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Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Errichtung, Ausgestaltung und

Selbstverwaltung

3.1. Überblick

Die Sozialversicherung in Österreich wurde im geschichtlichen Rückblick seit jeher in der Form der Selbstverwaltung organisiert. Es bestand daher von Anfang an eine enge Verbindung zwischen Sozialversicherung und Selbstverwaltung (Günther 1994; Öhlinger 2002). Die Sozialversicherung könnte jedoch anstatt in Form der sozialen Selbstverwaltung auch in Form der staatlichen Verwaltung oder in Form der Privatvorsorge abgewickelt werden. Sofern allerdings im österreichischen Verfassungskontext eine weitestgehend unabhängige und selbstständig agierende Sozialversicherung besteht, kann diese nur in der Organisationsform der Selbstverwaltung nach verfassungsrechtlichen Organisationsgrundsätzen (ua Art 120a ff B-VG) bestehen. Eine Weisungsgebundenheit (im eigenen Wirkungsbereich) gegenüber Staatsorganen bzw eine Ausgestaltung der Sozialversicherung ohne Berücksichtigung der Prinzipien der Selbstverwaltung wäre daher nach Ansicht des VfGH als verfassungswidrig zu qualifizieren (VfSlg 17.023/2003; VfSlg 19.919/2014).

Die zentrale Bedeutung in der Selbstverwaltung der Sozialversicherungsträger kommt dem durch den Selbstverwaltungskörper vertretenen Personenkreis zu.

Jener Personenkreis ist daher genau festzulegen. Es sind in weiterer Folge auch nur jene Angelegenheiten durch den Selbstverwaltungskörper zu besorgen, die sich auf den definierten Personenkreis beziehen. Die Übertragung von Zuständigkeiten und die weisungsgebundene Durchführung unter Einsatz von imperium gegenüber einem Personenkreis, der sich nicht an der demokratischen Gestaltung der zumindest obersten Organe der Selbstverwaltung beteiligen konnte, ist aus Sicht des VfGH jedenfalls unzulässig (VfSlg 17.023/2003). Der Selbstverwaltungskörper muss daher einen Bezug zu der relevanten Personengruppe, nämlich den versicherten Personen, aufweisen. Dieser Bezug tritt in der Sozialversicherung durch die Ausgestaltung von einzelnen

Sozialversicherungsträgern (vor und nach dem in Kraft treten des SV-OG) für je nach Tätigkeit unterschiedliche (homogene) Personengruppen besonders hervor (Cerny 2018; Lachmayer und Öhlinger 2019).

Es ist daher zu betonen, dass der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der Sozialversicherung in Form von Selbstverwaltungskörpern zwingenden verfassungsrechtlichen Vorgaben und somit auch einen bestimmten Typenzwang unterliegt. Da sich der Gesetzgeber in Bezug auf die Sozialversicherung bis heute stets gegen ein rein staatliches Modell bzw gegen die Verankerung einer reinen Versicherungspflicht entschieden hat, steht für die Organisation der Sozialversicherung im Rahmen des B-VG ausschließlich der Typus der Selbstverwaltung zur Verfügung. Dieser Typus setzt dem einfachen Gesetzgeber gewisse Schranken bei der Ausgestaltung der Organisationsstruktur der Träger setzt (Öhlinger 2002).

Die Grundlage für die konkrete Einrichtung und Ausformung der nicht-territorialen Selbstverwaltung bildete lange Zeit die Rechtsprechung des VfGH (VfSlg 18.731/2009, 19.919/2014). Erst mit der B-VG-Novelle im Jahr 2008 (BGBl I 2008/2) wurden die vom VfGH aufgestellten Grundsätze kodifiziert. Heute stellen die Art 120a bis 120c B-VG verfassungsrechtlich verankerte organisationsrechtliche Grenzen für die Ausformung der nicht-territorialen Selbstverwaltung dar (Brameshuber 2019; Lachmayer und Öhlinger 2019).

Demnach müssen Selbstverwaltungskörper folgende Merkmale erfüllen:

1. Selbstverwaltungskörper müssen einen eigenen Wirkungsbereich aufweisen, in welchem sie grundsätzlich unabhängig und frei von Weisungen durch die staatliche Verwaltung agieren (Art 120b B-VG).

