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Verhandlungsprozesse und Macht1.1

Im Dokument "Wir schützen unseren Park". (Seite 25-42)

Verhandlungen zwischen sozialen Akteuren sind grundlegend konstruierende Handlungen, mit denen sie soziale Realitäten (Berger & Luckmann 1969) pro-duzieren. Dem symbolischen Interaktionismus folgend, gehe ich davon aus, dass Akteure in ihrem (alltäglichen) Handeln Objekten und ihrem Handeln selbst Be-deutungen verleihen (Blumer 1998; Turner 1974). Dabei sind Verhandlungsprozes-se immer auch von Machtbeziehungen durchdrungen, die sich in die Konstruktion der sozialen Realitäten und deren Elemente Raum, Norm, Institution und Identität einschreiben.

Verhandlungsprozesse

Weder die Natur noch die Landschaft oder ein Nationalpark, um Beispiele aus dem Kontext meiner Forschung zu nennen, sind gegebene Realitäten, sondern so-ziale Konstruktionen, die durch Verhandlungsprozesse vielfältiger Akteure hervor-gebracht werden (Brockington 2002; Escobar 1999; Greider & Garkovich 1994).

Was Natur oder Landschaften ausmacht oder wie ein Nationalpark ausgestaltet wird, verhandeln Akteure permanent in ihrem Alltag. Sie sind nicht einfach, son-dern sie werden im Handeln konstruiert. Angelehnt an das „doing gender“ von West und Zimmerman (1991) kann man aus praxistheoretischer Perspektive von einem doing nature, doing landscape oder doing national park sprechen. Diese Sichtweise ist stark durch die Foucaultsche Diskurstheorie beeinflusst. Ihr zufolge sind Diskurse

„als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden von denen sie sprechen“ (Foucault 1981: 74). Durch die permanente Reproduktion in den Dis-kursen, also in sozial-konstruktiven Praktiken, wird die Realität der Objekte konst-ruiert und stetig gewandelt. Die Akteure bringen dabei die Objekte wie Landschaft oder Nationalpark hervor und verleihen ihnen symbolische Bedeutungen (Blumer 1998), die je nach Perspektive und Akteur unterschiedlich sein können.

„Landscapes“ are the symbolic environments created by human acts of con-ferring meaning to nature and the environment, of giving the environment definition and form from a particular angle of vision and through a special filter of values and beliefs (Greider & Garkovich 1994: 1).

Werte, Glauben und Weltvorstellungen beeinflussen die Konstruktion der sozialen Realität. Die Landschaft oder jedes andere Objekt kann dadurch auch im Umkehr-schluss als Träger der Werte und Vorstellungen dienen. Dies ist auch der Grund, weshalb Akteure mit divergierenden Weltvorstellungen und Werten häufig eine sehr unterschiedliche soziale Realität mit den Objekten verbinden.

Regeln, Gesetze, Verwaltungsstrukturen, Verträge, Absprachen und Institutio-nen verleihen dem Konstrukt des Nationalparks zwar eine gewisse Stabilität, aber auch sie werden ständig überarbeitet und im Alltagshandeln permanent ignoriert, angefochten, in Frage gestellt, (re-)interpretiert, angepasst und verändert. Auch die Missachtung oder Einhaltung von Regeln im Alltagshandeln sind Teil der Aushand-lung und müssen zur Analyse der Prozesse zur Konstruktion sozialer Realitäten beachtet werden (Gulliver 1979). Dazu zählen insbesondere im Kontext meiner Forschung die Formen alltäglichen Widerstands, die Scott (1985: xvi) als „Weapons of the Weak“ bezeichnete: Verzögerungstaktiken, Verheimlichung, Flucht, vorge-täuschte Zustimmung, Diebstahl, vorgevorge-täuschtes Unwissen, Verleumdung, Brand-stiftung und Sabotage. Ebenso konstruieren und stabilisieren Akteure Identitäten und Institutionen in alltäglichen Routinehandlungen

Routine is integral both to the continuity of the personality of the agent, as he or she moves along the paths of daily activities, and to the institutions of society, which are such only through their continued reproduction (Gid-dens 2004: 60).

