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Die vorkoloniale Zeit3.2

Im Dokument "Wir schützen unseren Park". (Seite 98-119)

Viele Arbeiten zu Schutzgebieten des östlichen Afrikas wie beispielsweise die von Neumann (1998) und Brockington (2002) beschreiben den Einfluss historischer Ereignisse im Kontext von Schutzgebieten auf die aktuellen Wahrnehmungen der lokalen Akteure. Dabei betonen sie die Bedeutung von Prozessen der Besiedlung und der Nutzung des Gebietes mitsamt seinen Objekten sowie insbesondere des Umgangs von kolonialen Verwaltern mit Bewohnern der Parkgebiete seit Ausru-fung der Nationalparks. Insbesondere die teils gewaltsame Ausweisung aus ihren gewohnten Siedlungsgebieten durch die kolonialen Regierungen bietet eine Erklä-rungsmöglichkeit für heute bestehende Ressentiments der Anrainer gegenüber der Parkverwaltung. Auch Lentz (2000b: 179) betont die Relevanz einer historischen Perspektive auf dieses Thema und geht dabei in ihren geschichtlichen Beschreibun-gen weit über die postkoloniale und koloniale Phase hinaus. Sie hebt die Bedeutung vorkolonialer Prozesse der Raum- und Gemeinschaftskonstruktion hervor, deren Abbilder bis heute in den oralen Überlieferungen insbesondere der Siedlungsge-schichte unter den lokalen Akteuren weitergegeben werden. Aufgrund ihrer Bedeu-tung für die aktuelle Wahrnehmung des Raums und den damit zusammenhängen-den Umgangsweisen mit dem Raum gehe ich hier ausführlich auf die Erinnerungen bezüglich der präkolonialen Siedlungsprozesse im Pendjari-Bogen ein.

Migrations- und Siedlungsgeschichte(n)

Die Migrations- und Siedlungsgeschichte(n) meiner Forschungsregion sind ein be-sonders anschauliches Genre, um Narrative zu Norm, Identität und Raum zu beob-achten und zu analysieren. Unterschiedliche Versionen der Geschichte können von den Akteuren als politisches Mittel zur Legitimation eingesetzt werden. Lentz stellt in diesem Zusammenhang fest:

die oralen Traditionen zur Siedlungs- und Migrationsgeschichte sind meist kontrovers, weil in hohem Maße interessebesetzt: Sie legitimieren die gegenwärtige soziale und politische Ordnung oder wollen die Veränderung dieser Ordnung anstoßen, und sie wollen Gruppen- oder Untergruppenbe-wusstsein stiften (Lentz 2000b: 182).

Die Akteure wandeln dazu die Geschichten entsprechend ihrer Interessen ab, wo-durch sich parallele Versionen etablieren können. Lentz (2000a) stellt dies im Detail an unterschiedlichen Versionen oral überlieferter Siedlungsgeschichten im

Nord-westen Ghanas dar. Kopytoff (1989) identifiziert im Zusammenhang mit Besied-lungsprozessen und Landaneignung drei grundlegende Strategien zur Legitimation von einflussreichen Positionen und insbesondere von Kontrolle über Boden, die in den in Kapitel 5 vertieften Aushandlungsprozessen eine wichtige Rolle spielen werden: erstens den Verweis auf einflussreiche Ahnen, zweitens die Selbstdarstel-lung einer Gruppe als Erstsiedler und drittens die Einforderung von innerhalb einer Gruppe anerkannter, gemeinsamer Werte. Alle drei Strategien können eng mit der sozial konstruierten Lokalität verbunden sein.

