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Zur Vielschichtigkeit von ‚Kultur‘

Im Dokument Vorwort und Danksagung (Seite 68-75)

an professionelles Schreiben

1.3  Texte im kulturellen und situativen Kontext

1.3.5  Zur Vielschichtigkeit von ‚Kultur‘

Kommunikation und Kultur hängen eng zusammen: Wenn Kultur als „Kommu-nikationsphänomen“ (Eco 1972:  33) aufgefasst wird, sind kulturelle Aspekte als Inhalte von Kommunikation zu verstehen, und kommunikative Konventionen dementsprechend kulturspezifisch zu analysieren. Professionelles Schreiben (in mehreren Sprachen) erfordert Wissenskomponenten, die über Sprachkompetenz und (allgemeine) Textgrammatik hinausgehen: Das für die Textkompetenz nötige

„Kulturwissen“ wird über „Enkulturation“ erworben, durch „unzählige Erfahrun-gen mit Texten“, die „als intertextuelles Wissen in unseren Köpfen gespeichert sind“ (Resch 2006:  27). Umgekehrt werden „die kulturellen und subkulturellen Realitäten“ aber auch „durch Texte und Kommunikation konstruiert“ (Resch 2006: 36). Wie der Aspekt ‚Kultur‘ in der Arbeit mit Texten konzipiert wird, hängt vom zugrunde liegenden Kulturkonzept ab. Busch (2008) unterscheidet zwischen primordialen Kulturkonzepten, die Kultur als einen definierbaren Einflussfaktor auf Individuen betrachten (denen dieser Einfluss gar nicht unbedingt bewusst ist) und konstruktivistischen Kulturkonzepten, die davon ausgehen, dass Individuen in ihren und durch ihre Interaktionen Kultur erst erschaffen. Nach dieser Auffassung ist die Vorstellung der Existenz von ‚Kultur‘ sowie interkulturellen (oder trans-kulturellen) Bezügen eine Konstruktion (vgl. Busch 2008: 141–143). Texte können nach beiden Auffassungen als ‚Kulturträger‘ verstanden werden, die Verantwor-tung der Verfasser*innen dieser Texte wird jedoch unterschiedlich konzipiert.

Während nach einem primordialen Kulturkonzept Schreiber*innen ‚Kultur aus-führen‘, erweisen sie sich nach einem konstruktivistischen Konzept als Mitgestal-ter*innen von Kultur und können Handlungsmöglichkeiten bei der Textgestaltung vielschichtiger ausschöpfen. Dies ist für professionelles Schreiben in mehreren Sprachen zentral. Die Handlungsmöglichkeiten einzelner prägen zusammenge-nommen kulturelle Konventionen – und Sprachverwendung.

Reiß/Vermeer (1984) betonen in der Allgemeinen Translationstheorie den Zusam-menhang von Kultur und Text und verorten die „soziokulturelle Einbettung“

eines Texts als ausschlaggebenden Faktor für das Übersetzen. Sie gehen noch einen Schritt weiter und verweisen auf einen Zusammenhang zwischen Kultur und Sprache, der Sprache – zumindest teilweise – als ein Produkt der Kultur ver-steht: „natürliche Sprachen werden nicht in der Retorte hergestellt, sondern von der Kultur, von welcher sie ein Teil sind, geprägt“ (Reiß/Vermeer 1984: 152). Die Berücksichtigung der Dimension ‚Kultur‘ schafft einerseits eine weitere Analyse-ebene jenseits von Kommunikationssituation und Domäne, die bestimmte Prakti-ken in ihrer sozialen Einbettung und Konventionalisierung besser nachvollziehbar machen kann, indem berücksichtigt wird, dass Konventionalisierung auf Üblich-keiten in bestimmten Gemeinschaften basiert und nicht auf NotwendigÜblich-keiten, die in der Natur der Sache liegen würden. In dieser Hinsicht hat das Einbeziehen kul-tureller Bezüge Wichtiges für Textanalyse und Translationswissenschaft geleistet.

Darüber hinaus stellt sich in der extensionalen Dimension die Frage nach der Gemeinschaft, die mit einer bestimmten ‚Kultur‘ in Verbindung gebracht wird.

