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Im gemeinsamen zielgerichteten Schaffen verw irklicht sich die Einheit der Menschheit, werden die Individuen gleichsam zu Zellen eines "unsterblichen

Úberorganismus" (bessmertnyj sverchorganizm ) . " Dam it aber verliert der "per- sönliche Tod״ ( ličnaja sm ert^ seine Bedeutung ־ und seinen Schrecken; er wird, m it den W orten Bazarovs, ״so geringfügig sein wie das Absterben einer meiner Gehirnzellen"100. Das Individuum, das aufgeht in der unendlichen Gesamt­

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95 A .V . LunaCa rSKU, "Voprosy m orali i M . M eterlink." In: De r s., Êtjudy kritičeskie i po- lemičeskie, M . 1905, S. 175. - Dieses Aufgehobensein des *Ich* im *W ir1 bezeichnet Lunačarskij als "makrophysischen Individualismus", W eitherzigkeit, im Unterschied zum Egoismus, der, wie Vernünftig* auch immer er sein mag, stets eine A rt "M ikropsychik", Engherzigkeit, bleibe (ebd.).

% A .V . LunaCa r s k u, "V m ire nejasnogo." In: De r s., OtklUd žizni Sb. statej. SPb. 1906, S. 71.

97 Lu n a č a r sk ij, Reliģija (wie Anm . 64), S. 44. - Ganz ähnlich De r s. (wie Anm . 94).

98 Lu n a č a r sk u, Reliģija (wie Anm. 64), S. 45. - Hierzu noch einmal Comte: "V olle Lebensinten־

sität" (toute l'intensité de vie) und "subjektive Unsterblichkeit" (immortalité subjective) erlangt der einzelne durch die "große Verschmelzung" (grande identification) m it der Gesamtmensch- heit. Das "Betreiben des öffentlichen Wohls" ist die "Hauptquelle des persönlichen Glücks" und gewährt zudem die "Befriedigung des Strebens nach unsterblichem Leben": "Da das Indivi- duum sein Leben nur durch die Gattung zu verlängern vermag, w ird es so dazu geführt, sich möglichst vollständig in sie einzugliedem, indem es sich zutiefst m it deren nicht allein gegen•

wärtiger, sondern auch vergangener und zukünftiger Existenz verbindet." A . Co m t e, Rede über den Geist des Positivismus [Discours sur l'esprit positif 't 1844], Hamburg 21966, S. 154-157.

99 Dies w ird eine W iederherstellung - auf höherer Ebene - der Bedingungen des Urkommunismus sein, unter denen das "persönliche Interesse vom kollektiven nicht getrennt und der Mensch organisch m it dem Ganzen - der Gruppe oder der Kommune - verbunden war wie Zellen im lebenden Gewebe." Bo g d a n o v, "Ceü..." (wie Anm. 78), S. 121 f.

100 V. Ba z a r o v [V A . Ru d n e v], Verfmy, SPb. 1909, S. 360; zitie rt nach Kl in e (wie Anm . 8), S.

278. - M it dem gleichen B ild hatte bereits Winwood Reade 1872 die Bedeutung des Individu- ums und seines Todes fü r die fortschreitend sich vervollkommnende Gesamtmenschheit be- schrieben: "There is only One Man upon the earth; what we call men are not individuals, but components; what we call death is merely the bursting o f a cell..." Re a d e(wie Anm . 76), S. 521.

- Gegen eine solche 'Lösung* des Todesproblems gab es freilich auch von marxistischer Seite Widerspruch; so versicherte der L ite ra tu rkritike r und Soziologe Juākevič: "Das Bewußtsein des

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menschheit wie eine Welle im Meer,101 braucht keine persönliche Unsterblich- keit, da "seine Unsterblichkeit das Leben der Gattung ist102.״ Diese, ein überin- dividuelles, allmächtiges und unendliches Wesen, w ird fü r den einzelnen zum Gegenstand des Glaubens und der Verehrung und nimmt damit den Platz des - von Nietzsche fü r tot erklärten - Gottes in der atheistischen "Religion des Fort- schritts" (Lunačarskij) ein:103

eigenen *Ich״ w ird in der Gesellschaft der Zukunft nicht erlöschen, und die Persöiüichkeit w ird nie anfangen, sich als Zelle oder Neuron des kollektiven Gehirns zu empfinden...״ P.S.

JU Š K E V 1Č , Novye vejanija, SPb. 1910, S. 194.