Besonders in den expliziten Verhandlungssituationen wie Versammlungen oder dem Austragen von Konflikten spielen Kommunikationsprozesse eine zentrale Rolle.

Negotiation depends on communication. Whatever else goes on during a negotiation, parties attempt to manage their differences and reach agree-ments through exchanges of messages that make up sequences of moves and countermoves. Complementing language use, negotiation interaction is unavoidably situated within physical and social environments that can function as resources for negotiators: location (institutional, architectural), embodiment (posture, gesture, laughter, eye gaze), modes of communica-tion (documents, symbol systems, telephones, e-mails), and social relati-onships. Furthermore, even the “mental” elements of negotiation (goals, planning and strategizing, emotional reactions, evaluating outcomes, etc.) are communicatively constituted, made public, and mutually understood in and through interaction. More than simply representing and conveying information, communication is the means by which social actors create meanings, outcomes, identities, and relationships (Glenn & Susskind 2010:

117).

Aus diesen Gründen beobachtete ich im Feld die von Glenn und Susskind genann-ten Ressourcen, wie institutionelle und architektonische Gegebenheigenann-ten, Körper-haltungen, Kommunikationsmittel und soziale Beziehungen und berücksichtige sie in meinen Analysen. Im Zentrum stehen allerdings, praxistheoretischen Annah-men folgend, die Praktiken mit diesen Ressourcen und die Bedeutungen, die den Ressourcen bzw. Objekten und Körpern im Handeln gegeben werden (Reckwitz 2003: 290).

In den unterschiedlichsten, häufig parallel verlaufenden Konstruktionsprozessen entsteht nicht eine einzige, allgemeingültige, sondern viele parallele, sich teils wider-sprechende soziale Realitäten. Diese Widersprüche können weitere Aushandlungen nach sich ziehen. Welche soziale Realität und welche Akteure sich in den Verhand-lungsprozessen als dominant erweisen oder durchsetzen, hängt von den Machtver-hältnissen zwischen den Beteiligten ab.

Macht

In den Aushandlungsprozessen werden die soziale(n) Ordnung(en) des Raums, die Identitäten sowohl die Normen, Institutionen und Wertvorstellungen (re-)produ-ziert als auch gewandelt. Die Akteure nehmen Bezug auf diese Elemente in ihren Interaktionen und nutzen sie als Ressourcen, um die eigene Position und die ande-rer Akteure zu beeinflussen. Insbesondere die Aushandlung von Institutionen, wie ich sie im empirischen Teil der Arbeit beschreibe, ist durchdrungen von Machtbe-ziehungen und ideologischen Wertungen.

If we look at the kind of governance established as a function of power relations by which a certain constellation of participatory institutions is crafted, we see that we are dealing with power issues and issues of ideology in order to legitimise actions. These ideologies, with their discourses and narratives, are used strategically by all actors in order to structure gover-nance and the underlying institutions for their own gain (Haller & Galvin 2008: 22).

Um die Machtdimensionen in Aushandlungsprozesse adäquat beschreiben zu kön-nen, verbinde ich die klassische Perspektive Webers mit der diskurstheoretischen Perspektive Foucaults. Webers Macht-Definition lautet: „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Wi-derstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“ (Weber 1972:

28). Damit bleibt Webers Sichtweise allerdings blind gegenüber Entscheidungen, die aufgrund einer hegemonialen Beziehung zwischen Akteuren getroffen wurde (Bierschenk 2003: 5). Zum einen werden die bereits angesprochenen „weapons of the weak“ (Scott 1985: 16) vernachlässigt, durch die Akteure häufig ihren Willen nicht aktiv durchsetzen, sondern mithilfe von Vermeidungsstrategien auf domi-nante Durchsetzungsstrategien reagieren. Zum anderen werden (scheinbare)

Kon-sense, die aufgrund dominanter Diskurse bestehen und keine offenen Konflikte auslösen, nicht bedacht, weil hier kein Willen explizit gegen einen anderen oder gar Widerstreben durchgesetzt wird. Dies betont auch Han (2005: 25) mit Bezug auf Foucault (Foucault 1995: 171):

Man vermeidet das Verbrechen in erster Linie nicht aus Furcht vor der Stra-fe, sondern aus Anerkennung der Rechtsordnung, d. h. aus dem Grund, daß das Recht mein Wille, mein eigenstes Tun, meine Freiheit ist. (...) Aber es beruht nicht auf ihm. Und wer nur kraft negativer Sanktion seine Entschei-dung durchzusetzen vermag, hat wenig Macht.