Die Migrationsgeschichte ist deshalb so zentral im Rahmen dieser Arbeit, weil sie in vielen Geschichten der Anranier des Parks erinnert wird und Argumente in aktuellen Aushandlungsprozessen konstruierend auf sie verweisen. Hinzu kommt, dass sie in der Geschichtsschreibung (West-)Afrikas eine zentrale Rolle spielt (Am-selle 1976; Iliffe 2003; Lentz 2000b). Eine Verbindung von Raum und Migrations-geschichte beschreibt auch de Certeau (2006: 346): „die Erzeugung eines Raumes scheint immer durch eine Bewegung bedingt zu sein, die ihn mit einer Geschich-te verbindet“. Die SiedlungsgeschichGeschich-te erscheint mir besonders bedeutsam für die Konstitution des Raums, weil sie die Geschichte der Migration mit der Erschlie-ßung und Konstruktion des Raums verbindet.

Die heutige Siedlungsstruktur um den Pendjari-Nationalpark geht aus Migra-tionsbewegungen der vorkolonialen Zeit hervor. Ihr Einfluss ist dabei nicht nur in den Verteilungen der Dörfer und ihrem Aufbau sichtbar. Auch eine Reihe sozialer Institutionen wie die Erdherren, die für die Nutzungsrechte von Land verantwort-lich sind, oder die an bestimmte Familien gebundene Erlaubnis zu jagen, lassen sich aus diesen Migrationsbewegungen erklären (s.u.). Eng daran geknüpft sind eben-falls Wahrnehmungen des heutigen Lebensraums, die immer auch vor dem Hin-tergrund der historischen Erfahrungen bzw. ihrer Erinnerungen gemacht werden.

Schließlich sind die Narrative über die Besiedlung des Landes eine Repräsentation der Aneignung des Raums (espace vécu). In der oralen Geschichte werden Bilder und Symbole reproduziert, die von den lokalen Akteuren mit dem Raum in Verbindung gebracht werden und die ihre Syntheseleistungen in Bezug auf ihre Raumwahrneh-mung beeinflussen. Diese Aspekte sind von besonderer Bedeutung, weil sie bei der Ausrufung des Nationalparks durch die französische Kolonialverwaltung im Jahr 1954 weitestgehend ignoriert wurden, aber bis heute, zum Teil unterschwellig, im Zentrum vieler Konflikte stehen.

Neben den Geschichten und Erzählungen zu Migrationsbewegungen und Dorf-gründungen, die ich während der Feldforschung habe aufzeichnen können, greife ich zurück auf die archäologischen Studien von N´Dah (2009) und die geschichts-wissenschaftlichen Arbeiten von Cornevin (1981) und insbesondere von Madiéga (1982) über die Gulmanceba. Aufgrund der Größe des Forschungsgebietes und der ethnisch sehr heterogenen Anrainerbevölkerung konzentriere ich meine historischen Forschungen auf die östliche Flanke des Parks (siehe Karte 1), die von Gulmanceba, Waaba und Natemba besiedelt wird. Von diesen Gruppen stelle ich die Gulmance-ba ins Zentrum meines Interesses, weil die Forschungsarbeit auf der Mikroebene

einen so großen Arbeitsaufwand bedeutet, dass ich nicht mit mehreren Gruppen intensiv forschen konnte (eine detailliertere Begründung findet sich in Kapitel 2).

Die Siedlungsgeschichte der Gulmanceba kann in einigen Zügen als exemplarisch sowohl für die anderen Gruppen der Ostflanke als auch für die der Byalbé und anderer Gruppen der westlichen Anrainergebiete gelten, auch wenn diese zum Teil unterschiedlich verlaufen sind.

