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DIE GRÜNDUNG DES SVV 1919 UND SEINE INTERNATIONALE VERNETZUNG BIS 1930

1 VERBANDSMITGLIEDER UND NETZWERKER

1.1 DIE GRÜNDUNG DES SVV 1919 UND SEINE INTERNATIONALE VERNETZUNG BIS 1930

Der SVV wurde im April 1919 auf Initiative der Aargauischen Vaterländischen Vereinigung (AVV) und der Union Civique Suisse gegründet. Hintergrund für die Gründung dieser nationalen Bürgerwehrbewegung waren Vorstellungen eines bevorstehenden revolutionären Umsturzes, die durch den Landesstreik von November 1918 genährt wurden, aber auch bereits vor dem Landesstreik kursierten und sich in antisozialistischen und antiliberalen Diskursen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert äusserten.

1 Thürer 2010.

Die Gründung des SVV nach dem Landesstreik

Einige Tage nach dem Streik der Zürcher Bankangestellten vom 30. September bis 1. Oktober 1918 behauptete Fritz Fleiner, ordentlicher Professor für Staats- und Kirchenrecht an der Universität Zürich und Verwaltungsrat der Schwei-zerischen Kreditanstalt, in einem Schreiben an Bundesrat Calonder, dass die

«Führer der bolschewistischen Aktion in der Schweiz mit auswärtigen Regie-rungen und deren diplomatischen Vertretern in der Schweiz in Beziehung»

ständen und dass es sich empfehle, «schon jetzt, eventuell unter privater Mit-wirkung, Massnahmen zu treffen, die es ermöglichen sollen, im Augenblicke der Gefahr rasch zu handeln, und die Verbindung der Stadt Zürich mit der übrigen Schweiz aufrechtzuerhalten.»2 In diesem Schreiben forderte Fleiner implizit die präventive Aufstellung privater Bürgerwehren. Damit war er im Herbst 1918 nicht allein.3 In bürgerlichen Kreisen herrschte Angst vor einem unmittelbar bevorstehenden, bolschewistischen Umsturz in der Schweiz. So verbreitete der Schweizer Alpen-Club (SAC) am 7. November 1918 einen Aufruf zur Gründung einer nationalen Bewegung gegen die angeblich drohende Ge-fahr: «Fremde Elemente machen sich in der Schweiz bemerkbar. Abgesandte von Ländern und von Soviets suchen in unsere innern Angelegenheiten sich einzumischen. Die bolschewistische Revolution soll entfacht werden. Das Zentralkomitee des Schweizerischen Alpenklubs, durchdrungen von nationalem Geiste, ergreift die Initiative zu einer patriotischen Bewegung. Es ersucht seine Sektionen, Besprechungen mit weiteren patriotischen Vereinen abzu-halten.»4 Auch der Aargauer Offizier Eugen Bircher sprach am 5. November bei General Wille und bei Bundesrat Müller vor, um vor einer Revolution zu war-nen. Und Otto Heusser, Bezirksanwalt in Zürich, behauptete, dass für die Zeit zwischen dem 7. und 10. November 1918 ein linksradikaler Putsch in Zürich geplant sei.5 Beide – Bircher und Heusser – sollten später eine tragende Rolle im SVV spielen. Auffällig ist, dass sämtliche dieser Revolutionswarnungen aus der Zeit vor dem Landesstreik stammten. Es ist bezeichnend, dass die konterre-volutionären Vorbereitungen den «rekonterre-volutionären» Bewegungen, respektive den Streiks der Arbeiterschaft, vorangingen. Zwar gab es bereits vor dem

2 Vertraulicher Brief von Fleiner, Fritz an Bundespräsident Calonder, Felix, 25. 10. 1918, editiert in:

Gautschi 1971, S. 149–150, S. 150.