Foucault entwickelt in seinen zahlreichen Abhandlungen zu Macht eine vielschich-tige Perspektive auf diese. Zentral in seinem Verständnis ist, dass die Macht Teil der Produktion von Wirklichkeit ist.

Man muß aufhören, die Wirkungen der Macht immer negativ zu beschrei-ben, als ob sie nur ›ausschließen‹, ›unterdrücken‹, ›verdrängen‹, ›zensieren‹,

›abstrahieren‹, ›maskieren‹, ›verschleiern‹, würde. In Wirklichkeit ist die Macht produktiv; und sie produziert Wirkliches (Foucault 1994: 250).

Widerstände richten sich nicht gegen die Macht, sondern sind immanenter Teil von ihr, durch den bestehende Verhältnisse gewandelt werden. Bestehende hegemoniale Machtverhältnisse werden nicht von außen umgestürzt, sondern permanent neu ausgehandelt, verändert und dabei werden neue Verhältnisse produziert. Es gibt also kein ‚gegen die Macht‘ und kein ‚außerhalb der Macht‘. Macht hat kein Zen-trum, sondern ist Teil der Beziehungen zwischen den handelnden Subjekten, eine Art „produktives Netz (…), das den ganzen sozialen Körper überzieht“ (Foucault 1978: 35).

Eine zentrale Rolle in Foucaults Machttheorie spielt auch der Diskurs. Zum Verhältnis von Diskurs und Macht führt Foucault (1995: 100) aus:

Es handelt sich um ein komplexes und wechselhaftes Spiel, in dem der Diskurs gleichzeitig Machtinstrument und -effekt sein kann, aber auch Hindernis, Gegenlager, Widerstandspunkt und Ausgangspunkt für eine entgegengesetzte Strategie. Der Diskurs befördert und produziert Macht; er verstärkt sie, aber er unterminiert sie auch, er setzt sie aufs Spiel, macht sie zerbrechlich und aufhaltsam.

Durch diese Überlegungen rückt der Fokus von den Chancen und Ressourcen einer Machtausübung, wie Weber sie konzipierte, auf die Konstruktion von Macht-verhältnissen im diskursiven Handeln; und damit verbunden ist immer auch eine Produktion von Wirklichkeit. In meinen Beobachtungen und Analysen betrach-te ich sowohl das diskursive Handeln als auch die Machtressourcen der Akbetrach-teure.

Neben der Konstruktion und Performanz der Macht, spielen auch die Verteilung und die Nutzung solcher Machtressourcen wie Waffen, Geld, Gesetze und Bezie-hungen mit einflussreichen Personen eine wichtige Rolle in der Konstruktion und Ausübung von Macht.

Foucault (1994: 273 ff.) beschreibt in Überwachen und Strafen, wie die Aus-übung der Macht durch die Überwachung bzw. Beobachtung im Verlauf des 18.

Jahrhunderts vom Staat in die Hände der Polizei gelegt wurde. Als Teil der Gesell-schaft beobachtet diese nicht nur Vergehen, sondern alle Aktivitäten der Menschen bis ins kleinste (private) Detail, also auch Verhalten und Einstellungen. Dies erle-digen neben den eigentlichen Polizeibeamten auch verdeckte Ermittler und zivile Beobachter, Spitzel und Denunzianten, die nicht klar als Teil des Polizeikorps zu erkennen sind. Dies zeigt sich im Kontext des Pendjari-Nationalparks besonders deutlich in der Rekrutierung lokaler Akteure für die Überwachung und in der ex-pliziten Aufforderung an Anrainer, Vergehen bei der Parkdirektion anzuzeigen. Weil die Überwachung ein zentrales Element bei der Konstruktion und Durchsetzung von Macht ist, liegt mein besonderes Augenmerk auf dem service de surveillance der Parkverwaltung, der für die Überwachung des gesamten Parkgebietes und der An-rainerdörfer verantwortlich ist. Die Überwachungseinheiten sind verantwortlich für die Einhaltung der Regeln im Raum des Nationalparks und dabei Schlüsselakteure im Prozess der Raumkonstruktion.

