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Individuelle Professionalisierung als lebenslanges Lernenlebenslanges Lernen

Im Dokument Vorwort und Danksagung (Seite 126-132)

an professionelles Schreiben

2.3  Individuelle Professionalisierung als lebenslanges Lernenlebenslanges Lernen

Professionelles Schreiben bedeutet – im wissenschaftlichen Schreiben und in der Kurztextproduktion – auf bestehenden Erfahrungen aufzubauen und Wissen und Können in wiederkehrenden ähnlichen Situationen routiniert einzusetzen: Routi-ne-Schreibaufgaben werden in der Regel effizient und mit verhältnismäßig gerin-gem Aufwand bewältigt. Abseits der Routineaufgaben bedeutet professionelle Schreibkompetenz u.a. die Fähigkeit, neue oder herausfordernde Situationen zu bewältigen, für die dieses Wissen und Können nicht von vornherein ausreicht.

Die Expertise wird in diesen Fällen darauf konzentriert, Herausforderungen mit geeigneten Strategien zu begegnen – und bei Bedarf neue Strategien einzusetzen oder bestehende weiterzuentwickeln.

Die Entwicklung von Schreibkompetenzen für professionelles Schreiben in mehreren Sprachen ist nie ganz abgeschlossen. Selbst lebenslange Auseinan-dersetzung mit professionellen Schreibsituationen und Textsorten reicht nicht aus, um alle erdenklichen Textsorten routinemäßig zu beherrschen und in allen erdenklichen Kommunikationssituationen – in mehreren Sprachen – texten zu können. Dementsprechend gehört es zu den wichtigsten Kompetenzen im pro-fessionellen Schreiben, Wissen und Erfahrungen aus früheren Schreibsituationen in neue transferieren zu können und über Handwerkszeug zu verfügen, um mit neuen und/oder herausfordernden Schreibsituationen umgehen zu können: also über ein Strategienrepertoire, das mit neuen Anforderungen und Herausforde-rungen wächst und flexibel angepasst werden kann. In der empirischen Analyse ist zu sehen, wie Schreiber*innen ihr Repertoire an Routinen und Strategien in verschiedenen Schreibsituationen einsetzen – und weiterentwickeln (vgl. Kap. 7 und 8).

Im professionellen Schreiben geht es ebenso sehr darum, Routinen – zur Effi-zienzsteigerung – aufzubauen wie darum, sie – wenn notwendig – zu durchbre-chen und sich auf etwas Neues einzulassen, neue Lösungen auf Basis bekannter zu finden und zu entwickeln. Neben Übung und Erfahrung sind Reflexion und Flexibi-lität nötig. Im lebenslangen Lernen ist niemals ‚ausgelernt‘. Beim Lernen kommen neben formalen auch nicht-formale und informelle Lernformen zum Tragen (vgl.

Berndt 2011: 289).

Bransford/Pellegrino/Donovan (2000: 48) weisen darauf hin, dass die Vorstellung davon, was es bedeutet, ‚Experte‘ zu sein, die Bereitschaft beeinflusst, sich eigenen Schwächen und Wissenslücken zu stellen und an ihnen zu arbeiten. Zur Professiona-lität gehört u.a. die Erkenntnis, dass es eine Leistung ist, Probleme zu identifizieren – anstatt so zu tun, als gäbe es sie nicht (vgl. Kaiser-Cooke 2004: 299 oder Ruhmann 1995: 94). Reflexion bzw. „reflexive Professionalisierung“ (Knappik 2013) ist ein wich-tiger Schritt zur Expertise – bzw. zur Vorstellung davon, wie Expert*innen an der Weiterentwicklung ihrer Fähigkeiten arbeiten (können). Schreiben ist „reflexive Pra-xis“ (Bräuer/Schindler 2011: 26, vgl. ebenso Schindler 2012)35. Es ist ein Lernprozess, zu erkennen, dass auch Expert*innen nicht immer alles wissen oder gleich Antwor-ten parat haben. Sie sind allerdings imstande, Probleme zu erkennen und Lösungen dafür zu finden. Dies kann in einem zweischrittigen Verfahren geschehen: erst das Problem benennen/analysieren, und dann erst eine Lösung dafür suchen.36

In Bezug auf professionelles Schreiben kann die Vorstellung von „accomplished novices“ die Reflexion über das eigene Schreiben unterstützen, indem davon aus-gegangen wird, dass es immer noch etwas zu lernen gibt – produktorientiert im Hinblick auf den entstehenden Text und eventuelle Verbesserungs- und Überarbei-tungsmöglichkeiten und/oder prozessorientiert im Hinblick auf Schreibstrategien.