Firstcomer und latecomer

Noch bevor ich auf die heute im Pendjari-Bogen siedelnde Gruppe der Gulmanceba eingehe, befasse ich mich kurz mit der prähistorischen Siedlungsgeschichte. N´Dah (2009: 6 f.) stellt fest, dass die Region Atakora, insbesondere in der Nähe der Was-serläufe des Pendjari und der Mékrou (siehe Karte 1), bereits seit dem Early Stone Age46 kontinuierlich besiedelt war – wann genau, durch wen und aufgrund welcher Umstände ist dabei nicht genau bekannt. N´Dah beruft sich bei seiner Feststellung auf eigene archäologische Forschungen sowie die einiger Kollegen (Adagba 1987, 1993; Adandé 1993; Adandé & Adagba 1988; Davies 1956; Posnansky 1973, 1980;

Shaw 1971, 1981). Auch Cornevin (1981: 24 ff.) belegt mit archäologischen Funden, dass das Atakora bereits seit über 150.000 Jahren besiedelt war. Festzuhalten ist, dass die später immigrierenden Gruppen der Bialbé (Berba), Natemba, Tangamba, Mbelime, Waaba, Gulmanceba und andere, die bis heute in der Region leben, also bereits auf besiedeltes Land stießen.

Dies hindert sie heute nicht daran, sich selbst als „firstcomer“ (Horton 1971:

102 ff.; Kopytoff 1989: 52 ff.) oder „Erstkommer“ und somit als in ihren Augen rechtmäßige Besitzer ganzer Landstriche in der Region darzustellen. Dies wird bei-spielsweise im Gründungsmythos der Dörfer Tanuogou und Batia (Bariya) deut-lich (s. Kästen zu den Gründungsmythen weiter unten). Auch Doevenspeck (2005:

212 ff.) beschreibt für andere Regionen Benins, dass (selbsternannte) Erstkommer sich stets zentrale Rechte und Machtmittel aneignen. Die erste Urbarmachung von Landstrichen ist dabei eine grundlegende Praxis der Konstruktion und Aneignung von Räumen. Kopytoff bezeichnet das Prinzip des Zuerstseins als ein grundlegen-des in der afrikanischen politischen Kultur, das sich beispielsweise zeigt in: 1. der Seniorität oder auch darin, dass der Zwillingsbruder, der früher geboren wird, al-leine durch die wenigen Minuten Unterschied bevorzugt behandelt wird, 2. der Heiratsfolge, bei der die erste Frau häufig eine vorrangige Stellung beansprucht, 3.

den Initiationsfolgen, die häufig auch die Grundlage für Altersgruppen bilden, und schließlich 4. den Erstkommern in eine neue Siedlungsregion (Kopytoff 1989: 36).

Das Prinzip des Zuerstkommens wird also nicht nur auf die Erstbesiedlung eines

46 Early Stone Age ist die international übliche, wissenschaftliche Bezeichnung für den ältesten Abschnitt der Steinzeit im subsaharischen Afrika und unterscheidet sich von der Alt- oder Frühsteinzeit in Europa und Asien. Das Early Stone Age umfasst die Zeit von etwa 2,5 Millio-nen bis 130.000 Jahren vor heute.

Landstrichs bezogen, sondern wird unter anderem auch zur Rechtfertigung der Hö-herwertigkeit von Erstgeborenen herangezogen. Dies zeigt sich ebenso in Mythen der Forschungsregion, in denen es eine Rolle spielt, wer zuerst auf die Welt oder als Bittsteller zu einem Gott gekommen ist (Maurice 1986: 361).

Die Machtposition der Erstkommenden in einer Region erklärt sich, Kopytoff (1989: 52 ff.) zufolge, aus unterschiedlichen Punkten:

Netzwerke

: Die früher Gekommenen besitzen unter Umständen ein weiter-reichendendes Verwandtschaftsnetzwerk. Zum Teil ist die Anzahl der später Hinzu-Siedelnden nicht ausreichend, um die Erstkommer herausfordern zu können.

Soziale Institutionen

: Erstkommer besetzen institutionalisierte Positi-onen, die nicht selten auf Lebenszeit zugeschrieben sind und innerhalb einer Lineage oder Verwandtschaftsstruktur vererbt werden. Sie wurden auf unterschiedliche Weise – in Westafrika häufig durch das Errichten eines Erdschreins und die Besänftigung der Geister durch Opfergaben – zu den

‚Besitzern‘ des Bodens, mit dem sie über starke spirituelle Bande verknüpft sind (vgl. Langewiesche 2006).

