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Kognitiv orientierte Schreib(entwicklungs)modelle

Im Dokument Vorwort und Danksagung (Seite 91-98)

an professionelles Schreiben

2.1  Modellierungen von Entwicklungsverläufen

2.1.1  Kognitiv orientierte Schreib(entwicklungs)modelle

Schreibentwicklung wurde vor allem im Kontext des Schreibens in Bildungsein-richtungen untersucht. Dabei liegt das Gewicht oft tendenziell auf epistemisch-heuristischem Schreiben, also auf Schreiben als Medium des Denkens. Dies rückt die Entwicklung von Kompetenzen für wissenschaftliches Schreiben in den Vor-dergrund. Kompetenzen für andere Formen des Schreibens (z.B.  professionelle Kurztextproduktion) können dadurch weniger gut erfasst werden.

2.1.1.1  Entwicklungsstufen nach Bereiter (1980)

Ein Modell, das Schreibentwicklung von der Kindheit bis zum Erwachsenenalter nachzeichnet, stammt von Bereiter (1980). Obwohl das Modell schon früh kritisiert wurde – im deutschsprachigen Raum etwa von Baurmann (1989: 275) –, ist es bis heute einflussreich geblieben (vgl. Grießhaber 2018: 24). Bereiter skizziert die Stu-fen der Schreibentwicklung als sukzessive Integration von Teilkompetenzen, die

‚reifes Schreiben‘ kennzeichnen: Berücksichtigt werden die Motorik der Bewegung (Schreibflüssigkeit), die Kenntnis schriftsprachlicher Konventionen, zunächst auf einer rudimentären Ebene von “writing conventions” (z.B. Rechtschreibung oder Grammatik) und weiters auf einer elaborierteren Ebene von “literary apprecia-tion and discriminaapprecia-tion” (Urteilsfähigkeit über die Qualität von Texten). Auf der epistemisch-heuristischen Ebene wird zunächst (Flüssigkeit bei der) Ideenfindung genannt, bevor schließlich reflexives Denken einbezogen wird. In Bezug auf die Adressat*innen-Orientierung nennt Bereiter aber nur eine – relativ rudimentäre – Teilkompetenz: Nämlich die prinzipielle Fähigkeit Leser*innen zu berücksichtigen.

Kommunikationssituation und/oder spezifische Intentionen kommen nicht vor.

Aus diesen Teilkompetenzen des Schreibens leitet Bereiter (1980:  83ff) fünf Stufen der Schreibentwicklung bei Kindern bzw. Jugendlichen ab. Die nächste Stufe ist jeweils als Ergänzung zur vorherigen zu verstehen, auf der in die bereits erworbenen Kompetenzen neue integriert werden. Bereiter (1980) konzipiert: 1.

Assoziatives Schreiben (Associative Writing: als eine noch relativ einfache Form des Schreibens, bei der Ideenfluss und Schreibfluss kombiniert verlaufen und der Schreibfluss ähnlich organisiert ist wie der Redefluss; 2. Flüssiges Schreiben (Per-formative Writing) bei dem bereits stilistische Konventionen integriert werden, 3.

Kommunikatives Schreiben (Communicative Writing), das zusätzlich die Leser*in-nenperspektive berücksichtigt; 4. Reflektiertes Schreiben (Unified Writing), das eine Selbstevaluierung des Textes ermöglicht (vgl. Baurmann 2002: 95) und 5. Episte-misches Schreiben (Epistemic Writing), Schreiben als Sinnsuche, als “extended and involved thought that is almost impossible without writing” (Bereiter 1980: 88).

Die Hierarchisierung dieser Aspekte ist stark von den Gegebenheiten und Gepflo-genheiten des Schreibens in Bildungskontexten geprägt. Privates epistemisches Schreiben (z.B. in Tagebüchern, die aber weder Leser*innen-Perspektive noch Kon-ventionen berücksichtigen müssen) oder professionelles Schreiben, das nicht an heuristischen Zielen ausgerichtet ist, sind in diesen Entwicklungsstufen schwer zu verorten.

