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So verschieden die Ursachen für diesen geistigen Wandel waren und so viel- faltig seine Äußerungen, allgemein war die Absage an Materialismus, Positivis-

mus und Determinismus sowie die damit verbundene Vorstellung eines unauf- haltsamen, rein innerweltlichen Fortschritts der Menschheit. Anknüpfend an die Fortschrittskritik des 19. Jahrhunderts, ging man daran, die Aporien dieses Denkens aufzuzeigen, und nichts war dazu besser geeignet als der Hinweis auf die H infälligkeit des menschlichen Individuums und die sich daraus ergebende Frage nach Sinn und Zweck seines Daseins in der Geschichte. Das Problem des Leidens und des Todes und die Frage nach dem letzten Sinn und Z iel des Le- bens wurden zentrale Themen in Dichtung, Kunst und Philosophie.7 Namhafte

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4 Ausführlich beschrieben von Sc h e r r e r (wie Anm. 2). Vgl. ferner P. Sc h e ib e r t, "D ie Peters- burger religiös-philosophischen Zusammenkünfte von 1902 und 1903." In: JfGO, NF 12 (1964), 4, S. 513-560. Pu tn a m (wie Anm. 3), Kap. 3 (S. 56-92).

5 Über die Sozialrevolutionären Elemente im *neuen religiösen Bewußtsein* siehe insbes. J.

Sc h e r r e r, "Pour une théologie de la révolution." In: Archives de Sciences sociales des Religi- ons, 45 (1978), 1, S. 27-50. Aus marxistischer Sicht I.P. Ču e v a, Genezis i filosofskic osnovy ,no- vogo religioznogo soznanija\ Diss. doktora filos, nauk, Leningrad 1971, [Masch.j. - Hierzu ge- hörten die *Christliche Bruderschaft des Kampfes* (Christianskoe bratstvo bor*by) und die Be- wegung des sog. *Golgatha-Christentums' (golgofskoe chnstianstvo). Ausführlich dazu unten und II: 23.1.

6 Siehe auch II: 23.1.

7 In seiner Aufsatzsammlung О pričinach upadka i o novych tečenijach sovremennoj russkoj lite* ratury, deren Veröffentlichung 1893 m it dem Beginn der 'geistigen Renaissance* zusammenfällt, bemerkte D.S. Merežkovskij, daß metaphysische Fragen über die Unendlichkeit, über den Tod und über G ott, die von den Positivisten bislang unterdrückt worden seien, die unruhevolle Sehnsucht der "neuen Menschen" kennzeichneten. D.S. M e re Z ko vsku , PSS, 1 .18, M . 1914, S.

264f. Und gegen Ende dieser Epoche konstatierte Fedor Sologub, in dessen W erk das To- desthema (als Todessehnsucht) an zentraler Stelle steht: "D ie Frage nach dem Tod zieht viele zeitgenössische D ichter m it der gleichen unwiderstehlichen Macht an, wie die Frage nach dem Sinn des Lebens." F. S o lo g u b [T e te rn ik o v ], "Iskusstvo naáich dnej." In: Russkaja M ysl\ 36, 1915,12, S. 57.

Das Problem des Todes wurde in der Literatur auf vielfältige Weise behandelt: So erschien der Tod einmal als unbegreifliches Schrecknis, als *Nihilist*, der das Leben vergiftet und sinnlos macht (so etwa bei N.M . M in sku [V ile n k in ], Reliģija buduščego, SPb. 1905, und V.P. Svendo k ij, siehe unten Anm. 34), ein andermal als Befreier aus einem bedrückenden oder langweiligen irdischen Dasein (so etwa bei G .I. Čulkov und F. Sologub) oder als schreckliche, aber unum- gängliche Notwendigkeit, die es gefaßt hinzunehmen g ilt (so etwa bei S A . A n d re e vsku , Kniga о smerti, verfaßt zwischen 1891 und 1910, postum veröffentlicht Reval, B erlin 1922; ein wenig bekanntes W erk, das wahrscheinlich unter dem Einfluß Schopenhauers entstanden ist; oder in dem Beitrag von I.E . Repin, "Smert*" in dem gleichnamigen Almanach, SPb. 1910, S. 265-267).

Effektvoll-oberflächlich, oftm als in Verbindung m it M otiven der Sexuahtät und Grausamkeit,

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Denker - darunter die ehemaligen ,kritischen Marxisten״ N A . Berdjaev, P.B.

