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Historische Entwicklung der Selbstverwaltung

2. Die „selbstverwaltete“ Sozialversicherung

2.2. Historische Entwicklung und Rolle der Selbstverwaltung

2.2.1. Historische Entwicklung der Selbstverwaltung

Als Geburtsstunde der gesetzlichen Sozialversicherung in unserem heutigen (österreichischen) Verständnis gilt die Verabschiedung des UVG und des KVG in den Jahren 1887 und 1888. Es ist jedoch anzumerken, dass es bereits zuvor auf Grundlage anderer gesetzlicher Bestimmungen [zB kam es auf Grundlage des

BergG 1854 bzw der GewO 1859 zur Einrichtung von Bruderladen bzw Gewerbe(betriebs)krankenkassen] zur Etablierung verschiedenster Vorsorgekassen gekommen ist. In diese ersten Kassen wurden ursprünglich Beiträge ausschließlich von den Dienstnehmern einbezahlt. Verwaltet wurden die Beiträge jedoch von den Dienstgebern. Dies änderte sich mit der Gründung einer

„Allgemeinen Arbeiter-Kranken- und Invalidenkasse“ auf Vereinsbasis im Jahr 1868. Diese Vorsorgekasse stand allen Dienstnehmern offen und wurde auch ausschließlich von den Versicherten verwaltet (Wedrac 2013, 2016; Müller 2019a).

Die durch das UVG (§ 9 UVG) und das KVG (§ 12 KVG) etablierten Unfallversicherungsanstalten und Krankenkassen wurden bereits per gesetzlicher Definition zu Trägern einer Versicherung, die auf dem Grundsatz der Gegenseitigkeit beruhen. Der Gegenseitigkeitsgrundsatz bildet hierbei das Fundament unserer heutigen Selbstverwaltung (Müller 2019a) und kann wie folgt definiert werden:

1. Der Versicherungsträger „versichert seine Mitglieder. Das Mitgliedschaftsverhältnis umfasst zugleich ein Versicherungsverhältnis;

Mitgliedstellung und Versichertenstellung fallen zusammen.

2. Die Mitglieder bringen die Mittel für den Versicherungsbetrieb auf; sie tragen gemeinsam Gewinn und Verlust.

3. Die Mitglieder üben in der obersten Vertretung […] die Kontrolle über die Unternehmensführung aus; sie haben die letzte Entscheidungsgewalt über die Grundfragen der Geschäftspolitik.“ (Grofsfeld 1985).

Das maßgebliche Hauptorgan des Unfallversicherungsträgers des UVG 1887 war der Vorstand. Weitere Organe gab es zu Beginn nicht. Der Vorstand bestand aus einer durch drei teilbaren Anzahl an Mitgliedern. Die Mustergeschäftsordnung sah eine Anzahl von 18 Mitgliedern vor. Ein Drittel der Mitglieder wurde hierbei vom Innenminister bestimmt, ein Drittel wurde durch Wahl aus dem Kreis der Betriebsunternehmer und ein Drittel durch Wahl aus dem Versichertenkreis festgelegt. Das Exekutivorgan des Vorstandes war der Verwaltungsausschuss, der aus einem Obmann, einem Obmann-Stellvertreter und weiteren drei Vorstandsmitgliedern (eine Person je Kurie) bestand. Der Verwaltungsausschuss

entschied über die Versicherungspflicht sowie über Versicherungsleistungen (Müller 2019a).