3 Zimmermann 2012, S. 155.

4 Zit. nach: Aargauische Vaterländische Vereinigung (Hg.) 1943, S. 11.

5 Zimmermann 2012, S. 158.

desstreik eine Reihe von Streiks,6 und gerade der Streik der Zürcher Bankan-gestellten wurde von den Bürgerlichen als Generalprobe für die Revolution angesehen. Es scheint aber primär im Bürgertum eine Revolutionserwartung geherrscht zu haben, die auch das überdimensionierte und provokatorische militärische Aufgebot und die grosse private Mobilisierung erklärt.7

Die hier zum Ausdruck kommende Deutung des Landesstreiks respek-tive vorangehender Streiks als Revolutionsversuch wurde erst mit den Stu-dien der Sozialhistoriker Willi Gautschi und Markus Mattmüller sowie mit der Publikation des ehemaligen Schaffhauser Bauernsekretärs und späteren SP-Politikers Paul Schmid-Ammann 1968 widerlegt.8 Heute sind sich His-toriker und HisHis-torikerinnen einig, dass von den Streikenden während des Landesstreiks keine reale Gefahr für die bürgerliche Ordnung ausging und dass eine politische Umwälzung jenseits des Erreichbaren lag.9 Auch eine di-rekte Einflussnahme der Sowjets konnte nach der Öffnung der sowjetischen Archive komplett widerlegt werden.10 Heute wird festgehalten, dass die Linke, die in ihren Schriften zwar durchaus angriffig argumentiert hat, vor der An-wendung ihrer Drohungen zurückgeschreckt sei. Der Historiker Jakob Tanner spricht in diesem Zusammenhang von einer «disziplinierten Inszenierung»

eines Streiks und vom Versuch der Linken, über die Streikdrohung politisch wahrgenommen zu werden.11 Denn die aktuelle Forschung zeigt, dass

6 Die Streikintensität war in der Schweiz schon vor dem Ersten Weltkrieg relativ hoch gewesen.

Die Streikzahlen gingen international wie auch in der Schweiz in den Jahren 1914 und 1915 zurück, um parallel zur schlechter werdenden Versorgungslage und der wachsenden Teuerung ab 1916 wieder zu steigen. Hirter 1988.

7 Zimmermann 2012, S. 193.

8 Gautschi 1978, S. 220; Gautschi 1988; Schmid-Ammann 1968, insb. S. 352–354; vgl. auch das Kapitel zum Landesstreik in der ebenfalls 1968 erschienenen Leonhard-Ragaz-Biografie von Markus Mattmüller. Mattmüller 1968, S. 396–426.

9 König 1998, S. 38–39. Dieser Argumentation folgen auch aktuelle Darstellungen zur Geschichte der Schweiz. Einzig in Volker Reinhardts Geschichte der Schweiz wird der Landesstreik noch in die Nähe der Revolution gerückt. (Vgl. Kuhn/Ziegler 2011, S. 126.) Zum Forschungsstand zum Landesstreik: Rossfeld/Koller/Studer 2018, S. 14–22; Tanner 2014, S. 15–16; Stadelmann 1998, S. 183.

10 Fayet 2014, S. 9.

11 SRF 2 Kultur: Radiosendung Kontext. Die Schweiz am Rande des Bürgerkriegs, Montag, 20. Oktober 2014. Vgl. auch die Deutung von Jaun 2014. Er sieht im Landesstreik das «längste Freilichttheater der Schweizer Geschichte», auf dessen Bühne «nachhaltige, neue Identifika-tions- und Rollenbilder» geschaffen wurden: «der geschundene, in der Niederlage siegende Arbeiter und der brave, die Revolution abwendende Soldat.» (Jaun 2014, S. 196.) Diese Inter-pretation, die ebenfalls die Deutung als Revolutionsversuch widerlegen möchte, verharmlost meiner Meinung nach den Streik und wird weder den politischen Ansprüchen der streikenden Arbeiter noch dem patriotischen Eifer und Impetus der Militärs ganz gerecht. Vgl. weiter zur Deutung des Landesstreiks: Ernst/Wigger 1993, S. 168.

sondere die Haltung des Staats und der Bürgerlichen gegenüber den sozialen Problemen der Arbeiterschaft und eine intransigente bürgerliche Sozialpolitik bereits vor Kriegsausbruch zum Landesstreik führten.12 Der Landesstreik wird somit als Folge des Ausschlusses der Arbeiterbewegung aus den politischen Entscheidungen erklärt.13

