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VERNETZTE VERBANDSMITGLIEDER – FAZIT

1 VERBANDSMITGLIEDER UND NETZWERKER

1.5 VERNETZTE VERBANDSMITGLIEDER – FAZIT

Am durch ausserparlamentarische Gruppen erzwungenen Ausschluss von Léon Nicole aus der laufenden Nationalratssession im Frühjahr 1933 lassen sich paradigmatisch zentrale Punkte zu den antikommunistischen Netzwer-ken des SVV in der Zeit von 1930 bis 1948 nochmals aufzeigen. Damals versammelten sich mehrere Fronten, die Offiziersgesellschaft, der Unterof-fiziersverband, mehrere studentische Verbindungen und der SVV und ver-langten den sofortigen Ausschluss des nach den «Genfer Unruhen» wegen

«Aufwiegelung» verurteilten Parlamentariers Léon Nicole. Unterstützt wur-den die ausserparlamentarischen Gruppen dabei von wur-den beiwur-den freisinnigen Nationalräten Hermann Schüpbach und Henry Vallotton sowie dem Katho-lisch-Konservativen Heinrich Walther, die dem Parlament die Anträge vortru-gen. Mit grosser Mehrheit wurden, obwohl formale Fehler begangen wurden, die Anträge angenommen und Nicole in der Folge aus der laufenden Session ausgeschlossen.

Diese Kooperation des SVV mit den Fronten führt direkt zur wichtigen Frage nach dem Verhältnis der 1918er-Rechten zu den Fronten. Der SVV las das Aufkommen der Fronten um 1933 als Zeichen für eine Veränderung in der gesellschafts- und parteipolitischen Ordnung, an der er teilhaben wollte. Seine Haltung zu den Fronten war dabei geprägt vom Diskurs um die «Neuordnung Europas», der in der Schweiz eine spezifische Ausgestaltung erfuhr, indem die Eingliederung der Schweiz und die Anpassung der Staatsform «auf Schweizer-art»618 geschehen sollte. Undemokratische Methoden und Ideologien wurden

616 Koordinationskomitee: Procès-verbal de l’Assemblée du 30 novembre, 1944. Convoquée par le Comité national d’action, 30. 11. 1944, BAR#J2.11#1000/1406#305*.

617 Koordinationskomitee: Protokoll der Sitzung vom 13. 2. 1946, BAR#J2.11#1000/ 1406#297*.

618 So wurde in der Delegiertenversammlung des SVV 1941 festgehalten, dass die Schweiz eine Erneuerung nötig habe, «aber unter schweizerischen Gesichtspunkten.» (SVV: Protokoll der Delegiertenversammlung vom 5. Juli 1941, 12. 7. 1941, BAR#J2.11#1000/1406#36*.) Auch General

damit gewissermassen als «schweizerisch»  getarnt. Während sich der SVV zunächst aktiv um die Eingliederung der neuen Fronten in seine eigene Politik bemühte und noch im Frühjahr 1933 als koordinierende Dachorganisation der verschiedenen Fronten auftrat, zeichnete sich rasch ab, dass die Führungsper-sonen des SVV aus dem Verband selbst eine militante Front gründen und den SVV auflösen wollten. Die Fusion des SVV mit dem durch Eugen Bircher und Arnold Huber mitbegründeten Bund für Volk und Heimat scheiterte jedoch am Widerstand seiner Sektionen. Im Unterschied zur Verbandsleitung sahen sie eine grosse inhaltliche Differenz zwischen dem SVV und dem frontistischen BVH, die eine Fusion verunmöglichte.