Gesellschaftlich anerkannte Leistung

: Den Erstkommern oblag es, den

Busch durch mühsames Roden in bestellbare Felder zu transformieren.

Dabei mussten sie sich darüber hinaus nicht nur mit Tsetsefliegen, Krank-heiten und wilden Tieren auseinandersetzen, sondern auch mit Geistern des Buschs47. Die Verwandlung des unbewohnbaren, feindlichen Buschs in ein geordnetes, ‚zivilisiertes‘ Dorf mit Feldern ist in aktuellen Aushandlungspro-zessen ein wichtiger Topos der Legitimation von Autorität einer Gruppe oder eines Individuums.

Kontrolle von Produktions- / Gewaltmitteln

: Der Boden ist in

landwirt-schaftlichen Gesellschaften das wichtigste Produktionsmittel und seine Kontrolle folglich ein effektives Machtmittel. Hinzu kommt, dass die Erst-kommer in den meisten Fällen auch den Zugang zu Jagdgründen regulieren konnten, was ein weiteres Machtmittel darstellt.

Auf diese genannten Aspekte weisen die Akteure meines Forschungskontextes in Verhandlungssituationen implizit oder explizit hin, um sie für die eigenen Durch-setzungsstrategien nutzbar zu machen. Kopytoff macht dabei auch darauf auf-merksam, dass das Prinzip des Firstcomings nicht mechanisch und starr in den Ge-sellschaften angewandt wird. Vielmehr ist auch dieses Prinzip Widerständen und

47 Dabei kommt in den heutigen Erzählungen den wilden Tieren und vor allem den Geistern die größte Bedeutung zu.

Verhandlungen unterworfen. In meiner Forschungsregion war es öfter der Fall, dass die oralen Traditionen derart adaptiert wurden, dass die eigene Gruppe als Erstkom-mer erschien. Eine andere Option, um die eigene Autorität zu legitimieren, ohne Erstkommer zu sein, ist zu erzählen, man habe die bereits angetroffenen Gruppen verjagt, oder die eigentlichen Erstkommer werden marginalisiert. Für eine in den Augen der Anrainer legitime Kontrolle der Landrechte und bestimmter sozialer (Macht-)Positionen ist die Konstruktion mystischer Verbindungen zwischen den Landbesitzern und dem Boden häufig eine notwendige Grundlage. Es kann auch zu einer Aufteilung der Autorität kommen, sodass die eigentlichen Erstkommer zu rituellen Autoritäten werden, während Später-Gekommene aufgrund ihrer Über-zahl oder ähnlichem die politische Autorität übernehmen konnten, die firstcomer aber weiterhin respektieren und ihnen den Bereich bestimmter Rituale überlassen.

Die nachträgliche Konstruktion einer ethnischen Gruppe als Erstkommer – häufig basierend auf einer konstruierten Historie – kann in diesem Zusammenhang als eine Rechtfertigungsstrategie verstanden werden. Durch sie wird die Kontrolle über den Zugang zu Grund und Boden beispielsweise eines Erdherren-Klans als recht-mäßig dargestellt48.

Auf lokaler Ebene ist das Prinzip der Erstkommer fest verankert und wird nur selten kontestiert. Aber schon Rousseau (1993: 210 ff.) machte darauf aufmerksam, dass das Recht des Erstkommers immer auch mit dem Recht des Stärkeren konkur-riert. Ersteres braucht dabei den Schutz gesellschaftlicher Institutionen, während letzteres sich kraft der Stärke selbst durchsetzen kann. Dies werden wir im nächs-ten Abschnitt im Handeln der Kolonialmacht wieder finden, die den Nationalpark gründete und dabei die Erstkommer mit Gewalt unterdrückte. Allerdings konnten die gesellschaftlichen Institutionen nicht auf Dauer und vollständig unterdrückt bleiben, wie ich später detaillierter zeigen werde.