Struve und S.N. Bulgakov, die um die Jahrhundertwende unter dem Einfluß Kants "vom Marxismus zum Idealismus8״ konvertiert waren, sowie religiöse Schriftsteller und Philosophen wie V.P. Svencickij und V.F. Ern ־ kritisierten die Vorstellung eines innerweltlichen Reiches vollkommener Glückseligkeit als immanentes Z ie l der Geschichte, indem sie dem Fortschrittsbegriff einer moni- stisch-deterministischen Geschichtsteleologie, der sich auf eine abstrakte Menschheit bezieht, das Schicksal des einzelnen , die Frage nach seiner Freiheit und Gleichheit, nach dem Sinn des historischen Leidens und den ,Opfern der Geschichte״ und • all dem zugrundeliegend • das Problem des Todes entgegen- hielten.9

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findet sich das M otiv des Todes häufig in den Werken seinerzeit erfolgreicher Schriftsteller wie M .P. ArcybaSev und L.N. Andreev. Vgl. dazu M . Mo r o z o v, Pred licom smerti. Iz sovremcnnych mističeskich i irotičeskich iskanij. SPb. 1908, bes. S. 37-54. V.G. MaLACHIEVA-Mir o v ič. "O smerti v russkoj poêzii. In: Zavety, 1912, 73, S. 98-108. А .М . Re dk o, ,,Problema smerti i dušepereselenija (1909-1910)." In: De r s., Literammo-chudoiestvennye iskanija v koncé X IX - naöalaXX v.v., L. 1924, S. 187-198. D er Literaturwissenschaftler M irskij unterscheidet zwischen einer metahistorischen, ontologischen Behandlung des Todesthemas (etwa bei T olstoj) und ei- ner historischen, aus dem Vorgefühl des drohenden Untergangs einer K u ltu r erwachsenden;

letztere sei kennzeichnend gewesen fü r die russische Literatur zwischen 1894 und 1917. (D .[P.]

SVJATOPOLK-MIRSIOJ, "Vejanie smerti v predrevoljucionnoj literature." In: Verity, 2, 1927, S.

247-253). Siehe ferner P. Br a n g, "Z ur Todesmotivik in der russischen Moderne." In: Schweize- rische Beiträge zum VIII. Internationalen Stavistenkongreß in Zagreb und Ljubljana 2978, Bern 1978, S. 23-58. Z ur Geschichte des Todesmotivs in der Kunst in Verbindung m it Sexualität und Grausamkeit siehe auch das grundlegende W erk von M. Pr a z, Liebe, Tod und Teufel, M ün-

Bulgakov, der einer ganzen Bewegung den Namen gab. Ihre Anhänger veröffentlichten im sei- ben Jahr den Sammelband Prvblemy idealizma, M . 0J. [1903]; dazu eine marxistische K ritik von N A . RoZk o v, "Značenie i sud*by novejSego idealizma v Rossii." In: Vopmsy Filosoßi i Psi־ chologii, 14 (1903), 2 (67), S. 314-332. - Über die (gescheiterten) Versuche von Berdjaev, Struve und Bulgakov, den klassischen Marxismus in enger Anlehnung an Kant ethisch zu begründen bzw. zu *ergänzen', siehe L. KUNE, "Theoretische E thik im russischen Frühmarxismus." In: For- schungen zur Osteuropäischen Geschichte, Bd. 9, Berlin, Wiesbaden 1963, S. 269-274.

9 Hierzu die beachtliche A rbeit aus marxistischer Sicht: L. Tu r e k, Kultura i rewolucja. Wrocław u.a. 1973; bes. S. 195-207 ("Liberalno-burżuazyjna i konserwatywno-neosłowianofilska krytyka etycznych aspektów posytywistycznej doktryny postępu").

D ie ethisch m otivierte, sich am Ideal einer allumfassenden Erlösung (vseobščee spasenie) orien- tierende K ritik an Geschichtskonzeptionen, die über dem Fortschreiten einer abstrakten Menschheit (oder des absoluten Geistes) das Schicksal des einzelnen vergessen, hat im russi- sehen Denken eine weit zurückreichende Tradition. Bereits Belinskij hatte - in einem oft zitier- ten B rie f ־ gegen Hegel erklärt, das Schicksal des Individuums sei "wichtiger als das Schicksal der ganzen W elt"; falls es ihm gelänge, "die höchste Stufe der Entwicklungsleiter zu erklim - men", so werde er fü r alle dieser Entwicklung zum O pfer Gebrachten Rechenschaft fordern, und falls er dann über das Schicksal auch nur eines seiner Brüder nicht beruhigt werden könne, so w olle er sich "kopfüber von dieser höchsten Stufe hinabstürzen". "Man sagt", so Belinskij weiter, "Disharmonie sei eine Bedingung fü r Harmonie; mag sein, daß das sehr vorteilhaft und erfreulich ist fü r Melomanen, doch keinesfalls fü r jene, denen es beschieden ist, durch ihr Schicksal die Idee der Disharmonie zu verkörpern." Denn, so fragt er, "... was habe ich davon,