Trotz dieser teils deutlichen Distanzierung von den Fronten seitens seiner Sektionen bemühte sich die Leitung des SVV in der Folge aktiv um Aufnahme in frontistische Komitees zur Bekämpfung oder Unterstützung verschiedener Initiativen und Gesetzesvorlagen. Aus strategischen Gründen – insbesondere nachdem sich die bürgerlichen Parteien bald wieder von den Fronten distan-zierten – trat der SVV zwar aus den Initiativkomitees teilweise wieder zurück oder unterstützte die Anliegen von Beginn an durch eigene Komitees. Dennoch zeigte sich eine Übereinstimmung der politisch-ideologischen Positionen der Fronten und des SVV in mehrfacher Hinsicht: Sie bekämpften den Kommunis-mus, betonten die erforderliche Einigung des bürgerlichen oder nationalen Blocks, sie kritisierten die demokratischen Institutionen der Schweiz und das aus ihrer Sicht «lähmende» Proporzwahlsystem, forderten eine Anpassung an die «Neue Zeit» und betonten gleichzeitig die «Unabhängigkeit» des Landes.

Dass die Fronten auch antisemitische Positionen vertraten und sich teilweise zum Nationalsozialismus bekannten, störte den Verband nicht. Im Gegen-teil: Der SVV politisierte selbst antisemitisch, wenn auch zurückhaltender und weniger öffentlich als die Fronten. Die antisemitische Haltung des SVV kommt etwa in der bis 1937 geltenden Klausel, dass Juden nicht Mitglied des SVV werden konnten, und in dem auch nach 1937 mehrheitlich praktizier-ten Ausschluss von Juden zum Ausdruck. Noch deutlicher wird sie in seinen Denunziationsmeldungen zu jüdischen Flüchtlingen oder Einbürgerungs-kandidatinnen und -kandidaten, die von antisemitischen Vorurteilen und Ste-reotypen zeugten und auf die weiter unten eingegangen wird.619 Erst ab 1938 respektive explizit sogar erst ab 1940 begann sich der SVV von jenen Fronten

Henri Guisan erklärte am 15. November 1941 anlässlich einer Gedenkfeier bei Morgarten: «Wir wollen uns an das neue Europa anpassen, aber nach Schweizerart!». Zit. nach: Tanner 2001, S. 270.

619 Vgl. Kapitel 2.3, S. 210–217.

zu distanzieren, die am nationalsozialistischen oder faschistischen Ausland orientiert waren. Unkritischer war er dagegen nach wie vor gegenüber Fron-ten, die (in den Worten des SVV) «urständisch-schweizerisch»620 waren  – selbst wenn sie klar antidemokratische Positionen vertraten. Somit kann auch in Bezug auf diese Distanzierung nicht unbedingt von einer Zäsur gesprochen werden. Der Diskurs um die «Neuordnung Europas» war beim SVV nach wie vor präsent, und eine Anpassung der politischen und gesellschaftlichen Ord-nung schien ihm ebenfalls in der Schweiz erforderlich, wie in der Resolution vom 25. Juli 1940 zum Ausdruck kam. Anders als man vielleicht erwarten könnte, löste denn auch während des Zweiten Weltkrieges die Angst vor dem Nationalsozialismus nicht etwa grundsätzlich die Angst vor dem Kommunis-mus ab. Im Gegenteil: Der NationalsozialisKommunis-mus wurde im rechtsbürgerlichen Milieu lange völlig unkritisch als Bekämpfer des Kommunismus wahrgenom-men, wie am Beispiel der Action Résistance Antirévolutionnaire gezeigt wurde, die von einem kommunistischen Umsturzversuch Ende des Zweiten Weltkrieges ausging und entsprechende Abwehrmassnahmen plante.