101 Vergleich von Lu n a č a r s k ij (wie Anm. 94).

102 Ebd., S. 87f. Siehe auch Ke l l y (wie Anm. 66), S. 104. - Von orthodox-marxistischer Seite wurde freilich jegliche Annahme einer Unsterblichkeit ־ egal ob persönlich, innerhalb eines Kollektivs oder der Gattung - als Verrat am Materialismus kritisie rt und verworfen: "Seine [Lunačarskijs] *Philosophie des Kollektivismus’ ist die Philosophie eines reuigen Individuali- sten, der nach Unsterblichkeit strebt m ittels eines übernatürlichen Großen *Ich' (ebenso wie Bulgakov und Co. ihre Unsterblichkeit m ittels eines transzendenten Gottes verwirklichen wol- len)." N. Grabovsku [d.i. V.F. Ga lk in], ’Doloj materializm!* (Kritika empiriokritičeskoj bitiki).

SPb. 1910, S. 276.

103 Z ur Vergöttlichung der kollektiven Menschheit im sog. ’Gotterbauertum* (bogostnoitel’stvo; der B egriff wurde 1908 von G orlcij geprägt) vgl. R. SESTERHENN, Das Bogostroitei’stvo bei Gorkij und Lunačarskij bis 1909, München 1982. D.G. ROWLEY, Millenarian Bolshevism: Empiriomo•

nismt God-Building, Proletarian Culture. Ph.D. diss. Michigan 1982 (o ft ungenau und gegenüber Sesterhenn weit weniger ergiebig). Z ur Begriffsbestimmung J. Sc h e r r e r, "La ,construction de Dieu* marxiste ou la *recherche de Dieu* chrétienne: les termes bogostroiteVstvo et bogoiska- teVstvo.m In: Rossija - Russia, 4, Torino 1980, S. 173-198, und die dort angegebene Literatur. - Nachklänge des bogostroiteVstvo finden sich zu Beginn der zwanziger Jahre u.a. in den AU- machts- und UnsterbUchkeitsvisionen GorTcijs und der Proletkurt-Dichter sowie in A .K . Ga- stevs Plänen zur Schaffung mechanisierter koUektiver Übermenschen. Siehe II: 3.1.

In diesem Zusammenhang müßte einmal den auffaUenden ParaUelen zu Comte ("ReUgion der Menschheit"; siehe oben Anm. 76 und 98), Guyau und Renan ("ReUgion der Wissenschaft") nachgegangen werden. In UAvenirde la Science (entstanden 1848/49; vollständig veröffentUcht 1890) deutet Renan den Fortschritt der Menschheit und ihrer Wissenschaft als Prozeß der Rea- Usierung der absoluten Vernunft, d.h. Gottes; die O pfer des Fortschritts fänden sich dereinst wieder im vollkommenen Wissen, ihre UnsterbUchkeit Uege in ihrem Beitrag zur Selbstwer- dung der G ottheit. Auch Winwood Reade (siehe oben Anm. 76 und 100) schwärmt von der Selbstvervollkommnung und Vergöttüchung der unsterbüchen Gesamt menschheit: "... the One o f whom we are the elem ents,... though we perish, never dies, but grows from period to period, and by the united efforts o f single molecules called men ... is raised toward the D ivine power which he w ill finally attain. O ur religion therefore is V irtue; our Hope is placed in the hap- piness o f our posterity; our Faith is the Perfectibility o f Man." Re a d e (wie Anm . 76), S. 536f. - Unbeachtet blieb bislang auch die Frage nach einem Einfluß Bergsons, der in seiner 1907 er- schienenen und - nach dem Zeugnis A.F. Losevs - auch in Rußland alsbald starle beachteten Évolution créatrice m it ganz ähnlichen W orten und Bildern wie die bogostroiteli das Eintauchen des Menschen in den unendUchen Strom des Lebens beschreibt, sein Verschmelzen m it der Gesamtmenschheit, die vielleicht sogar den Tod überwinden werde: "... l*humanité entière, dans l’espace et dans le temps, est une immense armée qui galope à côté de chacun de nous, en avant et en arrière de nous, dans une charge entraînante capable de culbuter toutes les rési- stances et de franchir bien des obstacles, même peut-être la m ort." H. Be r g s o n, L ’évolution créatrice, Paris 1911, S. 294. - Schließlich soU, wenn auch als bloße Vermutung, auf die Mög- lichkeit eines Nachwirkens der von den Slavophilen form ulierten (und auf die Gemeinschaft der Rechtgläubigen bezogenen) sobomost*-Idee in säkularisierter Form hingewiesen werden:

sobomost’, verstanden als das Gefühl der harmonischen Eingebundenheit des einzelnen in eine

