Mathematiker Hermann Min-kowski, dass Raum, wenn er zu verschiedenen Zeitpunkten betrachtet wird, gleich-zeitig je nach Blickwinkel sowohl konstant als auch variabel erscheint. Sie führt das Beispiel des Berliner Alexanderplatzes an, der bereits Mitte des 17. Jahrhunderts angelegt wurde und seit 1805 zu Ehren des russischen Zaren Alexander I. Alexan-derplatz genannt wird. Einerseits haben die geographischen Koordinaten des Ale-xanderplatzes und viele seiner architektonischen Strukturen schon lange Bestand.

Andererseits haben sich seine Nutzung und Wahrnehmung beispielsweise vor und nach der Wiedervereinigung stark verändert. Ein junger Mensch mit weniger weit-reichenden Erinnerungen verbindet daher mit dem Alexanderplatz andere

Bedeu-tungen als ein älterer (unterschiedliche SyntheseleisBedeu-tungen). Außerdem hat der Platz an einem Montagvormittag einen anderen Charakter als an einem Sonntagnachmit-tag, weil seine Besucher anders mit ihm umgehen, weil die Geschäfte geschlossen sind oder aus anderen Gründen. Dies zeigt, wie zeitabhängig die Konstruktion von Räumen ist, was die von mir aufgezeigte Robustheit relativieren kann.

Verbindungen von Geschichte(n) und Erinnerungen mit Räumen, Identitäten, Normen und Institutionen

History is a central focus of so-cial contest because the mean-ings of the past define the stakes of

the present (Alonso 1988: 49).

Im alltäglichen Umgang mit dem Raum, wenn wir ihn durchschreiten, ihn in Er-zählungen einbinden, Erinnerungen an ihm festmachen, uns mit ihm verbunden fühlen und dergleichen mehr, konstruieren wir selbigen: „And every place, as a gathering of things, is a knot of stories“ (Ingold 2011: 154). Dabei dienen uns Ge-schichten, erzählte Erinnerungen und damit verbundene Gefühle dazu, die Arte-fakte des Raums und Orte in einen bedeutungsvollen Rahmen zu setzen.

Erinnerungen und Erzählungen boten für mich als fremden Forscher in einer oral geprägten Gesellschaft die beste Zugangsmöglichkeit zur Geschichte der Regi-on. Sowohl die kolonialen Archive als auch die wissenschaftliche Literatur bieten keine ausreichende Quellenlage für meine Fragestellungen, weil beide keine Aussa-gen über das emische Verständnis dieser Zeit ermöglichen. Viele Geschichten und Erzählungen über vergangene Ereignisse, werden in den Familien, bei alltäglichen Treffen, in der Schule, den Geschichtsbüchern, Gesprächen mit Ethnologen und vielen weiteren Anlässen reproduziert und weitererzählt (Assmann & Hölscher 1988)44. Die Bedeutung lokaler Geschichten spiegelt sich heute ebenfalls in unzäh-ligen Selbstveröffentlichungen in Form kleiner Heftchen mit Sammlungen lokaler Geschichten wider. In ihnen wird meist eine Auswahl von Geschichten zusammen-gestellt, um sie zu verbreiten und zu bewahren. Häufig werden in den Veröffentli-chungen die moralischen Botschaften und der Kontext der Geschichten zusätzlich erklärt.

In ihren alltäglichen sozialen Interaktionen und nicht zuletzt in den Aushand-lungsprozessen zwischen Parkverwaltung und Anrainern beziehen sich die Akteure häufig implizit oder explizit auf persönliche und kollektive Erfahrungen und Erin-nerungen, welche sie zu (klischeehaften) Bildern und normativen Diskursen ver-dichten (Halbwachs 1991). In den Interaktionen werden (stereotypisierte) Bilder der (präkolonialen) Besiedlung der Region, ihrer Helden und der gewöhnlichen

44 Zur großen Bedeutung der oralen Tradition und der Weitergabe von Geschichten in Benin siehe Sagbo (2012).

Menschen, der Kolonialepoche inklusive der Ausrufung des Schutzgebietes 1954 und ebenfalls der ersten partizipativen Bemühungen der Parkverwaltung seit den 1990er Jahren aufgegriffen, gewandelt oder auch neu erzeugt. Die Teilnehmer an den Aushandlungsprozessen zwischen Parkverwaltung und Anrainerbevölkerung beziehen sich mehr oder weniger explizit immer wieder auf diese Bilder und Vor-stellungen, wie ich im Kapitel 5 vertiefen werde. Um sie dort interpretieren und analysieren zu können, stelle ich in den folgenden Abschnitten dieses Kapitel histo-rische Bezüge und ihre Repräsentationen in aktuellen Narrativen und Handlungen vor. Zunächst aber erläutere ich, welche Rolle Erinnerungen und Narrative bei der Konstruktion von Räumen, Identitäten und Normen spielen und welchen Einfluss sie auf die Stabilität von sozialen Strukturen haben.

Geschichten und Erzählungen spielen besonders in stark oral geprägten Gesell-schaften eine zentrale, sozial konstitutive Rolle. Beim Erzählen von Geschichten strukturieren und ordnen Menschen ihre Erfahrungen, Erinnerungen und Bilder.

People use the narrative form as a kind of heuristic device to sort out the relevant facts and arrange them in some kind of logical order. And, when

People use the narrative form as a kind of heuristic device to sort out the relevant facts and arrange them in some kind of logical order. And, when

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