Raum 1.2.

Ein Nationalpark ist in vielerlei Hinsicht ein Raum: Er ist ein durch Gesetze und Koordinaten genau bestimmbarer geographischer Raum; er ist als Schutzraum für Tiere, Pflanzen und Landschaft ein funktionaler Raum. Als Lebensraum der Anrainer und als Verantwortungsbereich der Parkverwaltung ist der Park sozialer Interaktions-Raum dessen Grenzen, Bedeutungen und die Anwendung von Regeln sozialen Aushandlungsprozessen unterliegen. Die Vielschichtigkeit des National-parks, den wir als geographischen, funktionalen oder sozialen Raum betrachten können, kann nur durch einen komplexen Raumbegriff erfasst werden. Diesen zu umreißen, ist Ziel dieses Abschnitts. Bevor ich auf unterschiedliche Konzeptionen des Raumbegriffs eingehe, versuche ich eine Annäherung an den Begriff durch sei-ne Etymologie und einige Anmerkungen zu seisei-nem sprachlichen Gebrauch.

Raum in der Sprache

Das deutsche Wort Raum ist abgeleitet vom mittelhochdeutschen rūm oder roum und dem germanischen rūma, was so viel wie Raum, Platz, Lagerstätte bedeutet.

Raum ist ferner eine Substantivierung des germanischen Adjektivs rūma, was ge-räumig bedeutet. Das Verb räumen ist bereits vor langer, nicht weiter bestimmter Zeit im Sinne von roden verwendet worden (Kluge 2002: 747). Besonders durch

die Verbindung zum Roden wird deutlich, dass der Mensch Räume durch sein Handeln konstruiert und sich aneignet. Dabei ist die Urbarmachung eine grund-legende Praxis der Raumkonstruktion, wie im empirischen Teil der Arbeit (Kapitel 3) noch deutlicher wird. Dem Adjektiv rūma liegt die avestische Wurzel rauuah zugrunde, was mit ‚freier Raum’ und Freiheit übersetzt werden kann (ebd.). Aus der Etymologie stechen damit zwei Aspekte hervor, die in der Alltagsverwendung des Begriffs nicht unbedingt deutlich werden: die Freiheit oder Geräumigkeit und der menschliche Einfluss, der durch die Urbarmachung unterstrichen wird. Diese beiden Aspekte werden sich später auch in dem von mir verwendeten Konzept von Raum wiederfinden. In ihm werden die Möglichkeiten, die der Raum bietet, stär-ker betont als seine begrenzend einschränkende Wirkung und sein konstruierter und konstruierender Charakter wird ebenfalls im Vordergrund stehen.

Durch die sprachliche Analyse des Raumbegriffs werden weitere Eigenschaften des Konzepts ‚Raum’ deutlich. Im Deutschen bezeichnet der Raum gleichzeitig: a) etwas sehr Konkretes, den Raum, der durch Wände, Boden und Decke klar definiert ist und b) etwas sehr Abstraktes, den Weltraum oder Weltenraum, in dem sich alles befindet, was wir kennen und noch viel mehr. Dies ist im Englischen oder Französi-schen klarer getrennt (room – space, chambre – espace). Vielleicht fällt es deshalb bei Verwendung der deutschen Sprache oft schwer, sich ausschließlich mit dem abstrak-ten Begriff des Raums, im Sinne von space / espace, auseinander zu setzen. Allerdings ist es gleichzeitig ein Vorteil, sich immer auch die konkreten Aspekte des Raums vor Augen zu führen, denn wir handeln nicht im Weltraum, sondern in Kammern, in Parks, in Jagdgebieten, in der Nähe von Bäumen und so weiter (siehe dazu auch In-gold 2011 „Against space“). Dort argumentiert er, dass die Akteure mit dem Raum, im Sinne von room / chambre, umgehen und dort ihre soziale Realität konstruieren.