Millner (2018) verweist – aus literaturwissenschaftlicher Perspektive – in diesem Zusammenhang auf ein grundsätzliches Dilemma: Einerseits braucht es Katego-rien, um komplexe soziale Phänomene beschreibbar und damit analysierbar zu machen, andererseits „muss unaufhörlich berücksichtigt werden, dass die Katego-rien mit dem Präfix ‚trans-‘ zu denken sind“ (Millner 2018: 44). Ein ähnliches Prob-lem stellt sich beim professionellen Schreiben: Einerseits helfen Kategorisierungen und Musterlösungen bei der Textproduktion, andererseits dürfen diese nicht zu starr angelegt sein und müssen die Möglichkeit bieten, weitere Faktoren der Kom-munikationssituation zu berücksichtigen.

Dies gilt insbesondere für die Kulturspezifik von Texten und Textsorten in trans-kultureller Kommunikation. Mit ethnisierend-homogenisierenden Vorstellungen von Kultur16 lassen sich dynamische transkulturelle Beziehungen nicht durchdrin-gen. Wenn Gemeinschaften und ihre Wertsysteme homogen und statisch vorgestellt werden, birgt dies die Gefahr der Fortschreibung von Machtverhältnissen auf Basis von Kulturalisierung (vgl. Heinemann 2015: 78f) oder des Missbrauchs von ‚Kultur‘

zur Verteidigung von Identitäten (vgl. Messerschmidt 2015: 7), und erschwert den reflektierten, professionellen Umgang mit ‚Kultur‘ und ihrer Rolle in Texten.

16 Mit ethnisierend-homogenisierenden Vorstellungen von Kultur sind Konzeptionen von Kultur gemeint, die Kultur ethnisch interpretieren, also auf Völker oder Natio-nen beziehen und damit implizieren, dass die Angehörigen eines Volkes oder einer Nation auch eine – relative homogene – kulturelle Einheit bilden. Dies bildet die Grundlage für Othering und Diskriminierung. Im professionellen Schreiben ist mit solchen Vorstellungen das Risiko verbunden, Kommunikationssituationen verzerrt und verkürzt einzuschätzen und Adressat*innen mit nicht haltbaren Vorurteilen zu begegnen (für genauere Ausführungen und eine kritische Sicht vgl. Cooke/Deng-scherz 2019: 70f und DengCooke/Deng-scherz/Cooke i.V.).

Ein differenzierter Umgang mit Kultur kommt also nicht umhin, sich mit Hyb-ridität und Dynamik auseinanderzusetzen. Dies gilt für die Bildungsdebatte (vgl.

Mecheril et  al. 2010) oder Literaturwissenschaft (vgl. Millner 2018), ebenso wie für die Translationswissenschaft (vgl. Kaiser-Cooke 2004:  209). Adressat*innen gehören unterschiedlichen Arten von Diskursgemeinschaften und kulturellen Schichtungen an, zwischen denen keine klaren Grenzen gezogen werden können.

Diskursgemeinschaften und Kulturen sind keine statischen Gebilde. Sie sind viel-mehr durch Aushandlungsprozesse entlang verschiedenster Diskurs- und Diffe-renzlinien geprägt. Die Komplexität zur Kenntnis zu nehmen, bedeutet aber nicht, dass Unterschiede oder an bestimmte Diskursgemeinschaften gebundene Konven-tionen negiert werden müssen. Dies würde an den Erfordernissen der Adressat*in-nen-Orientierung vorbeigehen. Realistische Annahmen über die Leser*innenschaft der Zieltexte sind bei der Translation ebenso wichtig wie im professionellen Schreiben.

Der Komplexität kann zunächst einmal durch weitere Differenzierung Rech-nung getragen werden, indem z.B.  unterschiedliche Schichtungen von ‚Kultur‘

berücksichtigt werden (wie etwa bei Layes 2005). Garcia (2018: 98) nennt diese Schichtungen „Bildschichten“. Mit solchen Konzepten können auch Differenz-linien innerhalb von Diskursgemeinschaften in die Analyse einbezogen werden.