Im Rahmen des 100-Jahr-Jubiläums 2018 sind verschiedene Publikatio-nen erschiePublikatio-nen, welche diesen Erklärungsansatz ergänzen und weitere Per-spektiven wie die Frage nach der Rolle der Frauen,14 der Bauern15 oder der Arbeitgeberorganisationen16 berücksichtigen und somit insgesamt ein differenzierteres Bild über den Landesstreik zu zeichnen vermögen.17 For-schungen, die den Landesstreik transnational im Kontext des globalen Um-bruchprozesses von 1917 bis 1923 analysieren, stehen weitgehend noch aus.18

Auf die zunehmende Marginalisierung seit Ende des 19. Jahrhunderts re-agierte die Arbeiterschaft mit einer erhöhten Streiktätigkeit. Polizei und Mi-litär reagierten auf die Streiks wiederum vorbehaltlos und restriktiv.19 Dies führte letztlich zu einer Überführung politischer und sozialer Konflikte in den militärischen Bereich, wie sich am weiteren Verlauf der Ereignisse zeigen lässt.20

Am 5. November 1918 hat die Armeeführung in Zürich Truppen einmar-schieren lassen. Als Grund für den Militäraufmarsch in Zürich wurden Putschgerüchte anlässlich des ersten Jahrestages der Russischen Revolution angegeben. Auf den provozierenden, durch einen Vollmachtenbeschluss legi-timierten Aufmarsch der Armee vom 5. November 1918 reagierte das Oltener Aktionskomitee (OAK), die nationale Streikleitung von Gewerkschaftsbund und Sozialdemokratischer Partei (SP/SPS) unter der Führung von Robert Grimm, mit der Ausrufung eines Proteststreiks am Samstag den 9. November. Der auf 24 Stunden begrenzte Streik verlief friedlich. Allein die Zürcher Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen folgten den Anweisungen des OAK nicht und woll-ten den Streik in Zürich bis zum Truppenabzug weiterführen. Trotz Verbot strömten am 10. November rund 7000 Personen zum Fest der

12 Vgl. Kuhn/Ziegler 2011, S. 130.

13 Tanner 2015, S. 151.

14 Hermann 2018.

15 Auderset/Moser 2018.

16 Eichenberger 2018; Rossfeld 2018.

17 SGB 2017; Rossfeld/Koller/Studer (Hg.) 2018; Auderset (Hg.), Traverse 2018/2.

18 Vgl. Rossfeld/Studer/Koller 2018, S. 15.

19 Vgl. Tanner 2015, S. 152; Tanner 2014, S. 16; Jaun 2014, S. 196, Jost 1992b, S. 27.

20 Zit. nach Jost 1992b, S. 77.

tion auf den Münsterhof, und es kam zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den Zürcher Demonstranten und dem Militär, bei denen ein junger Soldat durch ein Geschoss zu Tode kam – ob das Geschoss aus der Waffe eines Demonstranten stammte oder ob es sich um einen Prellschuss aus den eige-nen Reihen handelte, ist bis heute ungeklärt.21 Das OAK sah sich aufgrund der Eskalation gezwungen, sich der Arbeiterunion anzuschliessen und rief auf Dienstag, den 12. November den landesweiten Generalstreik aus. Zahlreiche Deutschschweizer Fabriken, Baustellen, der öffentliche Verkehr, Postbüros und Druckereien standen am Dienstagmorgen still. Auch das Bahnpersonal in der Westschweiz und die Arbeiterschaft etlicher Betriebe in der franzö-sischsprachigen Schweiz schlossen sich wenig später dem Streik an. Im Tessin dagegen war die Beteiligung am Streik gering, da der Streikaufruf abgefangen worden ist. Erhoben wurden neun Forderungen politischen und sozialen In-halts, darunter die Neuwahl des Nationalrats gemäss dem am 13. Oktober 1918 angenommenen Proporzwahlrecht, die Einführung des Frauenstimmrechts und der 48-Stunden-Woche sowie eine Alters- und Invalidenversicherung.