Die nach Vorgabe des Innenministeriums auf Grundlage des KVG 1888 in jedem Sprengel eines Gerichtsbezirkes eingerichteten Bezirkskrankenkassen sahen vier maßgebende Organe vor: Vorstand, Generalversammlung, Überwachungsausschuss und Schiedsgericht. Der Vorstand bestand einerseits aus Mitgliedern der Kasse, die durch die Generalversammlung gewählt wurden, andererseits aus Dienstgebervertretern. Ihnen wurden, obwohl sie nicht zur Versichertengemeinschaft zählten, mittels Gesetz Sitze in den einzelnen Organen eingeräumt. Es wurde jedoch festgeschrieben, dass „der Anteil der Stimmen der Dienstgeber an der Verwaltung der Bezirkskrankenkasse […] im Verhältnis der von diesen Dienstgebern aus eigenen Mitteln zu zahlenden Beiträge zu dem Gesamtbetrag der Beiträge zu bemessen war“ (Müller 2019a). Vorbild hierfür war wohl das damals übliche Kurien- bzw Zensuswahlrecht. Der Anteil der Dienstgeber im Vorstand und im Überwachungsausschuss durfte jedoch nicht mehr als ein Drittel ausmachen (Müller 2019a).

Neben den Leistungen der Bezirkskrankenkassen wurde auch die Krankenversicherungsbeitragshöhe statutarisch durch die Krankenkassen selbst festgelegt. Die erforderlichen Mittel wurden nach versicherungstechnischen Grundsätzen bemessen und grundsätzlich durch Beiträge (jedoch maximal drei Prozent des Lohnes) der Versicherten (Anteil: zwei Drittel) und der Dienstgeber (Anteil: ein Drittel) aufgebracht (Müller 2019a).

Mit dem AngVersG 1926 kam es zur Einführung einer allgemeinen (Kranken-) Pflichtversicherung für alle Angestellten. Gleichzeitig wurden die bestehenden Ersatzkassen beseitigt und die Versicherungszweige (samt der sogenannten

„Stellenlosenversicherung“) in einem Gesetz vereinigt. Weiters wurde erstmals ein Unfallversicherungsschutz für alle Angestellten eingeführt. Das Gesetz schrieb auch eine gleichmäßige Aufteilung der Beitragslast auf Dienstnehmer und Dienstgeber vor, wobei die Beitragslast der Dienstnehmer maximal 15% ihrer Geldbezüge betragen durfte. Jener Teil, der über dieser prozentualen Schwelle

Leistungserbringung, Festlegung der Beitragshöhe sowie Beitragslastenverteilung zwischen Dienstgebern und Dienstnehmern wurden nun nicht mehr der Selbstverwaltung überlassen (Müller 2019a).

Die Hauptversammlungen sowie der Vorstände der Hauptanstalt (daneben gab es in den jeweiligen Ländern „Versicherungskassen der Angestellten“, ähnlich den Gebietskrankenkassen) und der Sonderversicherungsanstalten (Pensionsversicherung und Unfallversicherung) waren nach AngVersG 1926 mit Dienstnehmer- und Dienstgebervertretern zu gleichen Teilen zu besetzen.

Gleichzeitig sah das AngVersG 1926 vor, dass die Hauptversammlungen und die Vorstände der (Länder)Versicherungskassen sowie der Krankenversicherungsausschüsse der Sonderversicherungsanstalten nur zu einem Fünftel aus Dienstgebervertretern und vier Fünftel aus Dienstnehmervertretern zu bestellen sind. Als Ausgleich hierfür wurde im Überwachungsausschuss dieses Verhältnis umgedreht. Das Ausmaß des Einflusses der Dienstgeber war lange Zeit äußerst strittig. Der endgültigen Regelung ging ein langes Kräftemessen zwischen den jeweiligen Kurien der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber voran, das jedoch schlussendlich zu Gunsten der Arbeitnehmervertreter entschieden wurde. Erstmals konnten die Versicherten ihre Versicherungsvertreter in einer „Sozialversicherungswahl“ nach den Grundsätzen der Verhältniswahl selbst bestimmen (Müller 2019a; Steiner 2019).

Auch das 1927 verabschiedete Arbeiterversicherungsgesetz (BGBl 1927/125) orientierte sich nunmehr am im Angestelltenversicherungsgesetz vorgesehenen Vertretungsverhältnis der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerkurie (Hauptversammlung und Vorstand der Krankenkasse 1:4 bzw Überwachungsausschuss 4:1) (Müller 2019a).