Bereiters Modell wurde mehrfach kritisiert, z.B.  von Augst et  al. (2007) die anmerken, das Modell sei theoretisch entwickelt, „aber nie empirisch verifiziert“

worden. In ihrer eigenen – empirischen – Studie kommen Augst et al. (2007: 364) zum Schluss, dass die „epistemisch-heuristische“ Funktion des Schreibens (vgl.

Ortner 2000: 4) eine Grundbedingung dafür sei, dass es überhaupt Schreibentwick-lung geben kann (vgl. Dengscherz 2012: 66).

Dies scheint zunächst wiederum den Erfahrungen von Studierenden mit wis-senschaftlichem Schreiben zu widersprechen, wo das epistemisch-heuristische Schreiben äußerst herausfordernd sein kann. Die Problematik von Bereiters Modell liegt offensichtlich darin, dass er verschiedene Teilkompetenzen als stufen hierarchisiert. Empirische Ergebnisse weisen aber eher auf Entwicklungs-stufen innerhalb von Teilkompetenzen hin (vgl. Pohl 2007, Steinhoff 2007).

Um auf die Entwicklung professionellen Schreibens anwendbar zu sein, sollten Schreibentwicklungsmodelle die heuristisch-epistemische Komponente und die Textgestaltung berücksichtigen. Dies geschieht im Entwicklungsmodell von Feilke (1996).

2.1.1.2  Entwicklungsstufen nach Feilke (1996)

Feilke (1996) nimmt ein vierstufiges Entwicklungsmodell an. Er bezieht sich auf empirische Untersuchungen argumentativer Briefe von 7- bis 23-jährigen Schrei-ber*innen aus dem Korpus Augst/Faigel 1986 und nimmt die Adressat*innen-Orientierung als höchste Stufe in der Schreibentwicklung an.

Stufe 1: Perspektive aus der subjektiven Erlebniswelt des Ich.

Stufe 2: Perspektive auf die ‚objektive‘ Welt der Dinge, wie sie sich für das Ich darstellen.

Stufe 3: Perspektive auf die Sprache und den Text als Medium.

Stufe 4: Perspektive auf den anderen und Wechselseitigkeit der Perspektiven (Feilke 1996: 1186).

Die Differenzierung in den Entwicklungsstufen basiert auf einer Analyse von Kohärenzprinzipien in Texten:

Stufe 1: Prinzip szenischer Kontiguität Stufe 2: Prinzip sachlogischer Ordnung Stufe 3: Prinzip formaler Ordnung

Stufe 4: Prinzip dialogischer Ordnung (Feilke 1996: 1186).23

23 Feilke/Augst (1989: 317) beschreiben schon einige Jahre früher ähnliche „Textord-nungsmuster“ in leicht abweichender Terminologie: das linear-entwickelnde, das material-systematische, das formal-systematische und das linear-dialogische Text-ordnungsmuster.

Heuristisches Schreiben ist bereits ab der zweiten Stufe möglich. Aber erst auf der vierten Stufe ist die Ebene der „sozialen Kohärenz“, der „expliziten Orientierung am Adressaten“ (Steinhoff 2007: 103) erreicht. Damit wird die Leser*innen-Orien-tierung als höchste Stufe der Entwicklung angenommen, die Stufe, auf der Text-wirkung bewusst mit in den Blick genommen wird (wie im Konzept des Knowledge Crafting von Kellogg 2008, vgl. Abschnitt 2.1.1.3.).

Die Entwicklungsstufen von Feilke (1996) werden durch die Untersuchung von Augst et al. (2007) weitgehend bestätigt, die selbst ein ähnliches, ebenfalls vier-stufiges, Entwicklungsmodell der Schreibkompetenz vorschlagen: Im ersten Sta-dium werden Texte als subjektiv konstruierte, mentale Einheiten begriffen, die im zweiten Stadium sachlogisch verkettet werden können. Im dritten Stadium werden Texte bereits als mehrdimensionale bzw. mehrperspektivische Gebilde verstanden und im vierten Stadium als (zumindest rudimentär) textsortenfunktional syntheti-sierte Perspektiven (vgl. Augst et al. 2007: 347–351).