Als es 1940 zu einer Neubewertung der Fronten kam und die verschiedenen Gruppen verboten und per Gesetz aufgelöst wurden, gingen nichtfrontistische Gruppierungen relativ unbeschadet daraus hervor  – auch wenn sie frontis-tische Anliegen unterstützt hatten. Der SVV und andere rechtsbürgerlichen Gruppierungen wie die militärischen Verbände oder die Ligue Aubert boten den Fronten also über lange Zeit einen politischen Resonanzraum, der ihre Ideen und Strategien rezipierte und in die Gesellschaft hineintragen konn-te.621 In der historischen Forschung werden verschiedene Gründe für das Scheitern der Fronten genannt, darunter ihr «Radau-Antisemitismus»622 oder eine «schablonenhafte Imitation der Diktaturen»623. Zentral war aber auch die sogenannte Geistige Landesverteidigung. Zwar waren die verschiedenen Strömungen, die sich zur Geistigen Landesverteidigung bekannten, auf wei-ten Strecken unvereinbar, das Stichwort «nationale Integration» ermöglichte jedoch eine Abgrenzung der bürgerlich-liberalen, der sozialdemokratisch- gewerkschaftlichen und der katholisch-konservativen Linien im Verbund ge-gen die Erneuerungsbewegunge-gen. Mit der Geistige-gen Landesverteidigung, zu der sich die SPS bekannt hatte, schien indes eine antisozialistische Haltung, wie sie noch zu Beginn der 1930er Jahre nicht nur von rechtsbürgerlichen

620 SVV/Weber 1935, S. 24.

621 Tanner 2015, S. 221.

622 Kreis 1992, S. 175.

623 Mattioli 1995a, S. 16.

Gruppierungen, sondern auch von den bürgerlichen Parteien geäussert wurde, nicht mehr kompatibel. Anders als die bürgerlichen Parteien bekämpften die Fronten, die Ligue Aubert und der SVV die SPS jedoch nach wie vor unerbittlich.

Dies führte, wie noch ausführlich gezeigt wird, zu einer zunehmenden Desin-tegration dieser Gruppen während des Zweiten Weltkrieges.624

Dass der Vorschlag zum Ausschluss Nicoles aus dem Nationalrat dem Parlament von zwei freisinnigen Nationalräten und einem katholisch-kon-servativen Nationalrat vorgetragen wurde, verweist weiter auf Allianzen zwi-schen den bürgerlichen Parteien und den Fronten, aber ebenso zwizwi-schen den bürgerlichen Parteien und dem SVV. Wie noch zu zeigen sein wird, konnte der SVV für Interpellationen oder Motionen stets auf befreundete Parlamen-tarier zurückgreifen, so auch in diesem Fall. Darüber hinaus wird hier eine Vereinbarkeit von Liberalismus und Antikommunismus deutlich, die sich in der FDP-Mitgliedschaft etlicher SVV-Mitglieder abbildet. Der SVV zeichnete sich gerade dadurch aus, auch den Freisinn zu umfassen. Die in diesem Kapitel dargestellten Aktivitäten des SVV legen überdies nahe, dass eine freisinnige Haltung in dieser Zeit nicht nur mit antikommunistischen, sondern durch-aus auch mit antisemitischen oder frontistischen Haltungen zu vereinbaren war. Beim Freisinn dominierten in den 1930er Jahren jene Stimmen, die von Erneuerungsforderungen und Aufbruchstimmung geblendet und in antikom-munistischer Strömung festgefahren waren. Liberale Stimmen, die mit «po-litischem Augenmass» nach Lösungen für die Schweiz in der Krise suchten, wurden übertönt.625 Erst ab Mitte der 1930er Jahre stellte sich diesbezüglich ein Wandel ein, wie etwa die auf Stucki zurückgehenden Kooperationsbemü-hungen der FDP mit der Sozialdemokratie 1937 zeigten.

Wichtig für die Einflussmöglichkeiten des SVV war weiter auch sein Netz-werk zur Presse und hier vor allem zur Schweizer Mittelpresse unter Samuel Haas, durch das der Verband seine Artikel in bürgerlichen Zeitungen, welche die Dienste der Mittelpresse abonniert hatten, verbreiten konnte. Weniger relevant schien dagegen die auch personelle Verflechtung mit der antikom-munistischen Konkurrenzorganisation Entente Internationale Anticommuniste gewesen zu sein, mit welcher der SVV sowohl über den Gründer Théodore Au-bert wie auch über den Leiter des Centre Suisse, Maurice Roullet, beide ebenfalls (ehemalige) Mitglieder des SVV, verbunden war. Die beiden Organisationen konkurrenzierten sich und nahmen für sich je in Anspruch, die wichtigste