Gemäss Umfragen des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB) folgten rund 250 000 Streikende dem Aufruf. Ihnen gegenüber standen 110 000 Sol-daten, was die Zahl der Truppen, die während des Krieges zur Verteidigung der Grenzen eingesetzt wurden, um das Fünffache übertraf und davon zeugt, dass die Landesverteidigung an der Grenze durch eine innere Front abgelöst worden war.22

Auch nichtstaatliche Akteure rüsteten zur Abwehr einer erwarteten Revo-lution. In Genf begann der Anwalt Théodore Aubert bereits am 3. November mit Schritten zur Gründung einer Bürgerwehr, am ersten Streiktag wurde die Union Civique Suisse gegründet, SAC-Centralpräsident Alexandre Bernoud wurde deren Präsident, Aubert Vizepräsident der Bürgerwehr.23 In den Städten Bern, Zürich, Basel und Luzern sowie im Kanton Aargau wurden weitere Bür-gerwehren gebildet, die nach eigenen Angaben den Schutz der öffentlichen Sicherheit und der vom Streik betroffenen Betriebe sowie die Verteidigung von Staat und Gesellschaft zum Ziel hatten.24 Mehrere SAC-Sektionen

21 Joris 2013, S. 22.

22 Tanner 2015, S. 148–149.

23 Zimmermann 2012, S. 157.

24 Vgl. die Einzelstudien zu den Bürgerwehren in Luzern, im Wallis, in Basel und in Genf: Schneider 2011; Ders. 2013; Vanay 2004a; Vanay 2004b; Schmid 1980; Heimberg 1997. Eine Gesamtüber-sicht zu den Bürgerwehrbewegungen für die Schweiz um 1918 steht noch aus. Der Bürgerwehr-gedanke war bereits vor dem Ersten Weltkrieg verbreitet. Vgl. dazu Koller 2009a, S. 141, S. 150, S. 189.

Abb. 1: «Für Sicherheit und Ord-nung». Aufruf zum Eintritt in die Zürcher Stadtwehr in der NZZ vom 19. November 1918.

nisierten zudem Protestveranstaltungen gegen den Landesstreik.25 Bei den Bürgerwehren handelte es sich um paramilitärische Organisationen, die auf freiwilliger Basis und nach militärischem Vorbild organisiert waren. In Zürich etwa konnten sich ab dem 12. November junge Männer über 18 Jahre in 17 Einschreibelokalen in Zunfthäusern anmelden, rund 10 000 Personen sollen dem Aufruf gefolgt sein.In Basel erfolgte die Gründung am 11. November, die Vizepräsidentschaft übernahmen Peter Sarasin-Alioth, Seidenfabrikant, Ka-vallerie-Oberst und leitendes Mitglied des Vorstandes der Gesellschaft für das Gute und Gemeinnützige, sowie Emil Dürr, Professor für Schweizer Geschichte an der Universität Basel und Mitglied der Neuen Helvetischen Gesellschaft. Laut Basler Nachrichten zählte die Basler Bürgerwehr bereits kurz nach ihrer Grün-dung 6000 Mitglieder.26 In Aarau gründete Eugen Bircher am 15. November die Aargauische Vaterländische Vereinigung als Dachorganisation aller Aargauer Bürgerwehren.27

Einzelne Bürgerwehren kamen im Landesstreik zum Einsatz. Ihre Einsätze waren allerdings kaum ordnungspolitischer Art. Eingesetzt wurden sie für den Schutz von Gewerbebetrieben und Geschäften, die dem Streikaufruf nicht gefolgt waren, oder zur Unterstützung bei Aufgaben der täglichen Versorgung, wie etwa die Verteilung der Post. Während es in Zürich zu keinem grösseren Einsatz der Stadtwehr gekommen ist,28 haben sich die Bürgerwehrfreiwilligen in Genf für die Aufrechterhaltung des Trambetriebs und der Milchversorgung eingesetzt, im Aargau wurde ein Kurier- und Meldedienst eingerichtet, und in Basel verteidigte die mit Stöcken bewaffnete Bürgerwehr einzelne Geschäfte.