2.1.1.3  Die Modelle von Bereiter/Scardamalia (1987) und Kellogg (2008) Bereiter/Scardamalia (1987) fokussieren auf den heuristisch-epistemischen Aspekt der Wissensverarbeitung beim Schreiben. Sie unterscheiden – je nach Komplexi-tät der heuristischen Prozesse – zwei Arten des Umgangs mit Wissen: Knowledge Telling und Knowledge Transforming. Mit Knowledge Telling ist ein (relativ) linearer Vorgang der Wissensverarbeitung beim Schreiben gemeint, mit einer relativ ein-fachen mentalen Repräsentation. Die Schreibenden beziehen im Knowledge Telling zwar Wissen auf mehreren Ebenen mit ein, berücksichtigen neben inhaltlichen Belangen (Content Knowledge) auch (zumindest ansatzweise) Diskurskonventio-nen (Discourse Knowledge) sowie textsortenbezogene Kriterien (Genre Identifiers) und prüfen ihren Text auf Adäquatheit (Tests of Appropriateness), allerdings legt das Modell nicht fest, wie elaboriert Wissen und Kompetenzen in diesen Bereichen sind (vgl. Bereiter/Scardamalia 1987: 8). Wie die Bezeichnung schon nahelegt, wird Knowledge Telling vor allem für die Wiedergabe von Wissen eingesetzt.

Knowledge Transforming ist komplexer. Die im Knowledge Telling skizzierten Prozesse bilden auf dieser Stufe ebenfalls Bestandteile des Schreibprozesses, sie sind aber nun eingebettet in weitere Komponenten:  Es werden inhaltliche und rhetorische Problemräume identifiziert, auf Basis der mentalen Repräsentation des Schreibsettings findet eine Problemanalyse statt, die ein ill defined problem zu einem well defined problem machen kann, wodurch Zielsetzungen für die Ziel-textproduktion festgelegt werden können (zum Schreiben als Problemlösen vgl.

Abschnitt 3.1.1.). Die verschiedenen Problemräume sind vernetzt und interagieren miteinander (vgl. Bereiter/Scardamalia 1987: 12f).

Das Konzept von Knowledge Telling und Knowledge Transforming lässt sich aus einer Entwicklungsperspektive betrachten, indem darauf fokussiert wird, zu welcher Komplexität der Wissensverarbeitung Schreiber*innen bereits imstande sind. Es lässt sich aber auch aus einer Prozessperspektive betrachten, aus der interessiert, wie komplex und in welchen Schritten die Wissensverarbeitung im

Aktualvorgang des Schreibens vollzogen wird (was wiederum von den Erforder-nissen der Schreibaufgabe und den bereits bei den Schreibenden vorhandenen Wissensstrukturen abhängt).

Daraus ergibt sich das Paradoxon, dass sowohl ungeübte Schreiber*innen (denen noch keine komplexeren Verarbeitungsstrategien zur Verfügung stehen) als auch Expert*innen (die so gut in das Thema eingearbeitet sind, dass die für den Text nötigen Wissensstrukturen beinahe „fertig“ abgerufen werden können) nach dem Knowledge-Telling-Modell vorgehen können  – allerdings vor unterschied-lichem Hintergrund und mit unterschiedunterschied-lichem Ergebnis. Beispiele dafür finden sich in den Fallstudien u.a. beim Verfassen von Abstracts (vgl. Kap. 6 und 7).

Die Gleichung, dass Schreibnoviz*innen nach dem Knowledge-Telling-Modell schreiben und Schreibexpert*innen nach dem Knowledge-Transforming-Modell, greift also zu kurz (vgl. Heine 2010:  141ff). Eine diesbezügliche Vereinfachung ergibt sich in erster Linie aus einer unsauberen Unterscheidung zwischen Prozess und Kompetenz (Entwicklungsstufe), die bis zu einem gewissen Grad bereits in der Mehrdeutigkeit des Modells angelegt ist. Bereiter und Scardamalia selbst haben sich dem Konzept aus unterschiedlichen Perspektiven genähert:  1985 betrach-ten sie das „Wissen-Wiedergeben […] eher als eine unvollständige denn als eine mangelhafte Schreibstrategie“ (Bereiter/Scardamalia 1985:  330) und beschreiben es zunächst als eine Strategie ungeübter Schreiber*innen. 1987 führen sie aller-dings bereits aus, dass es sich nicht zwingend auf die Textqualität auswirken muss, ob nach dem Knowledge-Telling- oder nach dem Knowledge-Transforming-Modell geschrieben wird: “It is possible to write well or poorly following either model.”