624 Tanner 2015, S. 238.

625 Ebd., S. 226.

antikommunistische Gruppierung der Schweiz zu sein, was eine Kooperation lange verunmöglichte. Die Gründung des Centre Suisse der Ligue Aubert er-schwerte die Akquirierung von Subventionszahlungen an den SVV, ansonsten schien die Ligue Aubert die Tätigkeit des SVV aber weder eingeschränkt noch befördert zu haben. Erst während des Zweiten Weltkrieges wurde eine Zusam-menarbeit des SVV mit der Ligue Aubert sowie mit der Schweizer Mittelpresse von Samuel Haas in Form der ARA angegangen. Zwar wurden Konzepte zur Abwehr der Revolution erstellt, die sich an der Landesstreikzeit orientierten, auch Bro-schüren wurden ausgetauscht, jedoch folgten keine konkreten politischen Ak-tivitäten. Insbesondere aus finanziellen Gründen wurde die Erweiterung des Zusammenschlusses um die Gesellschaft zur Förderung der schweizerischen Wirt-schaft und den Redressement National interessant. Die ARA wurde in der Folge Koordinationskomitee genannt und die Wirtschaftsförderung finanzierte die darin beteiligten Organisationen mit grossen Beträgen. Ab 1943 war der SVV fast ausschliesslich von den Subventionen der Wirtschaftsförderung abhän-gig. Für die Wirkmächtigkeit des SVV und ebenso für jene des Antikommunis-mus in der Schweiz waren solche Verflechtungen zur Wirtschaft zentral. So wurde der SVV lange auch durch Banken und Arbeitgeberverbände finanziert.

Diese Kooperation der Wirtschaft mit antikommunistischen Organisationen im Bereich des Betriebsschutzes und der Streikabwehr steht beispielhaft für eine (republikanisch geprägte) Selbstorganisation und ein Misstrauen in den Staat,626 wie sie für die Schweiz in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eben-falls in anderen Bereichen, so etwa im Fürsorgebereich,627 charakteristisch sind. Diese Form der antikommunistischen, bürgerlichen Selbstorganisation lässt sich auch für andere liberale Staaten nachweisen, wie etwa die Studie des amerikanischen Historikers Chad Pearson zeigt. Er weist nach, dass amerika-nische Unternehmer den Selbstschutz der Betriebe mit Gruppen eigener, an-tikommunistisch eingestellter Arbeitern organisierten. Sie kontrollierten so Arbeitskämpfe und überwachten linke Arbeiter. Viele Unternehmer, insbeson-dere jene, die in grösseren Unternehmerverbänden aktiv waren, hatten zudem gute Beziehungen zu den Behörden und konnten damit Gesetze durchsetzen, die privates Eigentum unter den Schutz des Staates stellten und Radikalismus kriminalisierten.628

626 Vgl. etwa die Ausführungen in: SVV: Notizen zur Konferenz vom 23. Oktober 34 in Bern [Werk-dienstkonferenz], 18. 10. 1934, BAR#J2.11#1000/1406#103*.