Of all the terms we use to describe the world we inhabit, (…) [space; SK] is the most abstract, the most empty, the most detached from the realities of life and experience. (...) Throughout history, whether as hunters and gathe-rers, farmers or herders of livestock, people have drawn a living from the land, not from space. Farmers plant their crops in the earth, not in space, and harvest them form fields, not from space. Their animals graze pastu-res, not space. Travelers make their way through the country, not through space, and as they walk or stand they plant their feet on the ground, not in space. Painters set up their easels in the landscape, not in space. Then we are at home, we are indoors, not in space, and when we go outdoors we are in the open, not in space. Casting our eyes upwards, we see the sky, not space, and on a windy day we feel the air, not space. Space is nothing, and because it is nothing it cannot truly be inhabited at all (Ingold 2011: 73).

Aus diesem Grund beziehe ich in meine Analyse der Raumkonstruktion neben den Verhandlungssituationen auch alltägliche Handlungen mit ein, die auf den Feldern, in den Dörfern und im Innern des Nationalparks geschehen.

Raum in den Sozialwissenschaften

Die Geschichte des Raumbegriffs in den Sozialwissenschaften lässt sich darstellen als Entwicklung auf einem Kontinuum zwischen den Extrempunkten des ‚phy-sisch geografischen Raums als essentiell gegebener, materieller Körper‘ bis zum

‚ausschließlich sozial produzierten Konstrukt menschlichen Handelns‘. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts beschäftigte sich Durkheim (1984) mit Raum als sozi-alwissenschaftlichem Objekt. In seiner „sozialen Morphologie“ legt er dar, dass der Boden nicht das räumliche Substrat ist, das die soziale Organisation determiniert wie andere Wissenschaftler, beispielsweise Durkheims Zeitgenosse, der Geograph Friedrich Ratzel, es postulierten (Dünne 2006: 289). Zu Beginn des 20. Jahrhun-derts hebt Simmel (1992 [zuerst 1903] und besonders 1995) die Formbarkeit des Raums durch die sozialen Akteure hervor und kann daher als ein Wegbereiter des spatial turn gesehen werden. Er erklärt, dass die Art und Weise wie Menschen Räu-me wahrnehRäu-men und entsprechend mit ihnen umgehen durch ihre soziale Organi-sation bedingt ist. Einen präexistierenden, objektiven Raum wie in der traditionel-len Newtonschen Vorstellung gibt es in den Überlegungen Simmels praktisch nicht mehr (Dünne 2006: 290).

Trotz dieser Vorarbeiten wurde Raum in den kommenden Jahrzehnten zu kei-nem zentralen Objekt der Sozialwissenschaften. Erst Ende der 1960er Jahre und besonders seit den 1970er und 1980er Jahren wurde Raum wieder zu einem promi-nenteren Thema. Vor allem in Frankreich, Großbritannien und den USA wenden sich Geographen, Soziologen und Historiker wieder verstärkt dem Raum zu. In diesem Zusammenhang sind vor allem einige der französischen Vordenker zu er-wähnen, die meine Arbeit stark beeinflusst haben: Henri Lefebvre (2000), Michel de Certeau (1990), Pierre Bourdieu (1998), Pierre Nora (2002), Fernand Braudel (1992) und der Ethnologe Marc Augé (1986). Im angelsächsischen Raum sind, um eine sehr enge Auswahl zu treffen, die Arbeiten der Geographen Yi-Fu Tuan (1977), David Harvey (1969), Edward Soja (1996) sowie der Ethnologinnen Low und Lawrence-Zúñiga (2003b) erwähnenswert.

In Deutschland war der Begriff des Raums noch lange über den 2. Weltkrieg hi-naus tabuisiert, weil er durch die Nazi-Propaganda eine stark negative Konnotation erhalten hatte (Löw 2001: 11 ff.; Piltz 2008: 76; Schlögel 2003: 52 ff.). Aus diesem Grunde wurde er in Deutschland erst später wieder aufgegriffen. Zu den wichtigs-ten deutschsprachigen Arbeiwichtigs-ten zählt Martina Löws Raumsoziologie (Löw 2001).