(Bereiter/Scardamalia 1987: 5) Umgekehrt lässt sich aus der Qualität eines Texts noch nicht (zweifelsfrei) auf seinen Entstehungsprozess schließen. Die Modelle beziehen sich auf die Komplexität des Schreibprozesses und nicht auf die entstan-denen Texte (vgl. Bereiter/Scardamalia 1987: 13).

Kellogg (2008) erweitert das Modell von Bereiter/Scardamalia (1985, 1987) um eine dritte Stufe, nämlich Knowledge Crafting. Er fokussiert wiederum nicht auf den aktualgenetischen Schreibprozess, sondern auf die ontogenetische Schreibent-wicklung, die auf “professional expertise in writing” (Kellog 2008:  7) zusteuert.

Kellogg nimmt drei Stufen zunehmender Schreibexpertise an: Auf der ersten Stufe steht das autorzentrierte Knowledge Telling, das folgende Merkmale erfüllt: “Plan-ning limited to idea retrieval; limited interaction of planerfüllt: “Plan-ning and translating, with minimal reviewing” (Kellog 2008: 4). Auf der zweiten Stufe des Knowledge Trans-forming findet eine stärkere Interaktion zwischen Schreibenden und Text statt, was mehr Interaktion zwischen Planen, Formulieren und Überarbeiten bedeutet. Das Überarbeiten zielt in dieser Stufe vor allem auf die epistemisch-heuristische Funk-tion des Schreibens ab, auf die inhaltliche Verfeinerung. Soweit können die Ausfüh-rungen Kelloggs als Interpretation des Konzepts von Bereiter/Scardamalia (1987) verstanden werden. Kellogg (2008) ergänzt allerdings noch eine dritte Entwick-lungsstufe, nämlich das Knowledge Crafting, bei dem die Leser*innen-Perspektive einbezogen wird und damit professionelle Textgestaltung in den Blick rückt. Kel-logg beschreibt Knowledge Crafting (in Anlehnung an das Schreibprozessmodell

von Hayes/Flower 1980, vgl. Kap. 3) als “Interaction of planning, translating, and reviewing. Reviewing of both author and text representations” (Kellogg 2008, 4).

Schreibexpertise besteht nach Kellogg (2008) darin, dass Schreiber*innen die heu-ristisch-epistemische Funktion des Schreibens für die Weiterentwicklung von Wis-sen nützen, und ihre Texte professionell gestalten, indem sie ihre Erkenntnisse in eine für Leser*innen nachvollziehbare Ordnung bringen.

2.1.1.4  Professionelles Schreiben vor dem Hintergrund der skizzierten Modelle

Was können die skizzierten Entwicklungsmodelle nun für das Verständnis profes-sionellen Schreibens leisten? Und inwiefern lässt sich professionelles Schreiben in diesen Entwicklungsmodellen verorten?

Nach Bereiters Entwicklungsstufen wäre professionelles Schreiben als adressa-tenbezogenes Schreiben mindestens auf der kommunikativen Ebene anzusiedeln, rein assoziatives oder „nur“ flüssiges Schreiben reichen für professionelle Textpro-duktion keinesfalls aus. Eine Qualitätssteigerung lässt sich sicherlich auf der Stufe des reflektierten Schreibens (Unified Writing) erreichen, wenn auch die eigene Leseperspektive der Schreibenden einfließt und dadurch neue (kritische) Zugänge zum eigenen Text ermöglicht. So weit lassen sich Bereiters allgemeine Schreib-entwicklungsstufen gut auf die Professionalisierung des Schreibens anwenden.