627 Hettling 1998, S. 234; vgl. zur Verstaatlichung der Sozialfürsorge zum Beispiel: Jenzer 2014.

628 Pearson 2014, S. 163.

Ellen Schrecker schreibt für die USA, dass die politische Diversität der Grup-pen und Personen, die Ende der 1930er Jahre die Kommunistische Partei be-kämpfen wollten, doch bemerkenswert sei: «Anticommunism made strange bedfellows.»629 Dies gilt ebenso für die Schweiz, wo Antikommunismus zu einem Kristallisationspunkt der bürgerlichen Rechten wurde, zu einem kul-turellen Code, der zu einer typischen, informellen Vernetzung unterschied-lichster Gruppierungen und Politiker führte, die äusserst wirkungsvoll war, und der den ideologisch teils heterogenen, rechtsbürgerlichen Block in der Abwehr gegen links zu vereinen mochte.630 Antikommunismus war also nicht beschränkt auf wenige Gruppierungen, die sich unter anderem in ihrer Na-mensgebung als antikommunistische Organisation ausgaben, sondern ein breit verankerter Konsens. Dass zudem auch frontistische oder faschistische Gruppierungen antikommunistisch aktiv waren, erlaubte Allianzen über das rein bürgerliche Lager hinweg, die demokratische Grundsätze zeitweise aus-hebelten. Am Beispiel des SVV kann gezeigt werden, dass Antikommunis-mus in der Schweiz im Bürgertum verankert und in ein bürgerlich-liberales Netzwerk eingebunden war, dabei aber auch die Fronten umfasste. Durch verschiedene Rollenakkumulationen blieb das tatsächliche Netzwerk letztlich auf einen kleinen Personenkreis beschränkt, der sich in den verschiedenen Netzwerken und Organisationen wiederfand und mit Jakob Tanner als face to face society beschrieben werden kann.631

629 Schrecker 1998, S. 75.

630 Jost 1992b, S. 137; Tanner 2015, S. 162; vgl. auch: Brassel-Moser 1994, S. 79.

631 Tanner 1997, S. 319.

2 DENUNZIANTEN

Der private Nachrichtendienst des SVV wurde 1919 gegründet.1 Ab 1929 war er voll funktionsfähig, ab 1932 arbeitete er intensiv mit den Behörden zusam-men und wurde für einige Jahre zur wichtigsten Tätigkeit des Verbandes. Nach 1941 arbeitete der Nachrichtendienst nur noch eingeschränkt und der SVV ver-lagerte seinen Schwerpunkt auf lobbyistische Aktivitäten für eine restriktive Flüchtlingspolitik.2 Die Meldungen aus dem SVV-Nachrichtendienst an die Bundesbehörden stellten eine institutionalisierte Form der Denunziation dar.

Arbeiten aus dem Bereich der historischen Denunziationsforschung begin-nen gewöhnlich mit einer ausführlichen Darstellung verschiedener Begriffs-definitionen von Denunziation, wobei jeweils von der Definition der beiden wohl wichtigsten Denunziationsforschern Sheila Fitzpatrick und Robert Gel-lately ausgegangen wird.3 Sie definieren Denunziationen als «spontaneous communications from individual citizens to the state (or to another authority such as the church) containing accusations of wrongdoing by other citizens or officials and implicitly or explicitly calling for punishment».4 Diese Definition, die auch dieser Arbeit als Ausgangspunkt dient, ist nicht unumstritten.5 Die meistgenannten Kritikpunkte sind dabei, die Definition sei zu stark auf die repressive Seite der Denunziation fixiert und berücksichtige nicht die instru-mentellen Absichten der Denunzianten wie auch des Staates – ein Kritikpunkt, den Gellately in späteren Arbeiten aufnahm.6 Weiter wird in der Forschung an-gemerkt, dass auch die Reaktion des Empfängers der Denunziationen in eine Definition einfliessen müsste.7 Dass der Unterschied zwischen Denunziation und Anzeige mit dieser Definition ungeklärt bleibe, wurde ebenfalls bemän-gelt.8 Häufig wurde stattdessen eine noch engere Umschreibung des Begriffs Denunziation gefordert.

1 Vgl. Zur Entstehung des Nachrichtendienstes: Kapitel 1.2, S. 73–76.

2 Vgl. Kapitel 3.4.

3 Ein aktueller Forschungsstand findet sich in: Krätzner 2015, S. 9–13. Die historische Denunzia-tionsforschung kann in die kulturhistorisch argumentierenden Surveillance Studies eingeordnet werden, vgl. Reichardt 2016, S. 18–24.