Auf sie gehe ich im folgenden Abschnitt detaillierter ein, in welchem ich die meiner Arbeit zugrunde liegenden, raumtheoretischen Überlegungen darstelle.

Raumkonstruktion

Raum ist kein bloßer Container, der durch Koordinaten oder physische Punkte ausreichend beschrieben wäre. Darüber herrscht in den Sozialwissenschaften und der Humangeographie mittlerweile Einigkeit. Die als essentialistisch oder auch

ab-solut bezeichnete Auffassung von Raum wurde bereits von Durkheim (1981) als unzureichend und wenig erkenntnisreich für die Sozialwissenschaften erkannt. In der neueren Theorie-Literatur wird Raum durchweg als Produkt sozialer Handlung verstanden. In diesem Abschnitt leite ich meine Sichtweise auf Raum aus der theo-retischen Literatur her und wende mich dabei vor allem folgenden Fragen zu: Was ist überhaupt Raum? Was bestimmt den Raum oder anders gefragt, welche struktu-rellen Elemente und welche Handlungen machen den Raum aus? Darin enthalten ist die Frage, inwiefern die materiellen Gegebenheiten eines Raums seine Konstruk-tion vorstrukturieren. Wodurch wird Raum konstituiert? Und schließlich, wie wird Raum zu einer sozialen, handlungsleitenden Struktur?

Ich beginne diesen Abschnitt mit der Herleitung einer Arbeitsdefinition von Raum, die ich anschließend untermauern werde. Löw (2001: 15) folgend gehe ich nicht mehr, wie in der Soziologie lange Zeit üblich, von einer Trennung in materi-ellen und sozialen Raum aus, sondern von einem Raum, der soziale, materielle und symbolische Komponenten vereint. Aus dieser Perspektive gibt es keinen sozialen Raum, der nur als Idee bestünde, ohne in der materiellen Welt zu existieren und eben so wenig gibt es einen materiellen Raum, dessen Betrachtung nicht gesellschaftlich beeinflusst ist. Damit überwindet Löw auch die beiden Extrempositionen: auf der einen Seite das absolutistische Raumverständnis, das von einem objektiv existie-renden Raum ausgeht und sich auf ein physikalisch euklidisches Verständnis von Raum stützt, und auf der anderen Seite das rein konstruktivistische Verständnis von Raum, das seinen physischen Erscheinungsformen keinerlei Bedeutung zuspricht.

Außerdem verbindet Löw Raum als strukturelle Komponente mit sozialer Hand-lung in ihrer Raumtheorie, indem sie Raum zusammenhängend und prozesshaft als „relationale (An)Ordnung von Körpern“ versteht. Dabei geht der Raum nicht der Handlung voraus, sondern wird im Prozess des Handelns als soziale Realität produziert.

Um nicht zwei verschiedene Realitäten; Raum und Handeln, zu unterstel-len, knüpfe ich an relativistische Raumvorstellungen an und verstehe – als Arbeitshypothese – Raum als eine relationale (An)Ordnung von Körpern, welche unaufhörlich in Bewegung sind, wodurch sich die (An)Ordnung selbst ständig verändert. Das bedeutet, Raum konstituiert sich auch in der Zeit. Raum kann demnach nicht der starre Behälter sein, der unabhängig von den sozialen und materiellen Verhältnissen existiert, sondern Raum und Körperwelt sind verwoben. Durch den Begriff der (An)Ordnung mit der hier gewählten Schreibweise wird betont, daß Räumen sowohl eine Ordnungsdimension, die auf gesellschaftliche Strukturen verweist, als auch eine Handlungsdimension, das heißt der Prozess des Anordnens, inne-wohnt (Löw 2001: 131).

Löw plädiert ferner für eine komplette Überwindung der Dualität von Naturraum und Sozialraum zugunsten des Monismus eines sozialen Interaktionsraums, der

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