Weitere Einsätze von Bürgerwehren haben während des Generalstreiks von 1918 nicht stattgefunden.29 Die Forschung zu den Einwohnerwehren in Deutschland zeigt, dass der tatsächliche militärische Wert dieser Milizwehren gering war,30 was wohl auch für die Bürgerwehren in der Schweiz gilt. Es war vor allem ein überdimensioniertes Militäraufgebot, mit welchem die Strei-kenden in Schach gehalten und wichtige Dienste aufrechterhalten wurden.

Der Landesstreik verlief entsprechend ruhig, und nur an wenigen Orten geriet die Lage kurzfristig ausser Kontrolle, am folgenreichsten in Grenchen, wo am 14. November drei Streikende vom Militär erschossen wurden.

25 Vgl. zur Rolle des SAC: Thürer 2013.

26 Thürer 2010, S. 36–37, S. 55.

27 Gautschi 1978, S. 235.

28 Greminger 1990, S. 92–96; Frey 1998, S. 193–194.

29 Thürer 2010, S. 37.

30 Barth 2010, S. 96.

Noch während in Bern das Parlament über den Generalstreik debattierte, stellte der Bundesrat dem OAK am Mittwoch, 13. November ein schriftliches Ultimatum: Bis 17 Uhr müsse das OAK den Streikabbruch verkündet haben.

Nach langer Debatte fügte sich das OAK der Forderung und versprach das Ende des Streiks auf Donnerstagabend, 14. November. Ausschlaggebend war dabei sicherlich die Angst vor einer Niederschlagung des Streiks durch die Armee.31

Knapp zwei Wochen nach dem Landesstreik, am 24. November 1918, fand im Amphitheater Vindonissa in Windisch/AG eine Versammlung statt, zu der Eugen Bircher und die Aargauische Vaterländische Vereinigung sowie die Union Civique Suisse eingeladen hatten und die bewusst als bürgerliche Gegende-monstration zum Landesstreik konzipiert war. Unterstützung erhielten sie durch verschiedene bürgerliche Vereine, die Inserate aufschalteten.32 Rund 12 000 Personen sollen an der Tagung teilgenommen haben.33 Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) schrieb dazu: «Das Bürgertum erhob stolz und kraftvoll das Haupt». Im selben Artikel wird die Tagung zudem als «machtvolle Kund-gebung vaterländischer Gesinnung» bezeichnet.34 An dieser Versammlung entstand die Idee einer nationalen Bürgerwehrbewegung, und es wurde be-schlossen, alle bestehenden Bürgerwehren35 und vaterländischen Organisa-tionen in einem Verband zusammenzuschliessen. Die Vorbereitungen durch die Union Civique Suisse und die Aargauische Vaterländische Vereinigung liefen den ganzen Winter 1918/19 über an, am 5. April 1919 folgte schliesslich die Gründung des SVV in Olten. Den Vorsitz der Gründungsversammlung hielt der SAC-Zentralpräsident und Präsident der Union Civique Suisse Alexandre Ber-noud,36 AVV-Präsident Eugen Bircher wurde zum ersten Präsidenten des SVV gewählt.37 Der Genfer Anwalt Théodore Aubert,38 Gründungsmitglied und

31 Vgl. zum Streikablauf etwa: Keller 2017.

32 Aufruf zur Teilnahme an der Volksversammlung in Vindonissa am 24. November 1918, in: Neue Aargauer Zeitung Nr. 275, 22. 11. 1918; Nr. 276, 23. 11. 1918 sowie in: Aargauer Tagblatt, Nr. 277, 23. 11. 1918.

33 Heller 1990, S. 62–63.

34 «Der aargauische Volkstag in Vindonissa», in: NZZ, 26. 11. 1918, Nr. 1558, Zweites Abendblatt.

35 Bürgerwehren gab es Anfang 1919 in den Kantonen Aargau, Bern, Luzern, Solothurn, Baselland und St. Gallen, Stadtwehren in Zürich, Basel, Genf, Schaffhausen, La Chaux-de-Fonds, Le Locle und Chur. Heller 1990, S. 69.

36 Nach der zentralen Rolle für die Gründung des SVV beendete der SAC sein politisches Engage-ment. Einzelne SAC-Sektionen blieben jedoch im Umfeld des SVV weiter politisch aktiv. Vgl.