Pogner (1997: 141) plädiert für „eine stärker sozial-interaktionistische Sichtweise“, die nicht „von statischen Kontexten und der Beeinflussung oder gar Determi-nierung konkreter Interaktionen durch Normen, Einstellungen und Werte einer Diskursgemeinschaft“ ausgeht, sondern die dynamischen Kontextveränderungen während des Aushandlungsprozesses und der fortschreitenden Arbeit am Text in den Blick nimmt (vgl. Pogner 1997: 145).

Differenzen zwischen Gruppen von Adressat*innen können in einer Matrix von Mehrfachzugehörigkeiten gedacht werden, zwischen denen zudem teilweise intersektionale Wechselwirkungen bestehen (vgl. Millner 2018: 35). Wenn wir von einem Kulturbegriff ausgehen, der auf Hybridität und dynamischen Aushandlungs-prozessen beruht, bedeutet dies allerdings, dass wir darauf verzichten müssen, klar abgrenzbare Gruppen oder ‚Kulturen‘ zu konstruieren (vgl. Kaiser-Cooke 2004: 210 und Cooke/Dengscherz 2019). Wir texten nicht für die französische, ungarische, britische, amerikanische, deutsche oder österreichische Kultur – und Texte sind nicht als „Fenster in die ‚fremde Kultur‘ “ zu versehen, sondern in ihrer „Mehr-deutigkeit und Ambivalenz“ zu verstehen, wie Schweiger (2013: 61) in Bezug auf kulturbezogenes Lernen über literarische Texte feststellt.

Die Notwendigkeit einer kritischen Reflexion der extensionalen Ebene von

‚Kultur‘ ergibt sich zum Teil durch die inhaltliche Erweiterung des Gegen-standsbereichs von der Hochkultur hin zu einer den Alltag (mit-)bestimmenden Größe: Gerade dann, wenn Kultur als Interpretation von Realität verstanden wird, die sich auf alle Lebensbereiche auswirkt, wird die Frage danach, wer denn die Träger*innen dieser Kultur sind, umso virulenter. Interpretationen von Realität machen an keinen Grenzen Halt, werden nicht von allen Mitgliedern einer Gruppe geteilt und sind nicht auf eine Gruppe beschränkt. Die inhaltliche Erweiterung

von einem engen, auf Hochkultur beschränkten Kulturbegriff, der sich im Wesent-lichen mit kulturellen Artefakten auseinandersetzt, hin zu einem Kulturbegriff, der die Lebensweisen und Wahrnehmungen von Menschen und ihre Sprache mit ein-bezieht, erfordert somit Neukonzeptionen im Hinblick auf die extensionale Ebene von Kultur, also auf die Zuordnung von Kultur zu bestimmten Kollektiven (vgl.

Dengscherz 2018e: 233).

„Kultur insgesamt als Text zu betrachten“ (Lubkoll 2010:  228)  – und somit dann doch wieder als Artefakt  –, löst das Problem der Aushandlung zwischen inhaltlicher und extensionaler Dimension noch nicht. Es braucht vielmehr neue Aushandlungsprozesse, die derzeit in mehreren Disziplinen parallel und mit unter-schiedlichen Schwerpunktsetzungen im Gange sind: in der Mehrsprachigkeitsfor-schung (vgl. Kap. 4), der Kulturwissenschaft und der Kommunikationswissenschaft, in Bildungs- und Erziehungswissenschaft, in Deutsch als Zweitsprache und Mig-rationsforschung oder in der Transkulturellen Kommunikation. Die Grundsatz-diskussionen kreisen um Dynamik, Hybridität sowie um Fragen der Gruppierung bzw. Schichtungen und verschiedene Formen von Diskriminierung. Die Konstruk-tion von Zuschreibungen in sozialen Praxen und die Verknüpfungen von Diffe-renzkategorien werden über Analysen von Intersektionalität kritisch beleuchtet (Winker/Degele 2009: 63).

Was bedeutet dies für das professionelle Schreiben in mehreren Sprachen und für transkulturelle Kommunikation? Wie bereits erwähnt, müssen Anforderun-gen des Zieltexts im Hinblick auf Kommunikationssituation und Adressat*innen-Orientierung beim professionellen Schreiben zuerst einmal imaginiert werden.