4 Fitzpatrick/Gellately 1996, S. 747.

5 Vgl. zur Kritik an der Definition ausführlich in: Abke 2003, S. 17–27; Hornung 2010, S. 20–28;

Landwehr/Ross 2000, S. 10–11; Schröter 2007b, S. 203–205, S. 221–224; Thonfeld 2003, S. 27–32.

6 Gellately 2001, S. 16–17.

7 Fürmetz 1998, S. 142.

8 Schröter 2007b, S. 221.

Für mich stellt sich allerdings die Frage, ob dadurch die analytische Un-schärfe nicht vielmehr noch verstärkt würde. So scheint es mir etwa pro-blematisch, eine scharfe Trennlinie zwischen Anzeigen beziehungsweise Informieren und Denunzieren zu ziehen. In einer geläufigen Definition würde der Informant einen tatsächlichen Rechtsbruch anzeigen,9 während im Gegenzug der Denunziant von vermutetem Rechtsbruch berichtet oder als unsittlich empfundenes Handeln denunziert. Am konkreten Fall zeigt sich jedoch, dass gerade der Unterschied zwischen tatsächlichem und vermute-tem Rechtsbruch oft schwammig ist, dann etwa wenn die Gesetzesgrundlage häufig ändert, wie es in Diktaturen der Fall ist.10 Auch die Meldungen des SVV waren, wie in diesem Kapitel noch deutlich wird, oft moralisch motiviert.

Gleichzeitig informierten dieselben Meldungen teilweise auch über rechts-widriges Verhalten, was auf die Schwierigkeit der Unterscheidung zwischen den Begriffen Information, Anzeige und Denunziation auch ausserhalb von Diktaturen hinweist. Und selbst wenn Gesetzesverstösse angezeigt wurden, so hängt die Klassifizierung als Anzeige oder Denunziation im Wesentlichen davon ab, ob der oder die Wertende die Norm, deren Verletzung angezeigt wird, als legitim anerkennt oder nicht. Das gilt nicht nur für die Wahrneh-mung des Historikers oder der Historikerin, sondern auch für jene der Zeit-genossen: Was aus Sicht der Polizei als Anzeige zu werten ist, kann für eine betroffene Person dennoch Denunziation sein.

In Bezug auf die Nachrichtendienstmeldungen des SVV stellt sich weiter die Frage, ob diese mit der oben dargestellten Definition von Fitzpatrick und Gellately überhaupt als Denunziationen gewertet werden könnten, da sie we-der spontan noch von einem einzelnen Bürger geäussert wurden, sonwe-dern aus einem institutionalisierten, wenn auch privaten Nachrichtendienst hervor-gingen. Anders jedoch als etwa die V-Leute in der DDR, die gemäss dem Histo-riker Carsten Schreiber als «modernes Instrument diktatorischer Herrschaft zur Durchdringung und Steuerung komplexer Gesellschaften»11 in den Staat institutionell eingebunden waren, operierte der SVV-Nachrichtendienst nicht im Auftrag des Staates. Die Initiative für den Nachrichtendienst ging vom SVV aus, der Verband bestimmte, wen er observierte und wann und in welcher Form er die Meldungen an die Bundesbehörden machte. Insofern bewerte ich die Nachrichtendienstmeldungen des SVV als Denunziationen, wenn auch als

9 Fitzpatrick 2001, S. 385.

10 Gellately 1996, S. 932.

11 Schreiber 2008, S. 10.

institutionalisierte, gesteuerte Form der Denunziation. Dies bedingt jedoch, sich von den oben skizzierten Definitionsversuchen zu lösen und stattdes-sen von einem alltagssprachlichen Denunziationsbegriff auszugehen und das Denunzieren als «uneindeutiges, definitorisch nicht zu reduzierendes Phänomen»12 zu verstehen, wie dies etwa auch der Historiker Olaf Stieglitz vorschlägt. Damit wird das Denunzieren im breiten semantischen Feld von Information, Hinweis, Meldung, Anzeige oder Verrat angesiedelt, in welchem so zentrale gesellschaftliche Themen wie Loyalität und Vertrauen, Sicherheit und Kontrolle, aber auch Fragen zur Staatsbürgerschaft verhandelt werden.13 Ebenfalls kann mit dieser Öffnung neben freiwillig-spontaner auch die forma-lisiert-regelmässige Zuträgerschaft mitgedacht werden.14