Im wissenschaftlichen Schreiben schlägt sich eine solche Vorstellung – produkt-orientiert – in Peer-Review-Verfahren nieder: Die Grundidee des Peer-Reviewing beruht darauf, dass Texte durch konstruktives Feedback von Kolleg*innen in der Regel noch weiter verbessert werden können. Prozessorientierte Reflexion, eine

35 Die Reflexion von Schreibprozessen als didaktischer Ansatzpunkt wurde schon früh diskutiert: So beschreibt etwa Perl (1980) einen Workshop, bei dem Schreiber*innen die Gelegenheit erhalten sollten, sich selbst beim Schreiben zu beobachten, „to see their own composing processes at work“ (Perl 1980: 100).

36 Hier setzen z.B. die von Nardi (2012) beschriebenen „Bordbücher“ an – oder auch IPDRs (Integrated Problem Decision Reports), die ursprünglich dafür gedacht waren, Übersetzungsentscheidungen zu dokumentieren (vgl. Gile 2004, Angelone 2015), aber auch erfolgreich in der Schreibdidaktik eingesetzt werden (vgl. Heine 2012, 2018). Studierende machen bei den IPDRs systematisch Notizen zu Problemen, die beim Schreiben oder Übersetzen auftreten und zu Entscheidungen, die sie an diesen Stellen treffen. IPDRs sind somit an der Schnittstelle zwischen Produkt und Prozess angesiedelt: Die dokumentierten Entscheidungen richten sich auf das Produkt, der Weg vom Problem zur Lösung ist aber ein Prozess. Bei der Besprechung von IPDRs kann beides in den Blick genommen werden.

reflexive „conversation with the situation“ (Schön 1983: 79) kann wiederum als Voraussetzung dafür betrachtet werden, dass Schreibende Probleme, die während des Schreibens auftauchen, entweder selbst lösen oder adäquate Hilfestellungen – z.B. aus Schreibratgebern – annehmen, dass sie ihr Schreiben „produktiv steuern“

(Knorr 2019: 172) können.

Die vielfältigen Kompetenzen, die für wissenschaftliches und professionelles Schreiben nötig sind, werden durch ebenso vielfältige schreibdidaktische Maß-nahmen adressiert. Ein Teil der schreibdidaktischen Empfehlungen ist in Schreib-ratgebern verschriftlicht. Empfehlungen aus SchreibSchreib-ratgebern und anderen schreibdidaktischen Maßnahmen wirken bis zu einem gewissen Grad in Schreib-prozesse hinein. Dies wird in einigen der Fallstudien sichtbar, z.B. bei Daniel (CS2), der explizit Empfehlungen ‚ausprobiert‘, oder bei Ervin (CS8), der explizit den For-mulierungsratgeber von Kühtz (2011) erwähnt. Schreibdidaktische Empfehlungen spielen sowohl in der Aktualgenese von Texten eine Rolle37, als auch in der Art und Weise, wie Schreiber*innen professionelles Schreiben für sich selbst modellie-ren (vgl. Dengscherz/Steindl 2016) und wie sie über ihre eigenen Schreibstrategien sprechen.

Im Zuge individueller Professionalisierung werden Schreibgewohnheiten auf ihre Tauglichkeit oder Hinderlichkeit für bestimmte Schreibaufgaben reflektiert und ein Repertoire an Strategien und Routinen aufgebaut, mit dem die Schreibauf-gaben des beruflichen Alltags erfolgreich und effizient gemeistert werden können.

Bei einer solchen „reflexiven Professionalisierung“ (Knappik/Dirim/Döll 2014: 82) werden bewusst Verbindungslinien zwischen prozeduralem Können und deklara-tivem Wissen (vgl. “knowing how and knowing that”, Ryle 1949) gesucht. Bräuer/

Brinkschulte/Halagan (2016) begreifen Reflexion als „bewusste und differenzierte Auseinandersetzung mit einem vorangegangenen (Problemlöse-)Prozess“  – es geht um eine enge Verknüpfung zwischen Denken und Handeln, um die Wahrneh-mung, an welchen Stellen im Prozess welche Entscheidungen getroffen wurden.

Schreibenden ist allerdings nicht immer bewusst, was sie tun. (Dies zeigte sich auch in den Interviews im Zuge der Fallstudien, vgl. Abschnitt 5.4.2.1.). Um Pro-zesse reflektieren zu können, müssen sie teilweise überhaupt erst bewusst gemacht werden.