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Für S.N• Bulgakov (1871-1944)10 war die Vorstellung von einem Geschichts- verlauf, der sich kontinuierlich m it objektiver Notwendigkeit und immanenter Gesetzmäßigkeit auf einen vollkommenen Endzustand zubewegt, nur scheinbar wissenschaftlich begründet; in W irklichkeit, so Bulgakov, handele es sich dabei um den "alten chiliastischen Glauben an den Anbruch des irdischen Paradieses", der nun gänzlich ins Diesseitige gewendet worden sei.11 Dam it entfalle die

"Perspektive einer kommenden Auferstehung der Toten". Wenn aber alle vor- angegangenen Geschlechter unwiederbringlich vergangen seien, so werde es niemals der ganzen Menschheit, sondern bestenfalls einigen Generationen ge- lingen, das Z ie l des historischen Fortschritts zu erreichen: "... das zweifelhafte Glück, die sozialistische Seligkeit des Zukunftsstaates auf den Gebeinen der h i­

daß ich überzeugt bin, daß die Vernunft trium phieren w ird, daß es in Zukunft gut sein wird, wenn das Schicksal m ir befohlen hat, Zeuge zu sein des Triumphs des Zufalls, der Unvernunft, der viehischen Grausamkeit? Was habe ich davon, daß es meinen oder deinen Kindern gut־

gehen w ird, wenn es m ir schlechtgeht und es nicht meine Schuld ist, daß es m ir schlechtgeht?"

V.G. Be u n s k u, PSS, t. 12, M . 1956, S. 22f.; B rief an V.P. Botkin, 13.1841. Für Belinskij w ird deshalb die Frage der persönlichen Unsterblichkeit zum "Alpha und Omega der W ahrheit".

Ebd., t. 11, M . 1956, S. 552f.; B rie f an Botkin, 5.9.1840. ־ Kritisch dazu L. Šesto vv a r c m a n], Dobrv v učenii gr. Tolstogo i F. Nitle, SPb. 1900, S. V -X V I. Siehe auch V .V . Ze n'k o v sk u, īsto•

ríja russkoj filosofii, 1 .1, Paris 1948, S. 273-276.

Auch Herzen verwarf den Gedanken eines zukünftigen Fortschritts, um dessentwillen der ein•

zelne geopfert werde: E r nannte ihn einen Moloch, der stets zurückweiche, während er den ge- schundenen und zum Untergang verurteilten Menschen höhnisch zurufe, nach ihrem Tode werde es auf Erden herrlich sein. Siche A .I. Ge r c e n, "S togo berega" [1849]. In: De r s., SS v 30-i tomach, t. 6, M . 1955; hier S. 34. D er Gedanke wurde wieder aufgegriffen von A .[V .]

LunaCa r s k u, "MeSčanstvo i individualizm ." In: Očerki filosofii kollektivizma, sb. pervyj, SPb.

1909, S. 248.

Fragen nach dem Sinn der Geschichte und der ethischen Rechtfertigung ihres Zieles sind, so der Philosoph L.P. Karsavin, charakteristisch fü r das russische geschichtsphilosophische Den- ken des gesamten 19. Jahrhunderts: "Warum sollen w ir unser kleines Glück, uns selbst dem W ohl der Zukunftsmenschen aufopfem? G ibt es einen Sinn unseres ethischen Tuns, unserer Anstrengung und Selbsthingabe, wenn w ir selbst an dieser dazu problematischen Seligkeit kei- nen Anteü haben werden, wenn w ir unglücklich und lächerlich sterblich sind?" L.P. K a rs a v in ,

"D er russische geschichtsphilosophische Gedanke." In: Ethos, 1 (1925), 2, S. 267. - Z u r russi- sehen F ortschrittskritik im 19. Jahrhundert siehe auch A . W a u c k i, "L'idée de progrès dans la pensée russe au X IX e siècle." In: Rossija - Russia, 1,1974, S. 41-91; 2,1975, S. 129-161.

10 Vgl. zu Bulgakov in diesem Zusammenhang: В. Wie l e n g a, Lenins Weg zur Revolution. Eine Konfrontation mit Sergej Bulgakov und Petr Struve im Interesse einer theologischen Besinnung.

München 1971, bes. S. 97-105, 241-247. Eine traditionelle theologische (Gegen-)Position ver- tritt H.-J. Ru p p e r t, Die Kosmodizee S.N. Bulgakovs als Problem der christlichen Weltanschau-

168. ־ Ähnlich auch Berdjaevs Charakterisierung eines Sozialismus, der, wie im Marxismus, weit über die Regulierung ökonomischer Verhältnisse hinausgehend, metaphysische Fragen - nach dem Sinn des Lebens, dem Z ie l der Geschichte ־ m it H ilfe einer innerweltlichen Eschatologie zu beantworten sucht und damit zu einer Ersatzreligion w ird. N A . Be r d ja e v, Novoe religioz•

noe soznanie i obščestvennost\ SPb. 1907, Kap. 3: "Socializm как reliģija", S. 69-101.

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storischen Vorfahren zu genießen und dies zudem m it der Aussicht, jenen auch