Schwieriger wird es beim Epistemic Writing. Ob professionelles Schreiben als epis-temisch zu bezeichnen ist oder nicht, hängt einerseits davon ab, wie weit oder eng der Begriff ‚epistemisch‘ gefasst wird und andererseits davon, welche Formen pro-fessionellen Schreibens adressiert werden. Bereiters Stufenmodell fokussiert auf schulisch-akademische Schreibentwicklung, als deren höchste Stufe wissenschaft-liches Schreiben angenommen wird. Auf andere Domänen (z.B. journalistisches oder literarisches Schreiben oder andere professionelle Domänen) ist es schwer übertragbar.

Feilkes Prinzip der dialogischen Ordnung und Kelloggs Konzeption des Knowledge Crafting können hingegen auf wissenschaftliches Schreiben wie auf professionelle Kurztextproduktion gleichermaßen bezogen werden, es geht um das Verfassen von Texten, die bei der Rezeption eine bestimmte Funktion erfüllen, also um professio-nelles Schreiben im eingangs erwähnten Doppelsinn. (Auf dieser Ebene ist in der Regel auch wissenschaftliches Schreiben als berufliches Schreiben zu verstehen).

Zur Schreibexpertise auf dieser Stufe gehört u.a., dass Schreiber*innen imstande sind, ihren eigenen Text distanziert genug zu betrachten, um Reaktionen bei der Rezeption antizipieren und bewusst bestimmte Textwirkungen vertexten zu kön-nen. Es ist vor allem die Leser*innen/Adressat*innen-Orientierung, die auf dieser höchsten der drei Entwicklungsstufen als neues Element dazukommt. Hier scheint das Modell von Kellogg (2008) der von Bereiter (1980) vorgenommenen Hierarchi-sierung, wo die Leser*innen-Orientierung schon auf der dritten von fünf Entwick-lungsstufen einbezogen wird, zu widersprechen.

Wird jedoch berücksichtigt, dass Bereiter (1980) vor allem die Entwicklung der Schreibfähigkeiten von Kindern und Jugendlichen bis zum Erwachsenenalter beschreibt und Kellogg (2008) explizit eine Weiterentwicklung dieser Schreibfä-higkeiten hin zu einer Professionalisierung des Schreibens in den Blick nimmt, so ergibt sich ein differenzierterer Befund: Communicative Writing bei Bereiter (1980) und Knowledge Crafting bei Kellogg (2008) unterscheiden sich maßgeblich durch ihren Professionalitätsanspruch. Während das kommunikative Schreiben bei Berei-ter sich darauf beschränkt, Gedanken für Leser*innen verständlich darzustellen (“ability to take account of the reader”, Bereiter 1980: 82), kommen bei Kellogg ver-stärkt Aspekte handwerklicher Meisterschaft im Umgang mit Texten hinzu (“the writer shapes what to say and how to say it with the potential reader fully in mind”

Kellogg 2008: 7). Die Verständlichkeit von Texten kann in diesem Zusammenhang eventuell als eine erste, frühe Form der Leser*innen-Orientierung interpretiert werden, während die Adressat*innen- bzw. Leser*innen-Orientierung bei Kellogg (2008) als eine weiterentwickelte Schreibexpertise in professionellen Kontexten zu verstehen ist.

Unterschiedlich elaborierte Formen von Leser*innen-Orientierung nimmt auch Sturm (2016: 49) an – als Unterscheidungsbasis zwischen Knowledge Telling, Know-ledge Transforming und KnowKnow-ledge Crafting. Beim KnowKnow-ledge Telling wird nur wenig Bezug zu einem kommunikativen Schreibziel angenommen, beim Know-ledge Transforming eine neu dazugekommene „Adressatenorientierung“ und beim Knowledge Crafting eine professionelle Leser*innen-Orientierung. Terminologisch ist dies etwas problematisch, da gerade in Bezug auf Ausgangs- und Zieltextana-lyse im professionellen Schreiben (z.B. im Kontext Translation) immer wieder von

„Adressat*innen-Orientierung“ die Rede ist und es sich demnach nicht empfiehlt, diese einer höher entwickelten Leser*innen-Orientierung unterzuordnen. Interes-sant ist der Befund in Bezug auf das Knowledge Telling, wo Sturm (2016) vor allem die Autorzentriertheit betont (die bei Kellogg 2008 durchaus anklingt, bei Bereiter/

Scardamalia 1987 jedoch eher nicht).