Erfahrene Schreiber*innen können ein gewisses Repertoire an Schreibaufga-ben routiniert erfüllen, und verfügen über das nötige Handwerkszeug, um sich neue Schreibsituationen zu erarbeiten. Auf der Produktebene kann dies bedeuten, sich bei Bedarf mit neuen Textsorten vertraut zu machen, auf der Prozessebene, bewährte oder neue Strategien einzusetzen, um Herausforderungen zu bewälti-gen – und auf der heuristischen Ebene, sich mit neuen Themen und Erkenntnis-sen auseinanderzusetzen und eine gewisse Bereitschaft zur Akkommodation im

37 In den Screen-Capturing-Videos ist häufig zu sehen, dass Schreiber*innen auf Mate-rialien aus dem Internet zugreifen und dabei sprachliche oder andere produktbezo-gene Fragen klären.

Piaget’schen Sinne mitzubringen (vgl. Abschnitt 2.1.3.2. und Abschnitt 3.2.4.). Pro-fessionalität erfordert Flexibilität im Denken wie im Tun. Dies kommt im Konzept der „adaptive experts“ gut zum Ausdruck: “Adaptive experts are able to approach new situations flexible and to learn throughout their lifetimes.” (Bransford/Pelleg-rino/Donovan 2000: 48).

Expert*innen zeichnen sich durch bestimmte Herangehensweisen und Kom-petenzen aus:  im Bereich der Wahrnehmung, des Wissens und vor allem der Organisation und Kontextualisierung dieses Wissens und damit dem Verstehen von Zusammenhängen. Dadurch können sie flexibel mit dem vorhandenen Wis-sen umgehen und es in neuen Kontexten und Situationen anwenden (vgl. Perrin 2004: 96).

Unter ‚Expertise‘ wird keine letztgültige Weisheit verstanden, sondern die Fähigkeit, sich mit dem vorhandenen Wissen und Können neue Schreibsitua-tionen – einigermaßen effizient – zu erarbeiten. Effizienz ist ebenfalls nicht als absolute Größe zu verstehen. Sie kann an unterschiedlichen Parametern gemessen werden, wie dem Faktor Zeit (wird die Schreibaufgabe innerhalb der zur Verfügung stehenden Zeit, innerhalb einer eventuellen Deadline erfüllt?), dem Faktor Qualität (inwieweit entspricht der entstandene Text den Anforderungen der Schreibaufgabe und den Erwartungen der Adressat*innen?) und dem Faktor Zufriedenheit (wie sehen die Schreiber*innen selbst das Verhältnis zwischen Aufwand und Ergeb-nis?). Der Faktor Zeit verweist auf einen wichtigen Aspekt von Schreibexpertise im professionellen Schreiben, nämlich dass für die Erfüllung von Schreibaufgaben in der Regel eine begrenzte Menge an Ressourcen (u.a. Zeit und Energie) zur Ver-fügung stehen, die entsprechend genützt werden müssen, um zu einem zufrieden-stellenden Ergebnis zu kommen (vgl. Keseling 1995: 201). ‚Expert*innen‘ sind keine

„answer filled experts“. Sie sind erfahrene Schreiber*innen, die die Bereitschaft und das nötige Handwerkszeug mitbringen, sich das, was sie noch nicht wissen und können, gezielt für die Erfüllung von Schreibaufgaben zu erarbeiten.

2.4  Zwischenfazit

Schreibentwicklung für professionelles Schreiben ist auf den Aufbau und die Aus-differenzierung von Kompetenzen in unterschiedlichen Bereichen des Schreibens ausgerichtet. Kompetenzen sind als ‚Antworten‘ auf Anforderungen zu sehen, die die Textproduktion an Schreiber*innen stellt und werden in Entwicklungs-prozessen aufgebaut. Schreibentwicklung wird in manchen Modellen vor allem kognitiv  – und tendenziell produktorientiert  – betrachtet, in anderen aus einer Sozialisierungsperspektive oder in domänenspezifischen Kontexten. Die diskutier-ten Kompediskutier-tenzmodelle nehmen unterschiedliche Teilbereiche des Schreibens bzw.

des Wissens in den Blick, neben Prozess und Produkt sind dies sachlich-inhaltliche und Kontextdimensionen, damit werden die epistemisch-heuristische Funktion und die soziale Seite des Schreibens explizit mitadressiert.

Im Hinblick auf die Modellierung von Kompetenzen zeigen sich Unterschiede zwischen wissenschaftlichem Schreiben und dem professionellen Schreiben in

anderen Domänen. Während bei der Produktion professioneller Kurztexte stärker auf produktbezogene Aspekte (z.B. die Textgestaltung im Hinblick auf unterschied-liche Textsorten) fokussiert wird, führt die epistemisch-heuristische Funktion des wissenschaftlichen Schreibens – und der Umstand, dass beim wissenschaft-lichen Schreiben häufig längere Texte produziert werden – tendenziell dazu, dass der Schreibprozess stärker in den Fokus rückt, vor allem im Hinblick auf Kom-petenzen, die nötig sind, um diesen komplexen Schreibprozess zu organisieren und zu regulieren. Während in der Produktion professioneller Kurztexte u.U. das

„Spontanschreiben“ einer Textversion in einem Guss und einem Fluss gute Erfolge zeitigen kann, müssen Schreiber*innen an wissenschaftlichen Texten über einen längeren Zeitraum arbeiten, und immer wieder neue Aspekte und Perspektiven in den Text einbauen.