Zomahoun schätzt die Bedeutung des Erdherrn für die Landverteilung heute als sehr gering ein. Allerdings konstatiert er, dass beispielsweise der Erdherr von Batia noch immer für eine Reihe wichtiger Aufgaben verantwortlich ist, deren Bedeu-tung in meinen Augen nicht unterschätzt werden darf. Er bringt die Opfergaben am Erdschrein und schützt dadurch das Dorf, im Verständnis seiner Bewohner, vor Krankheiten, ausbleibendem Regen und anderem Unheil. Außerdem lädt er zu wichtigen Zeremonien wie der Initiation der jungen Männer ein und leitet diese zum Teil (Zomahoun 2001 und eigene Beobachtung). Von anderer Seite erfuhr ich, dass Neuankömmlinge niemals sicher sein können, dass sie das Land, das ihnen ein Erdherr zuspricht, auch im nächsten Jahr noch nutzen können. Es muss immer wie-der Fälle gegeben haben, in denen ein Erdherr Land vergeben hat, damit ein Neu-ankömmling dieses soweit herrichtet, dass darauf Landwirtschaft betrieben werden kann. Nach wenigen Jahren wurde es dann zurückgefordert, um es selbst zu nutzen.

Auch darin zeigt sich die Autorität dieser Position.

48 Siehe hierzu vergleichend auch Lentz (2000b: 184 ff.), die diese Strategie in mehreren Fallstu-dien westafrikanischer Siedlungsgeschichten beschreibt.

Siedlungsgeschichte der Gulmanceba

Betrachten wir nun als exemplarischen Fall die Siedlungsgeschichte der Gulmance-ba im Detail. Bereits der Name der Gruppe enthält Hinweise auf die Siedlungs- und Migrationsgeschichte. Die Bezeichnung „Gulmanceba“ lässt sich aus den Songhaï-Wörtern Gourma und Kies herleiten. Gourma oder auch Gulmu bzw. Gulma kann mit ‚rechtes Ufer‘ übersetzt werden und bezeichnet die Gebiete südlich des Niger-Stroms. Die Endung kies bedeutet schlicht ‚Menschen‘. Der ursprüngliche Term Gourma-n´-kies bedeutet also so viel wie ‚Menschen des rechten Ufers‘ und war eine Sammelbezeichnung für alle Gruppen, die auf dem südlichen Nigerufer im heuti-gen Niger und Burkina Faso lebten (Madiéga 1982; Urvoy de Portzamparc 1936).

Das heute von den Gulmanceba besiedelte Gebiet, das sie Gulma nennen, erstreckt sich über die heutigen Staatsgebiete von Burkina Faso, Togo, Benin und Niger (sie-he Karte 2). Der starke Bezug der Gulmanceba zu ihrer Heimatregion spiegelt sich nicht nur im Namen ihrer Gruppe wieder, sondern auch in ihren Erzählungen über ihre Königshäuser, Kriege, Eroberungen und Wanderungen (Madiéga 1982).