In diesem Punkt zeigen sich besonders deutlich die unterschiedlichen Perspek-tiven der Konzepte von Bereiter (1980), Bereiter/Scardamalia (1987) und Kellogg (2008): Während Bereiter (1980) und Kellogg (2008) das Schreiben vor allem aus der Entwicklungsperspektive betrachten, nehmen Bereiter/Scardamalia (1987) den Schreibprozess, also die Aktualgenese von Texten, mit in den Blick und modellie-ren Prozesse unterschiedlicher Komplexität. Aus dieser Perspektive ist nicht zwin-gend anzunehmen, dass Texte, die nach dem Knowledge-Telling-Modell entstanden sind, sich (noch) gar nicht an Leser*innen/Adressat*innen orientieren. Es kann durchaus kommunikatives Schreiben – im Bereiter’schen Sinne – vorliegen, auch wenn kein Knowledge Transforming stattgefunden hat. Die Komplexität des Pro-zesses sagt aber noch nicht in allen Fällen etwas über die Qualität des Ergebnisses aus. Nach beiden Modellen können gute und schlechte Texte entstehen (s.o.).

Weitere Probleme in der Rezeption der Modelle von Bereiter/Scardamalia (1985, 1987) und Kellogg (2008) tun sich bei der Anwendung auf unterschiedliche Schreibsituationen und Domänen auf. Diskutiert wurden die Modelle in der Regel

in Zusammenhang mit dem wissenschaftlichen Schreiben, und hier wurden Know-ledge Transforming und heuristisches, Wissen schaffendes Schreiben häufig gleich-gesetzt (wie z.B. bei Ortner 2000: 13). Inwieweit im wissenschaftlichen Schreiben tatsächlich Knowledge Transforming stattfinden muss, hängt allerdings nicht nur von der Komplexiät der Materie, sondern ebenso davon ab, inwieweit die Schrei-ber*innen bereits in diese Materie eingearbeitet sind. Dies zeigt sich auch in den Fallstudien (vgl. Abschnitt 6.2.2. und 7.4.1.).

Knowledge Crafting als typischerweise heuristisches, Wissen schaffendes Schreiben zu interpretieren, greift zu kurz: Zum einen sehen Bereiter/Scardama-lia (1985: 320) bereits Knowledge Telling als eine – wenn auch eingeschränkte – heuristische Strategie, zum anderen ergibt sich aus dem Aspekt des heuristischen Arbeitens keine trennscharfe Unterscheidung zwischen Knowledge Transforming und Knowledge Crafting, die beide auf epistemisch-heuristisches Arbeiten bezogen werden können. Es ließe sich zwar sicherlich eine gewisse Komplexitätssteigerung der heuristischen Prozesse von Stufe zu Stufe annehmen, allerdings nicht als ein-ziges Unterscheidungskriterium.

Klarer wird die Unterscheidung, wenn Aspekte einbezogen werden, die sich auf textuelle Gestaltungsaspekte und somit auf die Strukturierung und Darstel-lung von Wissensinhalten im Text beziehen. Knowledge Telling kann als Strategie der Informationsauswahl verstanden werden, während Knowledge Transforming eine Neustrukturierung dieses Wissens möglich macht. Während beim Knowledge Transforming diese Neustruktierung vorwiegend entlang der Fragestellung, also inhaltlich-thematisch verläuft, wird beim Knowledge Crafting eine adressat*innen-spezifische Neustrukturierung vorgenommen. Diese Adressat*innen-Orientierung macht das Modell von Kellogg (2008: 7) so fruchtbar für die Analyse professionel-len Schreibens. Dazu passt, dass Kellogg Knowledge Crafting als “progression to professional expertise in writing” charakterisiert.24