Aus diesen Unterschieden ergeben sich erste Ansatzpunkte für die Analyse von Schreibprozessen und Schreibstrategien. Weitere Ansatzpunkte können durch die Reflexion des Verhältnisses von Sprachkompetenz und Schreibkompetenz identi-fiziert werden. Um den Einsatz von Strategien und Routinen beim professionellen Schreiben in mehreren Sprachen in seiner situativen Verankerung und seinen indi-viduellen Unterschieden analysieren zu können, müssen neben Anforderungen und Kompetenzen noch weitere Aspekte berücksichtigt werden. Dazu gehören u.a.

Einsichten in Schreibprozessabläufe und individuelle Unterschiede dabei (Kap. 3) und die Auseinandersetzung mit dem Handlungsraum Mehrsprachigkeit (Kap. 4).

Prozessperspektiven

Der Schreibprozess wurde etwa ab Mitte der 1970er Jahre intensiv erforscht38, u.a.

in der Absicht, Ansatzpunkte für die Schreibdidaktik zu finden. Diese beginnt in Folge, zunehmend prozessorientiert zu agieren (vgl. Broady 2000: 10 und Baurmann 2014: 349). Im Mittelpunkt steht zunächst das Schreiben in der L1 (vgl. Girgensohn/

Sennewald 2012: 12). Ab den 1980er Jahren werden verstärkt Schreibprozesse in einer L2 mit berücksichtigt (vgl. Brinkschulte 2012:  59, 2018). Je nach Erkennt-nisinteresse stehen holistisch der gesamte Schreibprozess (und seine potentiellen Subprozesse) oder spezifische Aktivitäten im Schreibprozess und ihre Potentiale im Mittelpunkt.

Faigley (1986) beschreibt drei Grundperspektiven in der Schreibforschung: eine expressive (neo-romantische), die sich damit auseinandersetzt, wie Schreiber*in-nen ihre individuelle ‚Stimme‘ („voice“) finden, eine kognitive, die an mentalen Prozessen beim Schreiben interessiert ist, und eine soziale, die Schreiben als Sozia-lisierungsprozess in bestimmten Diskursgemeinschaften begreift. Seither haben sich die Schwerpunkte verschoben: Knorr (2019: 166) unterscheidet kognitions-psychologische, diskurstheoretische und entwicklungspsychologische Ansätze in der Schreibprozessforschung.

In meiner Analyse verbinde ich diese Ansätze mehrperspektivisch: Das Handeln von Schreiber*innen ist situiert in (institutionellen) (Arbeits-)Kontexten und Dis-kursen, in denen sie kreativ agieren, ihre Strategien und Routinen verstehe ich als kognitive Aktivitäten, die auch durch Entwicklungs- und Sozialisierungsprozesse beeinflusst sind.39 Schreiben wird somit als eine kognitive, kreative und soziale Aktivität perspektiviert. Der Einsatz von Strategien, Routinen und unterschied-lichen Sprachen beim Schreiben ist abhängig von den spezifischen Bedingungen der Schreibsituation. Die Schreibsituation ist wiederum in ihrer Einbettung in den Schreibprozess zu sehen.

In den folgenden Unterkapiteln werden einige Aspekte der Schreibprozessfor-schung diskutiert, die für meine Analyse wichtig sind: Abschnitt 3.1. reflektiert den Zusammenhang von Schreiben und Denken, in Abschnitt 3.2. werden Formen der Modellierung von Schreibprozessen im Spanungsfeld überindividueller Gemein-samkeiten und individueller wie situativer Variation diskutiert. Darauf aufbauend

38 Für einen Überblick über empirische Studien in den 1970er und 1980er Jahren siehe Krings Hans P. (1992).

39 Das expressive Element ist auf den ersten Blick weniger vordergründig, manifestiert sich aber in den kreativen Prozessen, die auch beim professionellen Schreiben eine wichtige Rolle spielen.

stelle ich in Abschnitt 3.3. mein eigenes Schreibprozessmodell und mein Konzept der heuristischen und rhetorischen Anforderungen und Herausforderungen vor.

Vor diesem Hintergrund wird in Abschnitt 3.4. schließlich genauer auf Konzeptio-nen zu Schreibstrategien und RoutiKonzeptio-nen eingegangen.

Im Dokument Vorwort und Danksagung (Seite 126-132)