Die große Bedeutung des Gulma für die Identität der Gulmanceba wurde mir deutlich, als ich sie nach ihrer Herkunft befragte. Praktisch keiner meiner Ge-sprächspartner bezeichnete sich als Beniner. Wenn überhaupt eine Nationalität er-wähnt wurde, dann die von Burkina Faso. Praktisch alle Befragten unterstrichen ihre Verbindung zum Gulma, indem sie auf dort lebende Verwandte oder einen von dort nach Benin ausgewanderten Vorfahren hinwiesen. Auch in den Gründungs-mythen der Dörfer wurde die Herkunft der ersten Siedler aus dem Gulma stets erwähnt. Ob sich das Gulma bis zur Bergkette des Atakora erstreckt oder nicht, wird von den Menschen, die dort leben, entsprechend ihrer ethnischen Gruppe ganz unterschiedlich bewertet. Für die vielen dort lebenden Gulmanceba ist ihr Siedlungsgebiet eindeutig Teil des Gulma. Die Beziehungen der heute am Rand des Nationalparks lebenden Gulmanceba zu ihren Herkunftsorten jenseits der burkini-schen Staatsgrenze und den dort weiterhin lebenden Verwandten werden auch durch regelmäßige Besuche aufrechterhalten. Somit konstruieren die Gulmanceba ihre Gruppenzugehörigkeit sehr stark über ihren Bezug zur Region Gulma und fühlen sich zu einem der beiden dort ansässigen Königshäuser zugehörig. Die Königshäuser liegen in Fada N´Gourma, dem wohl wichtigsten Machtzentrum der Region, und in Naamunu, welches sich als kleines, unabhängiges Königreich behauptet (Madié-ga 1982). Im Königshaus von Fada N´Gourma werden die Dörfer der Pendjari als Teil des Reiches deklariert (Interview mit dem König der Gulmanceba von Fada N´Gourma am 24. September 2008) und die Anwohner dieses Gebietes teilen diese Ansicht. Auch die sehr einflussreiche NGO Tintua, die Alphabetisierungskampag-nen und Entwicklungsprojekte explizit für Gulmanceba durchführt, orientiert sich an dieser Raumkonstruktion und zählt die Dörfer jenseits der Staatsgrenze zu ihrem Aktionsradius (INT Naamuntugu 23. September 2008).

Grätz (2010: 37) betont darüber hinaus die Verbindung der ausgewanderten Gruppen mit ihrer Ursprungsregion vor allem auf religiöser Ebene. Besonders die

mystische Verbindung zum zurückgelassenen Erdschrein wird weiterhin aufrechter-halten. Diese spielt bis heute, beispielsweise bei besonders gravierenden Krankhei-ten, eine wichtige Rolle. So nahm mein Mitarbeiter Lucien Tentaga die weite und beschwerliche Reise nach Burkina Faso in den Ort seiner Ursprungsfamilie nach Madiéga auf sich, als er innerhalb von einem Tag seine Hör- und Sehfähigkeit fast vollständig einbüßte. Ein Heilkundiger seines Dorfes in Nordbenin hatte Hexe-rei als Ursache für die Symptome diagnostiziert und ihm empfohlen, zum Heiler und Erdschrein seines Ursprungsortes zu gehen. Die Symptome gingen nach einer Behandlung und Opfergaben vor Ort zurück. Der Rückbezug auf die Ursprungs-region, der durch viele Alltagspraktiken bis heute lebendig gehalten wird, war und ist ein starkes, einendes Identitätselement der Gulmanceba. Darüber hinaus beein-flusst der Bezug auf die gemeinsame Ursprungsregion die Syntheseleistung der lo-kalen Akteure und somit ihre Raumwahrnehmung: Die neu besiedelten Gebiete im Pendjari-Bogen werden von den Gulmanceba weiterhin als Teil eines großen, Ländergrenzen überschreitenden Gulmas gesehen.

Die aktuelle Siedlungsstruktur der Dörfer um den Nationalpark, also die Zu-sammensetzung der ethnischen Gruppen sowie die Struktur ihrer Dörfer, ist maß-geblich durch Migrationsflüsse in präkolonialer Zeit bedingt. N´Dah fasst mit Bezug auf einen Aufsatz von Tiando (1996) die Siedlungsgeschichte seit dem 15.

Jahrhundert folgendermaßen zusammen:

la mise en place des populations de l’Atakora est le résultat d’un mouve-ment de groupes humains venus de l’Ouest à la suite de mutations socio-politiques survenues dans le Gourma. Ces mutations sont nombreuses et échelonnées dans le temps. Elles sont dues essentiellement aux incursions sonraï dans le Gourma, à la formation des Etats Mamprusi, Dagomba, Mossi, Gourmantché et aux crises de palais de ces entités politiques (N’Dah 2009: 426).