Thürer 2013, S. 60.

37 Thürer 2010, S. 66.

38 Als Delegierter des Bundesrats von 1917 bis 1919 und später des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK) in Frankreich und in Berlin verfügte Aubert über ein internationales Netzwerk wie auch über gute Beziehungen ins Bundeshaus. Auch in der politischen Parteienlandschaft

zepräsident der Genfer Bürgerwehr, übernahm den Posten als secrétaire romand des SVV in Genf. Als er 1924 die Entente Internationale Anticommuniste, auch Ligue Aubert genannt, gründete, kam es zu Konflikten mit dem SVV und Aubert wurde 1925 zum Rücktritt aus dem SVV gezwungen.39 Seiner ursprünglichen Idee entsprechend – der Zusammenfassung der Bürgerwehren auf nationaler Ebene – trat der SVV in der Gründungszeit auch unter dem Namen Vereinigte Schweizer Bürgerwehren (Schweiz. vaterländischer Verband) auf.40

Für den SVV stand in seiner Gründungszeit vor allem die Frage nach der Anerkennung seiner Milizwehren durch den Staat sowie nach deren Bewaff-nung im Vordergrund. Hier erreichte der SVV teilweise seine Ziele. Auch aus Sicht von Militär und Bundesrat sollte diese Frage rasch geklärt werden.

Noch während des Landesstreiks hatte sich der Bundesrat zunächst durchaus positiv geäussert; die Bürgerwehren seien eine willkommene Massnahme zur Aufrechterhaltung von Ordnung und Sicherheit. Unmittelbar nach dem Streik gab er sich jedoch kritischer, da er eine unnötige Provokation der Ar-beiterschaft befürchtete und daher auch eine finanzielle Unterstützung der Bürgerwehren ablehnte.41 Über ihre rechtliche Stellung wurde erstmals eine Woche nach dem Streik an der militärischen Generalstreikkonferenz vom 18.  November 1918 ausführlich diskutiert. Innerhalb der dort anwesenden militärischen Führungsetage waren die Meinungen zwar geteilt, die positiven Stimmen überwogen jedoch. Generalstabschef Theophil Sprecher sah in den Bürgerwehren eine wichtige Ergänzung der militärischen Ordnungstruppen, ebenso Emil Sonderegger, Kommandant der Zürcher Ordnungstruppen. Auch der Divisionär Gertsch sowie Ulrich Wille junior, Sohn von General Wille und SVV-Mitglied, traten entschieden für den Ausbau der Bürgerwehren und deren Bewaffnung ein. Skeptischer zeigte sich dagegen General Wille, der ihnen in militärischer Hinsicht kein Vertrauen schenkte.

Sonderegger verfasste als Erster Weisungen für die Zürcher Bürgerwehren und nannte unter anderem die Bewachung von Gebäuden, den Schutz von Arbeitswilligen und die Übernahme von Hilfsdiensten als mögliche Aufgaben.

Obwohl kein Ordnungsdienst vorgesehen war, schlug er vor, die

Bürger-war er gut vernetzt, so Bürger-war er Präsident der 1923 gegründeten rechtsbürgerlichen Union de défense économique und vertrat die Partei von 1923 bis 1925 im Genfer Grossen Rat. Bron 2001.

39 Thürer 2010, S. 110, S. 998.

40 Vgl. den Briefkopf in: Brief von SVV an diverse europäische Bürgerwehren, 3.  11. 1920, BAR#E2001B#1000/1501#271*.

41 Greminger 1990, S. 96–97.

wehren zu bewaffnen und mit Armbinden auszustatten.42 Generalstabschef Sprecher hielt wenig später, im Winter 1918/19, in einem Gutachten fest, dass an der Bildung von Bürgerwehren als Ergänzung zur kantonalen und kommu-nalen Polizei nichts zu beanstanden sei. Sie sollten aber den Kantonen und Gemeinden – und nicht dem Bund – unterstellt sein, die auch ihre rechtliche Anerkennung regeln sollten. Dieses Gutachten Sprechers bot die Grundlage für die rechtliche Anerkennung der Bürgerwehren in einzelnen Kantonen. In den Kantonen Luzern, Freiburg, Aargau, Zürich, dem Tessin und der Waadt wurden ihnen nun halboffizielle, hilfspolizeiliche Funktionen zugewiesen.43 Diese von den Kantonen anerkannten Bürgerwehren wurden vom Eidge-nössischen Militärdepartement (EMD) mit Waffen und Munition des Bundes ausgerüstet. Derjenigen des Kantons Aargau wurden beispielsweise «laut schriftlicher Verfügung des Eidg. Militärdepartements vom 26. April 1919»