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D er Glaube des aktiven Menschen ist der Glaube an die künftige Menschheit, seine Religion ist die Gesamtheit jener G efìihle und Gedanken, die ihn zum Teilnehm er am Leben der Menschheit ma- chen und zu einem G lied in der Kette, die sich zum Übermenschen hin spannt, zu einem schönen und mächtigen Geschöpf, einem vollendeten Organismus, in dem Leben und Vernunft ihren Sieg über die Elemente feiern werden.104

Der einzelne - m it Nietzsche aufgefaßt als "Brücke zum Übermenschen"105 - be- sitzt in dieser Sicht lediglich "historisch-instrumentellen W ert106, doch ist er mit dieser seiner Rolle versöhnt in dem Bewußtsein, durch die gemeinschaftliche A rbeit zu einem T eil der fortschreitenden Menschheit zu werden und damit An*

te il am zukünftigen Glück zu erlangen, einem Glück, das vollkommen sein wird durch den "völligen Trium ph über die N atur"107 und den realen Sieg über den Tod.

... w ir alle werden unausweichlich verschwinden, um auf Erden Platz zu machen fü r Menschen, die ...

ein neues, schönes, strahlendes Leben schaffen und - möglicherweise - durch die wunderbare Kraft ihres vereinten W illens den Tod besiegen werden.108

*Vereinter W ille’ bedeutet gesellschaftliche Organisation. Von dem Grad ihrer Entwicklung hängen die intellektuellen Fähigkeiten und die technischen Mög- lichkeiten und damit die Macht der Menschen über die Natur ab. Diese Macht ist um so größer, je höher der ’gesellschaftliche Organismus’ entwickelt ist, d.h.

Gemeinschaft, einen sozialen Organismus, sowie der Teilhabe an und der Übereinstimmung m it einem überindividucllen kollektiven Bewußtsein, beschreibt auch das Ideal der bogostroiteli.

104 L u n a č a rs k u (wie Anm. 80), S. 181. - Das - auf Nietzsche zurückgehende - B ild vom Einzel־

menschen als einem (Ketten-)G lied (zverto) wurde zur beliebten Metapher in den Schriften der bogostroiteli; so heißt es noch zwei Jahrzehnte später bei Bogdanov, der A rbeiter erkenne sich selbst als *,lebendiges G lied eines großen, allesbesiegenden Ganzen" (A . B ogdanov, "Zakony novoj sovesti." [1924] In: D ers., О proletarskoj..., wie Anm. 93, S. 343); und Lunačarskij: der

"neue Mensch" empfinde sich als "G lied einer großen Kette", als T e il eines ewigen Ganzen"

(A . L u n a č a rs k ij, "О prepodavanii isto rii v kommunističeskoj äkole." [1918] In: D ers., ProsvešČenie i revoljucija. Sb. statej. M . 1926; hier S. 105f.).

105 "D er Mensch ist die Brücke zum Übermenschen" ־ diese, Nietzsches Zarathustra entlehnte Formel hatte Bogdanov seinem Aufsatz "Sobiranie čeloveka" (1904) als M otto vorangestellt.

Nietzsches ״Übermensch* w ird bei Bogdanov zur vollkommen vereinten ״Übermenschheit״

(sverchčelovečestvo).

106 Vgl. Ku n e, "Nietzschean Marxism in Russia" (wie Anm. 65), S. 166. De r s., "The Nietzschean Marxism..." (wie Anm. 65), S. 177f. ־ Eben diese Sicht hatte S.N. Bulgakov kritisie rt, als er davon sprach, daß "die Leiden der einen Generationen ... gleichsam die Brücke zum G lück fü r die anderen" seien (siehe oben Anm. 13).

107 Vgl. О proletarskoj étike (wie Anm. 69), S. 46-53.

108 M . Go r'k u, "RazruSenie ličnosti."Jn: Očerid (wie Anm. 9), S. 3%. A u f den "Geist der Gattung"

(Lu n a č a rSRU, wie Anm . 64, S. 73) und den Glauben an die Zukunft der Menschheit gründet sich auch die Opferbereitschaft, die aus den berühmten W orten Rybins spricht: "Mögen Tau- sende sterben, damit das V olk auf der ganzen Erde zum Leben aufersteht! Das ist es: Sterben ist leicht, wenn sie dann nur auferstehen!" M . Go r'k u, " Mat 1906] ".״] In: De r s., PSS.

Chudoiestvennyeproizvedenija v dvadcatipjati tomach. T . 8, M . 1970, S. 136. W eitere Beispiele fü r G o rlu js Glauben an die Überwindbariceit des Todes durch die 'Energie des Kollektivs* bei S.G. SEMENOVA, "״Ne vižu predela mošči razuma׳." In: Literatumaja Učeba, 1984,3, S. 150-156.

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je weiter die Vereinigung der Menschen vorangeschritten ist. M it zunehmender