2. Die Organe der Selbstverwaltungskörper sind aus dem Versichertenkreis nach demokratischen Grundsätzen zu bilden (Art 120c B-VG).

3. Es ist eine staatliche Aufsicht (Bund oder Land) über die Tätigkeiten im eigenen Wirkungsbereich des Selbstverwaltungskörpers vorzusehen (Art 120b B-VG).

3.2. Der eigene Wirkungsbereich und die Finanzierung der Selbstverwaltung

Selbstverwaltungskörper haben gemäß Art 120a B-VG das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht jene öffentlichen Aufgaben selbstständig wahrzunehmen,

„die in ihrem ausschließlichen oder überwiegenden gemeinsamen Interesse gelegen und geeignet sind, durch sie gemeinsam besorgt zu werden“. Die den Selbstverwaltungskörpern zugewiesenen Aufgaben sind weiters gemäß Art 120b B-VG weisungsfrei zu besorgen (Cerny 2018).

Der Verfassungsgesetzgeber stellt mit diesen Regelungen zwar einen Rahmen für den eigenen Wirkungsbereich für Selbstverwaltungskörper auf, überlässt jedoch dem jeweiligen einfachen Materiengesetzgeber (bzw dem VfGH) einen Konkretisierungsspielraum, insbesondere im Bereich der Sozialversicherung.

Art 120a B-VG ermöglicht jedoch kein freies politisches Ermessen des einfachen Gesetzgebers, da dieser Bestimmung sehr wohl auch ein materielles Substrat zuzubilligen ist. Sollte ein eingerichteter Selbstverwaltungskörper zum Vollzug von Angelegenheiten, die in seinem ausschließlichen oder überwiegenden Interesse liegen, geeignet sein, müssen ihm diese Angelegenheiten auch zugewiesen werden. Art 120b Abs 1 B-VG spricht hierbei ausdrücklich von einem „Recht auf Selbstverwaltung“; daraus ist auch ein verfassungsrechtlich gewährleisteter Anspruch des Selbstverwaltungskörpers auf Vollziehung der in seinem ausschließlichen oder überwiegenden Interesse liegenden Angelegenheiten abzuleiten (Korinek 2009; Cerny 2018).

Die in Art 120a Abs 1 B-VG vorgesehene Zuweisung von spezifischen Angelegenheiten zum eigenen Wirkungsbereich des Selbstverwaltungskörpers steht auf Grund der legistischen Konstruktion der Art 120a ff B-VG in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit der Finanzierung der Selbstverwaltung. Die Finanzierung der Selbstverwaltung wird eigens in Art 120c Abs 2 B-VG geregelt.

Die Aufgabenerfüllung hat hierbei den Prinzipien der Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit zu folgen, und diese ist im Wege der Beitragsfinanzierung bzw über sonstige Mittel durch den Gesetzgeber sicherzustellen. Der Gesetzgeber hat daher nach Wortinterpretation dieser Bestimmung sowie unter Heranziehung des

Gleichheitssatzes zu gewährleisten, dass ausreichend Mittel zur Erfüllung der zugedachten Aufgaben zur Verfügung stehen. Es gilt daher einen Gleichklang zwischen den gesetzlich zugewiesenen im eigenen Wirkungsbereich weisungsfrei zu vollziehenden Aufgabenstellungen der Selbstverwaltungskörper und der jeweiligen Finanzierung dieser Körperschaften herzustellen. Dies ist auf Grund der enormen Finanzierungslast in der Sozialversicherung von besonderer Wichtigkeit (Potacs 2019). Holoubek (2018) spricht in diesem Zusammenhang sogar davon, dass der Selbstverwaltung eine finanzielle Autonomie zuzubilligen sei (siehe auch Cerny 2018).