Praktiken des Staatsschutzes und des SVV-Nachrichtendienstes

Diesem Kapitel übergeordnet ist die These, dass der Nachrichtendienst des SVV in den 1930er Jahren zunehmend institutionalisiert und in den Über-wachungs- und Kontrollapparat des Staates zeitweise eingebunden wurde.15 Daneben verfolgt das Kapitel weitere, mitunter von der aktuellen Denunzia-tionsforschung inspirierte Thesen: Erstens zeige ich mit einer semantischen Analyse der Denunziationsmeldungen, dass die vom SVV angezeigten «Delik-te»16 antikommunistischen oder antisemitischen Stereotypen entsprachen, die denunzierten Kommunisten und die denunzierten jüdischen Flüchtlinge also einheitlich und stereotyp beschrieben wurden. Damit entsprachen die Denunziationsmeldungen dem antikommunistischen und antisemitischen Diskurs der Zeit und formten gleichzeitig Vorstellungen vom Kommunisten und vom jüdischen Flüchtling als stereotype Figuren mit. Auch die Denunzi-ationen von jüdischen Flüchtlingen waren von antikommunistischen

12 Stieglitz 2013, S. 18.

13 Vgl. ebd.

14 Vgl. Stieglitz 2001, S. 119.

15 Aus diesem Grund spreche ich von einer institutionalisierten Form der Denunziation.

16 Der Begriff Delikt meint eine gesetzeswidrige, strafbare Handlung. Die Tatbestände oder Be-obachtungen, die vom SVV denunziert wurden, waren oft keine Delikte im juristischen Sinn.

Um zu kennzeichnen, dass die Behörden regelmässig auf die Meldungen reagierten und die angezeigten Tatbestände als Delikte behandelten, selbst wenn keine Straftatbestände vorlagen, spreche ich dennoch von «Delikt» und nicht einfach von Beobachtung oder Vermutung. Ich habe aber das Wort in Anführungszeichen gesetzt, um zu kennzeichnen, dass es sich nicht um ein strafrechtlich relevantes Delikt handelte. Durch den behördlichen Umgang mit den Meldungen des SVV, wurden die vom SVV angezeigten, angeblichen «Delikte» im Rahmen einer polizeilichen Untersuchung zu einem Delikt gemacht.

typen geprägt und Antikommunismus fand so auch Eingang in die offizielle Flüchtlingspolitik der Schweiz.

Klar definierte, strafrechtlich relevante Delikte meldete der SVV dagegen selten. Dieser inhaltlichen Undifferenziertheit gegenüber stand  – dies als zweite These – die Akribie, mit der die Nachrichtendienstmeldungen verfasst wurden. Durch diese Systematik erhielt das Handeln des Verbandes erst eine Legitimation, auch aus Sicht der Behörden.

Drittens wird Denunzieren von neueren Arbeiten der historischen Denunzi-ationsforschung als Handlung aufgefasst, die sich mit Michel Foucaults Analytik der Macht gut erklären lässt.17 Das Verhältnis zwischen Denunzianten und Empfängern der Denunziationen, in diesem Fall also den Bundesbehörden, lässt

Drittens wird Denunzieren von neueren Arbeiten der historischen Denunzi-ationsforschung als Handlung aufgefasst, die sich mit Michel Foucaults Analytik der Macht gut erklären lässt.17 Das Verhältnis zwischen Denunzianten und Empfängern der Denunziationen, in diesem Fall also den Bundesbehörden, lässt