‚Crafting‘ ist ein mehrdeutiger Begriff, der je nach Schreib-Domäne in leichten Variationen interpretiert wurde. Der Schaffensaspekt wird vor allem beim wis-senschaftlichen Schreiben vordergründig. So übersetzen etwa Anja Roueche und Stephanie Dreyfürst Knowledge Crafting in ihrem Reader als „Wissensschaffung“

(vgl. Kellogg in Dreyfürst/Sennewald 2014: 132). Auch Bräuer (2014: 259) bezieht Knowledge Crafting vor allem darauf, dass „im Text neue Zusammenhänge und Erkenntnisse“ entwickelt werden. Dies ist allerdings – selbst bezogen auf das wis-senschaftliche Schreiben  – problematisch, weil damit die Adressat*innen-Pers-pektive und der handwerkliche Aspekt der Textwirkung ausgeklammert werden.

Kellogg (2008: 4) beschreibt jedoch Knowledge Crafting explizit als Interaktion zwi-schen „Author“, „Text“ und „Reader“, wobei gerade die Komponente „Reader“ jene ist, die auf der dritten Stufe (Knowledge Crafting) dazukommt.

24 Eine solche Expertise wird erst durch Schreiberfahrung erworben und kann z.B. zu Beginn eines Hochschulstudiums noch nicht vorausgesetzt werden (vgl. Sturm 2016: 50).

Die Übertragung des Terminus ‚Crafting‘ ins Deutsche ist allerdings schwierig.

Im Englischen ist „to craft“ mehrdeutig. Collins online liefert für „craft“ als transiti-ves Verb die Erklärung: “to make with skill, artistry or precision”25, und das Online-Wörterbuch dict.cc schlägt als deutsche Übersetzung vor:  „(kunsthandwerklich) gestalten“; „(von Hand) fertigen“26. In dem Begriff klingen also Aspekte handwerk-licher Meisterschaft ebenso an wie ein gewisser Schaffensaspekt (vgl. Dengscherz 2018c, 2019a). In Bezug auf wissenschaftliches Schreiben scheint es auf den ersten Blick naheliegend, im Umgang mit Wissen den Schaffensaspekt hervorzuheben, es ist allerdings insofern Vorsicht geboten, als auf diese Weise domänenspezifische Ziele des wissenschaftlichen Arbeitens (eben Wissen zu schaffen) in das – poten-tiell auch auf andere Bereiche des Schreibens anwendbare – Modell hineingetra-gen werden und damit die Anwendung des Modells auf diese anderen Bereiche (z.B. auf journalistisches Schreiben o.ä.) erschweren. Aus domänenübergreifender Perspektive kann zwar der Anspruch des Crafting hinsichtlicher Adressat*innen-spezifischer Textgestaltung als Professionalisierungsmerkmal betrachtet werden, das Schaffen von Wissen ist allerdings nicht zwingend Anforderung in allen pro-fessionellen Schreibsettings.

Professionelles Schreiben zielt darauf ab, Texte zu produzieren, die „sich in einem praktischen Kontext bewähren“ müssen (Verhein-Jarren 2006:  241). Hier steht der kommunikative, adressat*innen-spezifische Aspekt im Vordergrund. Ver-hein-Jarren (2006: 240) bringt dies folgendermaßen auf den Punkt: „Ich schreibe nicht, um (für mich) zu klären, was ich weiss. Ich schreibe auch nicht, um für die Leserinnen und Leser zu dokumentieren, was ich weiss. Vielmehr schreibe ich, damit andere handeln können.“ Schreiben wird damit als eine kommunikative Handlung definiert, die weitere Handlungen von anderen ermöglicht. Der Text erfüllt eine Funktion in einem komplexeren sozialen Gefüge. Dieses Gefüge zu ver-stehen, die Handlungserwartungen anderer zu antizipieren und den eigenen Text darauf auszurichten, ist ein Aspekt, der besonders in translationswissenschaftli-chen Kontexten diskutiert worden ist (vgl. Kap. 1) und der durch die Leser*innen-Orientierung im Knowledge Crafting gut ausgedrückt werden kann.

Im Dokument Vorwort und Danksagung (Seite 91-98)