3.3. Demokratische Legitimation der Selbstverwaltungskörper in der Sozialversicherung

Art 120c Abs 1 B-VG normiert, dass „die Organe der Selbstverwaltungskörper […]

aus dem Kreis ihrer Mitglieder nach demokratischen Grundsätzen zu bilden [sind].“ Bei der demokratischen Legitimation der Selbstverwaltungsorgane handelt es sich nach Meinung des VfGH (VfSlg 17.023/2003) um ein Kernelement der Selbstverwaltung. Die „entscheidungswichtigen Aufgaben“, die vom Selbstverwaltungskörper zu vollziehen sind, brauchen demnach auch eine demokratische Legitimation. Der VfGH betont, „dass die gebotene Intensität der Mitwirkung jener, deren Angelegenheiten in Selbstverwaltung geführt werden sollen, an der Kreation der Organe des jeweiligen Selbstverwaltungskörpers nicht ohne Blick auf die dem Selbstverwaltungskörper übertragenen Aufgaben bestimmt werden kann und auch von den potentiellen Auswirkungen seiner Tätigkeit auf die Rechtssphäre seiner Mitglieder abhängt“ (VfSlg 17.023/2003). Eine indirekte Wahl der Mitglieder der Selbstverwaltungsorgane beispielsweise durch das vorliegende Entsendungsmodell durch die jeweiligen Interessensvertretungen in der Sozialversicherung steht daher nicht im Widerspruch zur Verfassung. Ein gänzlicher Ausschluss des Mitwirkungsrechts der Mitglieder bei der Bestellung der Organe der Selbstverwaltung wäre jedoch als verfassungswidrig zu bewerten (VfSlg 17.023/2003; Cerny 2018; Potacs 2019).

Die demokratische Legitimation der Organe der Selbstverwaltung und das in

weisungsfreie und autonome Vollziehung der Aufgaben der Selbstverwaltungsträger sind untrennbar miteinander verbunden. Nur durch diese starke Rechtsposition wird es den Selbstverwaltungsorganen ermöglicht, jene Angelegenheiten, die in ihrem ausschließlichen bzw überwiegenden Interesse liegen, weisungsfrei zu besorgen. Unter Berücksichtigung von Art 120c Abs 1 B-VG wird somit festgehalten, dass „entscheidungswichtige Aufgaben“ nur durch grundlegend demokratisch legitimierte und aus dem Kreis der Mitglieder stammende Organe entschieden werden (dürfen). Mit diesem verfassungsrechtlichen Geflecht an Bestimmungen wird die gebotene Autonomie der Selbstverwaltungskörper durch das B-VG abgesichert (Cerny 2018; Potacs 2019).

3.4. Das Aufsichtsrecht

Art 120b Abs 1 B-VG normiert eine Aufsicht des Bundes oder des Landes über den eigenen Wirkungsbereich des Selbstverwaltungskörpers und stellt somit einen Gegenpol zur verfassungsrechtlich verankerten Weisungsfreiheit in diesem Bereich dar. Das Aufsichtsrecht bezieht sich vordergründig auf eine Rechtmäßigkeitskontrolle der Verwaltungsführung. Eine Zweckmäßigkeitskontrolle der Verwaltungsführung ist hingegen nur vorgesehen, „wenn dies auf Grund der Aufgaben des Selbstverwaltungskörpers erforderlich ist“ (Cerny 2018; Potacs 2019).

Bei der Auslegung dieses Begriffes der „Erforderlichkeit“ ist ein äußerst strenger, restriktiver Maßstab anzusetzen, um den vom Verfassungsgesetzgeber vorgesehenen weiten Gestaltungsspielraum des Selbstverwaltungskörpers nicht sogleich wieder zu konterkarieren. Dem Telos der Bestimmung entsprechend haben sowohl die tatsächliche Aufsicht als auch der Gesetzgeber selbst die Wahrung dieses Gestaltungsspielraumes des Selbstverwaltungskörpers zu gewährleisten. Eine extensive gesetzliche Ausdehnung der Rechtmäßigkeitskontrolle zur Herbeiführung einer allgemeinen Zweckmäßigkeitskontrolle des Selbstverwaltungskörpers ohne auf den verfassungsrechtlich engen Spielraum im Bereich der Aufsichtsmaßnahmen zu achten, wäre daher als verfassungswidrig zu werten. Sowohl bei der

Ausgestaltung des Aufsichtsprozederes als auch bei sonstigen gesetzlichen Bestimmungen ist daher der autonome Gestaltungsspielraum des Selbstverwaltungskörpers zu berücksichtigen (Cerny 2018; Potacs 2019).

4. Sozialversicherungsorganisationsgesetz (SV-OG)