Die meisten Immigranten in die Region Atakora seit dem 15. Jahrhundert wan-derten aus dem Nordwesten ein, also aus der Region Gulma. Als wichtigsten Push-Faktor für die Migration beschreibt N’Dah die politischen Konflikte in und zum Teil auch zwischen den Königshäusern der Songhaï, Mamprusi, Dagomba, Mossi und der Gulmanceba, die meist im Gebiet des Gulma ausgetragen wurden. Wester-mann (1952: 192) konstatiert ebenfalls in seiner Geschichte der Staatenbildungen südlich der Sahara: „Der Zusammenhalt des Reiches [der Gulmanceba; SK] scheint locker und Kampf der einzelnen Teile untereinander häufig gewesen zu sein“. Auch meine Gesprächspartner in der Pendjari gaben als Gründe für die Migration ihrer Vorväter – meist etwas vage – Konflikte zwischen Königshäusern, Dörfern, Klans und Familien an. Keiner meiner Interviewpartner in Fada N´Gourma, Naamunu oder der Pendjari konnten mir zweifelsfrei sagen, wer mit wem in Konflikt stand und aus welchen Gründen. In den von mir aufgezeichneten Erzählungen werden die gewaltsamen Auseinandersetzungen in der Heimatregion ganz deutlich als

Haupt-grund für die Auswanderung dargestellt. Immer wieder wird der Pendjari-Bogen in diesem Zusammenhang von den heute dort lebenden Menschen auch als ein Ort des Friedens idealisiert. Aber auch in der Region des Atakora gab es Plünderun-gen und Sklavenrazzien. Diese waren ein wichtiger Grund für die Siedler, sich in Dörfern zusammenzuschließen, um mehr Schutz zu haben (N’Dah 2009: 426 ff.).

Diese Tendenz, weg von verstreuten Siedlungen, hin zu konzentrierten dörflichen Niederlassungen, wird während der Kolonialzeit und auch nach der Unabhängig-keit verstärkt, wie ich in den entsprechenden Kapiteln später zeigen werde.

Der Gründungsmythos von Tanuogou49

Vor langer Zeit, die im Dorf Tanuogou niemand mehr genau bezif-fern kann, verließ der Jäger Yentagma seine Heimatregion das Gulma im heutigen Burkina Faso50. Um Konflikten in dieser Region aus dem Weg zu gehen51, machte er sich auf, überquerte den Pendjari-Fluss und ging weiter in Richtung des Atakora-Gebirges. So kam er, weni-ge Kilometer vor der Bergkette, ans Mare Bori, einem ganzjährigen Wasserloch, das aufgrund seines Tierreichtums ein hervorragendes Jagdrevier war. Auf einem Berg nicht weit entfernt vom Wasserloch errichtete er zunächst eine Hütte und gründete anschließend das Dorf Tandili was so viel bedeutet wie ‚auf dem Berg‘ (zusammengesetzt aus

Vor langer Zeit, die im Dorf Tanuogou niemand mehr genau bezif-fern kann, verließ der Jäger Yentagma seine Heimatregion das Gulma im heutigen Burkina Faso50. Um Konflikten in dieser Region aus dem Weg zu gehen51, machte er sich auf, überquerte den Pendjari-Fluss und ging weiter in Richtung des Atakora-Gebirges. So kam er, weni-ge Kilometer vor der Bergkette, ans Mare Bori, einem ganzjährigen Wasserloch, das aufgrund seines Tierreichtums ein hervorragendes Jagdrevier war. Auf einem Berg nicht weit entfernt vom Wasserloch errichtete er zunächst eine Hütte und gründete anschließend das Dorf Tandili was so viel bedeutet wie ‚auf dem Berg‘ (zusammengesetzt aus

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