Die Einführung des Verhältniswahlrechtes durch das AngVersG 1926 und das damit verbundene Abgehen vom Zensuswahlrecht läutete – entsprechend des Verhältnisses zwischen der Anzahl der Versicherten und der Anzahl der jeweiligen Arbeitgeber – die Reduzierung der Anzahl der Arbeitgebervertreter in den Selbstverwaltungen ein. Im Ergebnis kam es somit zu einem Kurienwahlsystem

der Dienstgeber und der Dienstnehmer unter Berücksichtigung der Verhältniswahl (Müller 2019a).

Im Ständestaat wurde im Jahr 1935 das GSVG 1935 verabschiedet. Dieses sah einerseits eine Veränderung der Zusammensetzung der Krankenversicherungsgremien (§ 21 GSVG 1935; Verhältnis Dienstgeber zu Dienstnehmer von 1:4 auf 1:2) sowie andererseits die Abschaffung der direkten Wahl der Vertretungsorgane in der Selbstverwaltung vor. Das Wahlrecht musste einem Entsendungsrecht („indirekte Wahl“) der einzelnen Berufsgruppen (je nach der Größe der Berufsgruppe) weichen (Steiner 2019; Müller 2019a).

Mit dem Anschluss Österreichs an Deutschland wurden in Österreich die deutsche RVO und das RAngVG eingeführt, die ein gänzliches Abgehen von einem selbstverwalteten Sozialversicherungssystem vorsahen. (Cerny 2018; Steiner 2019; Müller 2019a)

Nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft wurde mittels R-ÜG 1945, die deutsche RVO sowie das RAngVG größtenteils in den Rechtsbestand der 2. Republik übernommen, jedoch die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung wieder eingeführt. Das SV-ÜG 1947 sah nach abermaligem zähem Ringen in Bezug auf das Vertretungsverhältnis in den diversen Sozialversicherungsträgern unterschiedliche Vertretungsverhältnisse zwischen Dienstgebern und Dienstnehmern vor:

 Unfallversicherung 1:1

 Pensionsversicherung 1:2

 Krankenversicherung 1:4

In Überwachungsausschüssen wurde dieser Vertretungsschlüssel naturgemäß umgedreht. Die direkte Wahl der Versicherungsvertreter wurde jedoch nicht wieder eingeführt. Man verblieb bei der abgeleiteten Wahl der Versicherungsvertreter nach Maßgabe der Wahlen der gesetzlichen Berufsvertretungen und orientierte sich somit am System des ständestaatlichen GSVG 1935 (Cerny 2018; Steiner 2019; Müller 2019a).

Dieses Vertretungsregelungswerk wurde in weiterer Folge vom Stammgesetz des ASVG übernommen und bis zum Inkrafttreten des SV-OG weitestgehend (aus dem Überwachungsausschuss wurde die Kontrollversammlung) nicht verändert (Müller 2019a).1

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die imparitätische Besetzung der Selbstverwaltungsorgane in der Krankenversicherung durch Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter mit einem steten Überwiegen der Stimmanteile zu Gunsten der Arbeitnehmervertreter selbst in der Zeit des Austrofaschismus im historischen Rückblick die soziale Selbstverwaltung kennzeichnet. Diese geschichtliche Tatsache mag für sich alleine keine rechtlichen Vorgaben für die jeweilige Beteiligung der Kurien rechtfertigen. Fakt ist jedoch, dass die Sicherung eines möglichst großen Einflusses in den Selbstverwaltungskörpern der Sozialversicherungen bereits 1927, 1947 und nunmehr 2019 stets einen heftigen Schlagabtausch zwischen den politischen Parteien herbeiführte. Dies ist im Ergebnis auch nicht verwunderlich, da die Selbstverwaltung in den Sozialversicherungen ein Milliardenbudget verwaltet (Müller 2019a; Müller 2019b).