Dies bedeutet, dass Schreiber*innen gewisse Vorannahmen über ihre Leser*innen haben und bis zu einem gewissen Grad auch brauchen. Für professionelle trans-kulturelle Kommunikation sind aber möglichst realistische und damit differen-zierte Vorannahmen nötig, die homogenisierend-ethnisierende Zuschreibungen und Vereinfachungen vermeiden und dafür dynamische Entwicklungen berück-sichtigen.

Konzepte wie Parakultur, Diakultur, Idiokultur, Regiokultur, Soziokultur etc.

(vgl. Vermeer 2006: 157) tragen dieser Problematik Rechnung, indem sie auf Lage-rungen von unterschiedlichen GruppieLage-rungen und Schichten über- und ineinan-der verweisen, und dadurch die Komplexität kultureller Geflechte andeuten. Es bleibt allerdings die Frage offen, worauf sich diese Schichten jeweils beziehen (vgl. Pöchhacker 1994: 69–71). Witte (2007) spricht sich dafür aus, von einer fixen Zuordnung abzusehen und die Konzepte variabel je nach Analysesituation einzu-setzen: Die „Parakultur“ wäre damit jeweils die „fallspezifisch oberste Analyse-ebene“ und „Ein- und Abgrenzung von Para-, Dia- und Idiokultur(en) sowie die Zuordnung von Personen(-gruppen) oder Phänomenen zu den einzelnen Ebenen geschehen aus vergleichender Perspektive in Abhängigkeit vom jeweiligen Analy-seziel“ (Witte 2007: 60). Auch Framson (2011: 16) versucht die extensionale Dimen-sion des Kulturbegriffs flexibel zu fassen. Sie versteht „Kultur“ als ein „System von Normen und Regeln für das Denken und Verhalten von Menschen innerhalb einer Gruppe“, wobei nicht von vornherein definiert ist, um welche Art von „Gruppe“ es

sich handelt.17 Dieser Flexibilität ist einiges abzugewinnen – sofern bei der jewei-ligen Analyse dann genau genug ‚hingeschaut‘ wird und nicht ein ethnisierend-homogenisierender Kulturbegriff den Blick auf die Zusammenhänge verstellt.

Diese Aspekte haben Auswirkungen auf die Distribution der Begriffe ‚inter-kulturell‘ und ‚trans‚inter-kulturell‘ (vgl. Schweiger 2013). Die Grenzüberschreitung und vor allem: Grenzauflösung kommt im von Wolfgang Welsch 1991 vorgeschlagenen Terminus transkulturell besonders deutlich zum Ausdruck (vgl. Welsch 1997: 81), während bei ‚interkulturell‘ und ‚multikulturell‘ Grenzen bestehen bleiben, die – bilateral bzw. multilateral – überbrückt werden sollen. Somit könnten die Begriffe komplementär gebraucht werden, wie Saal (2014: 43) vorschlägt. Die Differenzie-rung verläuft allerdings häufig eher nach ideologischen Grenzziehungen, die mit bestimmten Diskurspositionen einhergehen; z.B. wird der Begriff ‚interkulturell‘

häufig mit homogenisierenden Kulturmodellen in Verbindung gebracht, wie sie in

‚Interkulturellen Trainings‘ verbreitet sind (vgl. Castro Varela 2010). Eine Grund-lage für solche vereinfachten Vorstellungen liefern Studien, die statische und wenig differenzierte Aussagen über ‚Kulturen‘ treffen, wie etwa jene zu den ‚Kul-turdimensionen‘ von Hofstede/Hofstede/Minkov (2010).

Eine Integration von Aspekten der Interkulturalität und Transkulturalität wird im Konzept der Transdifferenz versucht: Es berücksichtigt Mehrfachzugehörigkei-ten, Instabilität und Prozesshaftigkeit und bietet „die Möglichkeit, die Grenzzie-hungen und binären Oppositionen, auf denen die ihrerseits kulturell konstruierten Kategorien basieren, temporär zu überwinden, ohne die Unterscheidung zwischen Intra- und Interkulturellem aufzulösen“ (Millner 2018: 37). Roche versteht „aufge-klärte Mehrkulturalität“ im Sinne von Transdifferenz (Roche 2018: 67).