2000 Gewehre und 420 900 Patronen zur Verfügung gestellt.44 Zudem wurden die Bürgerwehren teilweise in das Verteidigungskonzept der Armee einbe-zogen. Deren Nachrichtenabteilungen standen in direktem Kontakt mit den Nachrichtendiensten der Armee, und oft waren höchste Offiziere der Armee in Bürgerwehren engagiert.45 Die Behörden sahen die Aufgaben der Bürger-wehren darin, bis zum Eintreffen der regulären Truppen den Ordnungsdienst zu versehen. Sie unterstanden dem Militärkommando.46 Diese teilweise An-erkennung und ihre halboffizielle Einbindung in den Staat zeigt, dass sie von bürgerlicher Seite her als legitime Organisationen wahrgenommen wurden, obwohl sie gegen die Arbeiterschaft gerichtet waren. Gleichzeitig wurden denn auch an verschiedenen Orten im Land Munitionsdepots für die Bürger-wehren errichtet. Als diese entdeckt wurden, kam es zu einigen Interpellatio-nen der Linken. Deren Beantwortung durch EMD-Chef Karl Scheurer zeigte, dass auch der Bundesrat die Bewaffnung als legitim ansah.

42 Sonderegger, Kdo. OT ZH, Weisungen an die Truppenkommandanten der J.I. 178, zit. nach Greminger 1990, S. 98.

43 Vgl. die Ausführungen zur Generalstreikkonferenz in: Greminger 1990, S. 96–100; Thürer 2010, S. 271–272, S. 280, S. 283; zur rechtlichen Anerkennung: Zeller 1990, S. 124–132; Schmid 1980, S. 57–58. Zürich wird nur von Schmid genannt.

44 Liste der eidgenössischen Kriegsmaterialverwaltung über die den Zeughausverwal-tungen zu Handen von Bürgerwehren zur Verfügung gestellten Waffen und Munition, BAR#E21#1000/131#12043*. Vgl. auch: Thürer 2010, S. 280, S. 283.

45 Schmid 1980, S. 57–58.

46 Le Chef de la Division des Affaires étrangères du Département politique, P. Dinichert, aux Lé-gations de Suisse, 30. 9. 1920, in: Diplomatische Dokumente der Schweiz, Bd. 7b (1918–1919), Bern 1984, S. 828–834, S. 831.

Zu einem grösseren Einsatz der Bürgerwehren kam es im Juli und August 1919 während der Generalstreiks in Basel und Zürich.47 Fotografien vom Ein-satz der Basler Bürgerwehr im Färberstreik von Juli 1919, der dem allgemei-nen Generalstreik vorangegangen war, zeigen, dass die Bürgerwehrmitglieder auch in der Strassenreinigung oder in der Kehrrichtabfuhr eingesetzt wurden.

Bilder von Ordnungseinsätzen sind keine übermittelt, jedoch patrouillierten Mitglieder der Bürgerwehr durch die Strassen und machten Meldungen zu Be-obachtungen, die an das Platzkommando weitergeleitet wurden. Ausserdem führten sie mindestens eine Hausdurchsuchung48 sowie vereinzelt Verhaftun-gen durch.49

Auch in Zürich kam es zu einem Einsatz der Bürgerwehr, die mit weissen Armbinden, teils beritten, durch die Arbeiterviertel patrouillierte. 1340

Auch in Zürich kam es zu einem Einsatz der Bürgerwehr, die mit weissen Armbinden, teils beritten, durch die Arbeiterviertel patrouillierte. 1340