Gerade im Hinblick auf professionelles Schreiben in mehreren Sprachen kann ein differenzierter Umgang mit dem Kulturbegriff die Gefahr mildern, „Vorurtei-len gegenüber fremden Wissenschaftskulturen“ (Kaiser 2003: 305) zu erliegen oder kulturelle Zuschreibungen zu treffen, die zwar als bequemes Erklärungsmodell herhalten können, aber dann oft nur selektive Aspekte erhellen (vgl. z.B. Stahlberg 2014: 311) – und viele andere außer Acht lassen (vgl. Abschnitt 4.1.). Texte sind Teil (kulturell bedingter) Diskurse, werden von ihnen bestimmt und bestimmen sie maßgeblich mit. Wie präzise – oder wie oberflächlich – die Auseinanderset-zung mit „Kulturwissen“ ausfällt, hängt nicht zuletzt davon ab, wie differenziert

„Kultur“ interpretiert wird (vgl. Reyhner 2013: 78). Heinemann (2015: 80f) betont die Wichtigkeit von Reflexion im Hinblick auf den Umgang mit Kultur: Neben der Reflexion der eigenen Positionierung gehören dazu ein kritisches Bewusstsein für

17 Framson räumt ein, dass die Reduktion auf die Größe „Land“ oder „Nation“ eine

„Vereinfachung“ darstellt, dass Kulturen in Subkulturen unterteilt werden können (Jugendgruppen, Unternehmen, Fachgruppen, Sportvereinen etc.) und dass „trans-kulturelle Kommunikation auch zwischen Subgruppen erfolgt“. Die Vorstellung von Land/Nation bleibt allerdings als übergeordnete Größe erhalten, auch wenn Framson (2011: 21) die Rolle von situativen Faktoren einbezieht.

den Umgang mit Sprache im Wissen um ihre performative Wirkung und eine kri-tische Reflexion der Bildung von Kategorien und Gruppen, die stete Wachsamkeit gegenüber einem potentiellen Weiterschreiben von rassistischen oder anderweitig diskriminierenden Diskursen einschließt, denen durch sprachliche Dekonstruk-tion entgegengewirkt werden kann. Hilfreich dabei ist die Analyse intersekDekonstruk-tiona- intersektiona-ler Muster in sozialen Praxen (vgl. Winker/Degele 2009: 63f).

Kritische Reflexionen zu ‚Kultur‘ und ihrer Bedeutung in Language practice und Textgestaltung münden zwangsläufig in eine Problematisierung der Begriffe ‚gangskultur‘ und ‚Zielkultur‘ im Kontext translatorischer Textanalyse. Die Aus-einandersetzung mit der Dimension ‚Kultur‘ hat für die Translation Wesentliches geleistet: Sie hat dazu geführt, dass es als ‚state of the art‘ gilt, Texte im Kontext ihrer Kommunikationssituation wahrzunehmen und zu interpretieren, was dazu führt, dass die Aufmerksamkeit auf Texte gelenkt, also das Überschreiten der Satz-grenze zum Programm gemacht wird. Die Fokussierung auf Kultur hat damit einen Paradigmenwechsel herbeigeführt (vgl. Prunč 2012: 282). In der Praxis kommt es aber häufig zu einer Komplexitätsreduktion im Umgang mit Kulturalität, die kul-turalistisch-vereinfachende Ergebnisse zeitigt (für eine kritische Auseinanderset-zung vgl. z.B. Foitzik 2014). Studierenden fällt es oft nicht leicht, differenziertere Konzepte (vgl. z.B. Welsch 2010 oder Saal 2014) in ihre Analyse- und Textproduk-tionspraxis einzubeziehen (vgl. Dengscherz 2018e). Möglicherweise sind mittler-weile weitere Konzepte erforderlich, die die Skepsis gegenüber dem Kulturbegriff, die in unterschiedlichen Fachdiskursen (inkl. der Translationswissenschaft) längst verbreitet ist, verstärkt für die Translationsdidaktik aufbereiten. Zwar ist Kaiser-Cooke (2004: 212) durchaus recht zu geben, dass es noch keineswegs eine Essentia-lisierung von Kultur bedeutet, wenn von Kultur und Kulturen (culture and cultures) gesprochen wird und nicht nur von kultureller Diversität (cultural diversity). In der Praxis besteht die Gefahr einer Essentialisierung (durch missverstandene oder verkürzte Diskurse zu Kultur) aber durchaus (vgl. Dengscherz 2018e).

Abgesehen von Fragen der Hybridität und Schichtung ist die Frage der Dynamik und Prozesshaftigkeit von Kultur ein wesentlicher Aspekt in transkultureller Kom-munikation. Wenn Texte in ihrem kulturellen Kontext untersucht werden sollen, geht es darum, sie in ihrem Verwendungskontext zu erfassen, d.h. in ihrer Rolle in der jeweiligen Diskursgemeinschaft. Es geht also um interaktionäre Zusammen-hänge, und damit um Prozesse.

Kaiser-Cooke (2004: 169) betrachtet Kultur aus einer evolutionären Perspektive als Ergebnis der Interaktion von Menschen mit ihrer Umwelt: Kultur ist – in der Momentaufnahme – also ein Produkt, das aus vorhergehenden Prozessen resul-tiert, differenzierter und individualisierter Weltbetrachtung, die das Verhältnis von Menschen zu ihrer Umwelt mitsteuert und Interpretationen von Gegebenheiten beeinflusst. Kaiser-Cooke illustriert anhand eines Beispiels aus der Tierwelt, wie Lebewesen abhängig von ihren Interessen und Lebensbedingungen Umwelt unter-schiedlich wahrnehmen: Ein Frosch hat eine andere Vorstellung von einem Teich als ein Fisch. Beide Sichtweisen haben ihre Berechtigung und beziehen sich auf dieselbe Realität. Sie unterscheiden sich dadurch, dass sie jeweils unterschiedliche

Aspekte dieser Realität betrachten und unterschiedliche Perspektiven darauf ein-nehmen. Diese Perspektiven sind aber kompatibel miteinander, indem sie unter-schiedliche Interpretationen derselben Realität darstellen. Das gleiche gelte für menschliche Kulturen: Sie können als unterschiedliche Theorien über die Realität gesehen werden, die einerseits untereinander kompatibel sind und andererseits miteinander vernetzt. Sprachen, die dabei als Artikulationen von „theories-as-cul-tures“ fungieren, sind dadurch ebenfalls vergleichbar – als Tertium Comparationis dient die außersprachliche Wirklichkeit (vgl. Kaiser-Cooke 2004: 180).

Es geht hier also um einen weit gefassten Kulturbegriff, um Kultur als Interpre-tation von Wirklichkeit, um ‚Theorien über die Welt‘. Sie geben den Kontext ab, in dem Texte verfasst und rezipiert werden. Der ‚Zustand‘ einer bestimmten ‚Kultur‘

stellt nur eine Momentaufnahme aus einem andauernden Prozess dar, bzw. einen Ausschnitt aus mehreren parallelen, vernetzten und/oder gegenläufigen Prozes-sen. Ähnlich wie im vernetzten wissenschaftlichen Diskurs sind Texte nicht nur einer einzelnen Diskursposition zuzuordnen, sondern einem ganzen „diskursiven Gewimmel“ (Jäger/Jäger 2007: 25). Kulturelle Bezüge sind als Netzwerkbeziehun-gen zu verstehen, hybrid und dynamisch. Diese Hybridität und Dynamik kommt im per definitionem Grenzen überschreitenden und auflösenden Terminus ‚trans-kulturell‘ zum Ausdruck.

Professionelle Schreiber*innen können (und müssen) sich kulturelle Bezüge und kulturelles Wissen erarbeiten. So wie die Menschheit durch die Evolution, wachsen einzelne Menschen durch Sozialisierungsprozesse in ein vielschichtiges kulturelles Umfeld hinein. Kultur ist etwas, das mit anderen geteilt wird, eine gemeinsame Basis. Die Kulturträger*innen können zwei Personen sein, eine Familie, eine Ins-titution, eine ganze Nation oder noch größere Gruppen (vgl. Hanenberg 2009: 98).

Gruppierungen können quer zu Sprachen oder geographischen Grenzen liegen, etwa wenn Disziplinen oder Internationale Vereinigungen als Kulturen verstanden werden. Den hier diskutierten wissenschaftlichen Spielarten eines differenzierten Verständnisses von ‚Kultur‘ steht allerdings ein – relativ weitverbreitetes – All-tagsverständnis von ‚Kultur‘ gegenüber, das häufig ‚Kulturen‘ nach wie vor nach nationalen, sprachlichen oder regionalen Grenzen begreift, die gegenständliche Erweiterung des Begriffs (von der ‚Hochkultur‘ zur lebensweltlich bestimmenden Größe) aber mit vollzogen hat. Damit haftet dem Begriff ‚Kultur‘ etwas Problema-tisches an, wenn er extensional zu eng gefasst wird und dadurch ethnisierend-ho-mogenisierende Zuschreibungen ermöglicht.

Wenn im Gegenzug aber in Bezug auf ‚Kultur‘ der „Umgang mit dem Nicht-Verstehen und dem Nicht-Wissen“ (Heinemann 2015: 75) zur zentralen Kompe-tenz erhoben wird, bietet dies nur noch wenig Anhaltspunkte für professionelles Schreiben. Mit „Kompetenzlosigkeitskompetenz“ (Mecheril 2002) lassen sich zwar unrealistische Zuschreibungen vermeiden, Adressat*innen-Orientierung in Texten lässt sich damit allerdings schwerlich umsetzen: Zielgruppenorientierung ist auf gewisse Vorannahmen angewiesen. Allerdings ist dabei eine gewisse „Demut vor der Begrenztheit eigener Erkenntnis“ (Kammhuber 2012:  173) angebracht, denn mit ethnisierend-homogenisierenden Vorstellungen von rein über die Dimension

‚Kultur‘ definierten Zielgruppen wird professionelle Adressat*innen-Orientierung erst recht nicht gelingen. Denn „kulturelle Formen und Inhalte“ sollten nicht „mit der Unausweichlichkeit kultureller Prägung“ verwechselt werden (vgl. Hanenberg 2009: 112).

Meinen Beobachtungen in der Lehre zufolge tragen Studierende das oben erwähnte vereinfachende Alltagsverständnis von Kultur häufig in professionelle Schreibsituationen hinein, vor allem dann, wenn mehrsprachig gearbeitet wird.

Für die translatorische Textanalyse eigentlich wichtige Konzepte wie Ausgangs-kultur/Zielkultur können als ‚Türen‘ fungieren, über die vereinfachende, homo-genisierende Vorstellungen in die Textanalyse gelangen. In meinen Ausführungen verzichte ich deshalb (weitgehend) auf die Begriffe Ausgangskultur/Zielkultur.

Stattdessen verweise ich vorwiegend auf Diskursgemeinschaften oder Erfordernisse des Zieltexts in der Kommunikationssituation. Auf diese Weise soll die Distanzie-rung von homogenisierend-ethnisierenden Kulturkonzepten erleichtert werden.

Während der Kulturbegriff zuweilen immer noch auf ganze Sprachgemein-schaften und Völker bezogen wird (vgl. z.B. die Kritik an Interkulturellen Trainings von Castro Varela 2010), ist dies beim Konzept der „Diskursgemeinschaft“ weniger stark der Fall. Diskursgemeinschaft darf allerdings nicht mit Sprachgemeinschaft verwechselt werden (vgl. Swales 1990: 23f). Bei der Berücksichtigung der Rolle von Diskursgemeinschaften geht es nicht um ‚Native Speakerism‘ auf einer kollekti-ven Ebene, sondern vielmehr um die Analyse von Language practices (Pennycook 2010) in unterschiedlichen situativen Kontexten. Diskursgemeinschaften können in mehreren Sprachen agieren. Dies wird z.B. bei akademischen Diskursgemein-schaften besonders deutlich, wenn z.B. Forscher*innen einer Disziplin in mehre-ren Sprachen publiziemehre-ren (z.B. in der Landessprache und auf Englisch) und wenn in wissenschaftliche Abhandlungen Quellen aus mehreren Sprachen integriert werden. Diskursgemeinschaften sind hybrid und dynamisch veränderlich, weder sprachlich noch disziplinär klar gegeneinander abgrenzbar, und scheinen damit transkultureller Betrachtung gut zugänglich.

Im Dokument Vorwort und Danksagung (Seite 68-75)